Die Bewohner großer Städte ticken alle unterschiedlich. Eines jedoch ist ihnen allen gemeinsam, sie ticken nicht richtig. Wenn man sich an eine beliebige belebte Strassenecke einer beliebigen Weltstadt hinstellt und zwei Stunden lang die Leute beobachtet, die vorbeigehen, kann man statistsich festhalten, das 80% der Leute eine Macke haben. Nimmt man den Tatbestand zur Kenntnis, zwei Stunden lang an dieser Ecke gestanden zu haben, kann man sich getrost in diese 80% einbeziehen. Mit welchen Meisen der Großstädter den Tourist bei Laune hält erlebe ich mitten in Florenz auf einem kleinen Platz in der historischen Altstadt. An der Auslage eines Eckladens muss ich feststellen, dass der Ladeninhaber den zweiten Weltkrieg noch nicht ganz beendet hat und immer noch auf die entscheidende Wende wartet. Sein Angebot umfasst „Führerwein“, eine Flasche „Reichsrebe“ und „Mussolini-bianco“. Dazwischen finden sich kleine Wehrmachtstransporter, Panzer und Zinnfiguren in SS-Uniform. Die üblichen Gasmasken und Feuerzeuge in Granatendesign nicht zu vergessen. Besonders auffällig ist eine kleine Hitlerfigur mit ausgestrecktem Arm auf einem Holzsockel. Ich hatte als Kind mal ein ähnliches Spielzeug, allerdings mit einer harmlosen Katze. Die Katze stand gespannt von einer Feder auf dem Sockel und wenn ich den Boden eindrückte, fiel sie zusammen. Irgendjemand hat mir ein ähnliches Gerät mal mit dem Papst gezeigt. Die Figur im Laden jedoch trägt Hitler. Wer auf den Boden drückt, sieht, wie er den Arm senkt und in sich zusammen sackt. Vielleicht hat sich ja wenigstens bei diesem Tinnef jemand Gedanken gemacht – aber eigentlich glaube ich es nicht. Im Götzenvermarkten kennen sie kaum Grenzen.
Eine andere Art der Götzenvermarktung betreiben die Florentiner mit der Davidsfigur von Michelangelo. Den nackten Jüngling hat Michelangelo zur großen Freude der Souvenirindustrie erschaffen. Auf Kaffeetassen, Schürzen, Postkarten und Mützen, überall finden sich kleine Davids drauf. Genaugenommen findet sich nur der kleine David vom großen David drauf. Oder, um die Eindeutigkeit des Motivs zu unterstreichen, für die Abbildung auf Kaffeetassen, Postkarten, Schürzen und Platzdeckchen ist nur der Dödel von David attraktiv. Als zentrales Motiv darf der kunstgefertigte Steinpuscher Sonnenbrillen tragen, mit Strohhalmen aus Cocktailgläsern schlurfen und von Sprechblasen umhüllte Sprüche klopfen. Große Touristengruppen aller Altersgruppen erfreuen sich daran, halten sich Schürzen mit dem fotografierten Kulturdödel vor die Hose und fotografieren sich gegenseitig. Männer machen laut und anstößige „HöHö“-Geräusche, Frauen kreischen spitz. Ich stehe am Fuße einer kleineren Davidnachbildung, kaue auf einer blassen Bratwurst herum und stelle fest, 80% der Leute, die ich beobachte, haben mehr als ein Rad ab. Das schließt sämtliche Touristen ein. Ich gehe weiter. Zwei Stunden an einem Ort stehen und Leute beobachten könnte etwas auffällig wirken.
Ich bin ein bisschen fußlahm geworden und kann mich nicht recht über die nächste Heiterkeit in den Amüsiergassen von Florenz freuen: das allgemein geltende Sitzverbot in der Öffentlichkeit. Die Touristen scheren sich nicht weiter darum und hocken auf den Taubenkacketriefenden Stufen vor den Gotteshäusern. Im Frühsommer des Jahres 2003 wurde ein amtliches Sitzverbot in der Florenzer City mit Polizeigewalt durchgezogen. Doch bald kapitulierten die Carabinieris. Dennoch, es fehlt in der Stadt an Sitzmöglichkeiten. Wer sich in Ruhe irgendwo ausruhen will, kann das zu unverschämten Preisen in den Strassenlokalen.
Am Rande des Platzes entdecke ich ein kleines Zoogeschäft. Draußen vor der Tür stehen Käfige mit Hasen, Streifenhörnchen und Singvögeln. Es wundert mich, dass die kleinen Piepmätze nicht vom nachbarlichen Restaurant weggeklaut werden. In Italien pflegen einige Gourmets die Unsitte Singvögel zu fangen und zu garen. In den norditalienischen Wäldern wimmelt es nur so von Vogelfallen. Ich kann mir nicht vorstellen, wieviel Rotkehlchen und Stieglitze man essen muss, um einmal satt zu werden. Noch weniger kann ich mir vorstellen, warum man das überhaupt versuchen muss. In der Tat hat diese Macke Auswirkungen. Während ich selbst im staubigsten Berliner Viertel Buchfinken singen höre und vor meinem Fenster in Berlin morgens von einer Rotte kaspernder Meisen und Grasmücken geweckt werde (sofern ich wegen der Nachtigal überhaupt einschlafen konnte) gurren in Florenz nur die Tauben. Eine Amsel habe ich gehört, aber vielleicht war das auch nur der Fernseher aus dem Nachbarzimmer. „Es war die Nachtigal und nicht die Lerche“ heißt es im italienischten Drama, das je in England geschrieben wurde. Ob Shakespeare diesen Satz auch mehr aus dem Bauch schrieb?
Mittlerweile wird für den Schutz der Singvögel einiges getan, aber die Tatsache, dass Gesetzesentwürfe zum Vogelschutz kontrovers diskutiert werden mussten, spiegelt nicht gerade das netteste Bild italiensicher Lebensfreude wieder. Als ich auf einer Brücke stehe und in den Arno blicke, sehe ich einen Reiher im seichten Uferwasser stehen. Ich glaube zwar nicht, dass es ein Singvogel ist, doch vorsichtshalber hebe ich den Finger vor meine Lippen und mache „Pssst.“
Frühsommer 2002