Uffizien
Später Nachmittag. Erkennbar an den Mopeds, deren Geknatter nun häufiger zwischen den Häuserwänden hin und her hallt, als noch am Morgen, dem Gehupe der Autos und dem Spielstand auf der digitalen Uhr. Es steht 17:20. Ich versuche meine müde gelaufenen Knochen auf dem breiten Hotelbett wieder in nutzbare Werkzeuge zurecht zu ruhen. Das Hotelbett sollte zu diesem Zwecke der geeignetste Ort sein, den man sich auf einer Städtereise denken kann.
Mein Blick fängt sich an zwei putteligen Engeln, die gelangweilt auf einer Marmortheke lümmelnd in ihrem Rahmen über dem Kopfende hängen. Ich frage mich, wie es zu dieser weithin üblichen Innenaustattungssitte gekommen ist, über dem Kopfende Ruhesuchender, Gemäldereproduktionen aufzuhängen.
Wann immer ich mich bisher in einem Schlafzimmer aufhielt, dessen Inneneinrichtung mich mehr interessierte, als der Grund, der mich überhaupt hinein gebracht hatte, war es die Auswahl des Bildmotivs, die mir den deutlichsten Hinweis auf den Geschmack des jeweiligen Einwohners oder Einrichters lieferte. Allerdings macht mich das Betrachten von Gemälden, ob ich sie bereits über Betten hängend gesehen habe oder nicht, immer etwas schläfrig. Meine Geduld in Kunstsammlungen ist dort deshalb ebenso begrenzt, wie meine Konzentration. Das früheste Schlafzimmerbildnis, das sich meines Kopfes unauslöschlich bemächtigte und noch heute zum Gähnen zwingt, war der klassische Hirsch, der auf einem Wandteppich festgewebt tonlos vor sich hin röhrte. „Leg dich hin, Kind. Dreh dich zur Wand und Schlaf“, sagte meine Oma zur Mittagsschlafzeit. Später begleitete er mich als Umhängetasche bei allerhand müden Demos. Meine Großeltern West besaßen ein Gemälde eines italienischen Straßenmalers. Neapel mit Vesuv. Über meinen Eltern baumelte die Reproduktion eines Blumenstraußes, als sie mich zeugten. Hoffentlich bestimmt so etwas nicht den Lebensweg eines Menschen. „Gezeugt unter einer Reproduktion für 15 Mark der DDR“ ist nicht unbedingt der schmückendste unter den Indianernamen. Über meinem Bett hängt nur eine Ansammlung erschlagener Mückenreste. Vielleicht wird das ja auch mal reproduziert und als Kunstwerk verkauft. Im Hotel in Florenz sind es die beiden Engel, die gelangweilt nach oben starren. Ich weiß das Bild nicht einzuordnen. Botticelli, Michelango, ein Ausschnitt von Raffael oder nur ein verspäteter Cannelloni?
Mit Gemälden sind sie ja gut versorgt in Florenz. Und wenn man schon mal da ist, sollte man sie sich auch anschauen, die Meisterwerke in den Uffizien, einer der großartigsten Kunstsammlungen der Welt. Meine müden Knochen hatte ich ausschließlich vom Uffizienbesuch bekommen.
Tausende stehen täglich vor den Eingangstoren. An diesem Tag bin ich einer der ersten zweitausendfünfhundert, will ich mal sagen. Die Schlange vor mir windet sich lang um die Säulen herum und hinter mir braust der Verkehr, denn ich stehe mit dem Rücken an der Straße. Zehn Meter weiter plätschert der Arno. (Das ist der Fluss, der durch Florenz fließt – nicht der kleine Junge, der hinter der Kirche in den Blumentopf einer Pizzeria strullt.) Das Publikum ist international und geduldig. Internationaler geht’s kaum noch. Ich blättere in meinem Florenz-Stadtführer. Der Grieche vor mir blättert ebenfalls, allerdings etwas großzügiger im Toscanaführer. Hinter mich gesellt sich ein Brite mit einem Italienführer. Meine Aufmerksamkeit wird geweckt von einer quäkig lamentierenden Amerikanerin die aufgeregt aus ihrem Europaführer zitiert. Ich fühle mich wohl im friedlichen globalen Kunsthaufen, doch wird mir schon etwas komisch, als sich ein fahlhäutiger Mann von erstaunlicher Größe und mit seltsamen Ohren zu uns gesellt und hilflos in Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis blättert“.
Ein Franzose redet auf mich ein. „Sie sprechen Deutsch. Guten Tag. Ich bin 78 Jahre alt und heiße Michele Baudin. 1943 hatte ich eine deutsch Offizier in meine Haus. Er war Chef. Aber anständig. Heute bin ich Chef. Krüger. Hauptmann Krüger. Kennen Sie Krüger?“
„Mike?“
„Weiß nich. Hat meine Vater nach Deutschland geschickt. Der Offizier hat Bilder gemalt. Deshalb, ich liebe heute Gemälde. Krüger. Kenne Sie Krüger?“
Neben ihm zieht eine Frau, seine Frau auf erstaunliche Weise Augenbrauen hoch. Ich bleibe freundlich und höre mir die Geschichte noch dreimal an, bevor unsere Gruppe endlich in den Eingangsbereich hineingesaugt wird. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Ich muss meine Tasche auf ein Rollband legen, Geld und Metallgegenstände in eine Schale tun und durch einen Metalldetektor treten, der prompt aufheult. Ich habe Metallknöpfe am Hosenstall. Muss die Hose aber nicht ausziehen. Eine Sicherheitstante fuchtelt mit einem einer Lupe sehr ähnlichen Gerät vor meinen Hosenstall herum. Es singt und jault, sie ist zufrieden und schickt mich weiter. Wenn ich nicht vorsätzlich eine Gemäldegalerie aufgesucht hätte, würde ich prompt versuchen meinen Flug ausfindig zu machen.
„Ein Mal Business-Class Rio de Janeiro, bitte“ sage ich am Ticketverkauf. Die Verkäuferin schaut mich gelangweilt durch das Sicherheitsglas an, verlangt eine italienische Summe an Euro und drückt mir wortlos ein Ticket für die Gemäldegalerie in die Hand. Ich schaue drauf. „Schade. Doch bloß ein Rundflug in der Frachtmaschine!“ Weiteres anstehen und nochmaliges misstrauisches Begucktwerden schließt sich an, bevor ich in die Galerie kann. Diese vielen Sicherheitsmaßnahmen wurden jedoch nicht erst nach dem 11. September 2001 eingeführt. 1993 hatte ein Irrer eine Bombe in den Uffizien gezündet. Welchen tieferen politischen Wert ein Attentat auf eine Kunstsammlung hat, bleibt mir verborgen. Allerdings haben schon weitaus größere Attentate aus weitaus niedrigen Beweggründen stattgefunden. Religiöse Verirrungen, ob moslemische oder protestantische, hinduistische oder katholische, die brutal ausarten, kann man wohl kaum als Kampf für ein höheres Ziel werten. Sie bleiben, was sie sind. Vorsätzlich ausgeführte Borniertheit.
Die Kunst der Malerei in der Renaissance besteht ebenfalls aus religiösen Themen. Häufig wird die Bibel zitiert und beinahe immer, versetzt sie der ausführende Künstler gestalterisch in seine eigene Gegenwart. In der Renaissance wusste man wenig, über die Mode im alten Rom und die Mode auf den Bildern zeigt doch deutliche Spuren des Hochmittelalters. Andererseits war die Angleichung der biblischen Ereignisse an die optische Empfindungswelt an das Zeitalter der Entstehung der Bilder auch gewollt. Nicht anders als Baz Luhrmans Verfilmung von Romeo und Julia. Wenn die Maler der Renaissance mit etwas nicht in Berührung gekommen sind, dann mit echten Babys. Die Darstellung des Jesuskindes ist auf allen Gemälden zu bemängeln. Nie stimmen die Proportionen. Das Baby, nackt und im allerbesten Säuglingsalter hat die Größe eines zehnjährigen Jungen, der sich in den Armen Marias rekelt. Die Gesichter sehen alt aus. Keine Babygesichter, sondern eher feiste, gelangweilte Bischoffsgesichter. Nicht auszuschließen, dass vor der Fertigstellung ein paar Münzen aus dem Geldbeutel eines Kirchenfürsten den Besitzer wechselten.
Weniger spekulativ ist der Gesamteindruck der Kunstsammlung. Da es in der Renaissance keine regelmäßige Tagespresse gab, mit erstklassigen Fotos von Prominenz oder frischen Mordopfern, keine Videos über historische Schlachten und keinen weihnachtlichen Bibelfilm im Fernsehen, waren es die Maler, die sich genötigt sahen, alles so plastisch wie möglich aufzumalen. „Die Tötung der Säuglinge durch Herodes“ zum Beispiel. Eine Schlachteszene von besonderer Blutrünstigkeit. Massenhaft zu groß geratene Säuglinge mit durchgeschnittenen Kehlen, weinende Mütter und grimmige Soldaten auf frischer Tat abgebildet. Andere Schlachtschinken zeigen Pferde mit heraushängendem Gedärm, Lanzen, die in Mägen stecken, den Heiligen Sebastian, der mit Pfeilen in Arm, Hals und Brust als Heiliger durch die Welt läuft wie ein biblischer Piercingpropagandist. All dies ist meisterlich dargestellt, plastisch, greifbar, abschreckend. Ich komme mir vor wie im mittelalterlichen Sensationsjournalismus.
Ein Bild im Lieblingssaal der Medicis zeigt, wie ein Mann eine Frau bedrängt. Die Frau hat sich abgedreht, als wolle sie ihre Ruhe haben, scheint aber nicht entkommen zu können. Das Bild erweckt den Eindruck, als bahne sich gerade eine Vergewaltigung an. Es heißt „Adam und Eva“! Unter diesem Gesichtspunkt wurde die kirchliche Glaubenslehre nie betrachtet, glaube ich. Warum steht in der Kirche das Patriarchat als Regel fest, obwohl doch angeblich Eva den Adam die Richtung wies? Aber was, wenn der erste Akt wirklich eine Vergewaltigung war? Der Besuch der Uffizien wirft Fragen auf?
Terry Gilliams meerschaumgeborene Venus ist auch zu sehen. OK. Gilliam hat sie auch nur als Papierschnitt nachgebaut und bei den Monty Pythons verwurstet, aber daher kenne ich sie. Das sie von Botticelli ist, habe ich auch mal gelesen. Aber zuerst gesehen habe ich sie bei den Monty Pythons, was zeigt, welchen Stellenwert das Bildungsfernsehen in meinem Leben hat. Und natürlich gibt es auch noch Tizians mollige Venus von Urbino, die sich im Schritt kratzt. Bildzeitung, letzte Seite.
Allmählich habe ich genug von der Sprache der prächtigen Bilder. Ein Porträt des herzoglichen Paares von Urbino lässt mich noch einmal wach werden. Dem Herzog hatte man bei einem Attentat das Nasenbein gespalten. In der Seitenansicht ist die Einschlagstelle prächtig zu begutachten. Und dann Girolamo Savonarola, der durchgeknallte Priester, der bis 1498 für katholisch-fundamentalistischen Terror in Florenz sorgte. Dieser florentinische Kirchenhitler ließ Andersdenke verfolgen, Foltern, hinrichten. Seine Schergen durchkämmten die Wohnungen der Stadtbürger und ließen alles, was weltlich erschien oder nach Erleichterung des Alltags aussah wegschaffen und verbrennen. Schmuck sowieso, aber auch Kleider, Bücher, Küchengeschirr. Die Besitzer wurden verprügelt, manche aufgeknüpft. Das reicht, denke ich und verlasse das ehrwürdige Gemäuer.
Irgendwo möchte ich mich hinsetzen, aber das ist unmöglich im inneren Kreis von Florenz. Keine Parks, keine Bänke, nur Restaurants oder Sehenswürdigkeiten. Oder Steinstufen voller Taubenkacke. Ich steuere also eine kleinere Trattoria an, die mir auf dem Hinweg aufgefallen ist. Kaum sitze ich, erscheint ein farbiger Bauchladenträger und bietet mir eine Reproduktion der beiden Engel an, die über meinem Bett hängen. Ich verneine müde und muss gähnen.