„Wenn ich mit etwas vollkommen Unfassbarem konfrontiert werde, reagiere ich instinktiv wie jeder zivilisierte Mensch: Ich greife nach meiner Kamera und fotografiere es.“ ————Douglas Adams – Die Letzten Ihrer Art
Vorsicht Kameras
In die Vergangenheit reist man am besten mit dem Zug. Vom verpennten Kleinstadtbahnhof ohne Fahrkartenautomat in Vietri sul Mare fährt alle halbe Stunde ein Vorortzug Richtung Neapel. Pompeji, die Ruinenstadt aus der Zeit der alten Römer, die vom Vesuv verschüttet und von fleißigen Geschichtsfreunden wieder ausgegraben wurde, befindet sich auf halbem Weg dorthin. Geschichte atmen, nachvollziehen, auf Straßen wandeln, die bereits vor 2000 Jahren bevölkert waren, das ist ein Erlebnis, das wir uns nicht entgehen lassen wollen. Zumindest mich interessiert das, während meine Herzdame alten, mit Asche bepuderten Steinen nur bedingt einen Unterhaltungswert abgewinnen kann. Der Unterhaltungswert in der gut klimatisierten und modernen Bahn ist jedoch bereits auf hohem Niveau. Es gibt Fernsehen gratis. Eine Kameraüberwachung zeigt im stetigen Bildwechsel die Gänge des ganzen Zuges. Ich kann also auf einem an der Decke des Abteils befestigten Bildschirm sehen, ob es noch freie Plätze im hinteren Bereich des Zuges gibt, ob jemand am anderen Ende des Ganges mit offenem Mund schläft, oder ob sich der Schaffner zum Karten kontrollieren aufmacht und man mal langsam zum Ausstieg auf der anderen Seite der Bahn schlendern sollte. Ich kann sehen, wie sich eine rot gekleidete Person nähert, eine junge Frau im Dress der Dussmann Reinigungscrew, die mit Sprühflasche und Wischtuch die Seitenlehnen der Sitze abwischt, sich am Ende des letzten Wagons umdreht und die Prozedur in entgegengesetzter Richtung wiederholt. Leute bei der Arbeit beobachten oder beim Lesen, beim Knutschen oder Schlafen, oder überhaupt beim Privatsein im öffentlichen Raum, wird in dieser Bahn ein Vergnügen für alle und nicht nur für ausgewiesene Überwachungsprofis. Eine tolle Kameraauflösung macht das Betrachten seines Mitreisenden zu einem unterhaltsamen Spaß, ohne das man offensichtlich jemanden anstarren muss. Ob diese Form der Überwachung notwendig ist, weiß ich nicht. Aber die Kameras sind klasse. Es sind auch nicht die vielen Kameras, die uns Sorgen bereiten sollten. Es sind die Menschen.
Das Thema Kamera interessiert auch die junge Frau auf dem Sitz schräg vor mir. Sie ist intensiv damit beschäftigt, verschiedene Gesichtsausdrücke mit dem Fotoapparat ihres Telefons einzufangen. Ihre Versuche haben die Bandbreite von adrett, lasziv, aufreizend, intelligent, interessant, fordern, abschätzig und geistesabwesend. Bis auf den letzten Versuch löscht sie alle vorhergehenden. Dann bemerkt sie, dass auf dem Selfie, das ihr am besten gefällt, im Hintergrund das runde Gesicht eines nicht mehr ganz taufrischen Touristen eingefangen wurde, der blöd in ihre Kamera glotzt. Genervt wiederholt sie die Prozedur des Selbstporträtierens. Am Ende verschickt sie ein Bild, mit einem Ausdruck, von dem sie den Eindruck hat, nun ihr Wesen perfekt dargestellt zu haben. Selfies gehören zu einer Form der Fotografie, der ich nur schwer was abgewinnen kann. Ich mache schon das Licht aus, wenn ich in den Spiegel schaue, während die Selfiejunkies noch den Blitz dazu anstellen. Der Kult, sich selbst ins beste Licht zu rücken und sich dann in vervielfältigter Form, durch das weltweite Netz zu verschicken, vermittelt ein deutliches Bild von der Eitelkeit der Menschheit. Einer Eitelkeit, die in manchen Fällen bis zum Narzissmus reicht, in anderen jedoch noch deutlicher die Unsicherheit der sich selbst fotografierenden Person zu erkennen gibt. Wer zwanzig Versuche benötigt, um von sich selbst überzeugt zu sein, beweist, dass er oder sie in neunzehn Fällen schwer an sich zweifelt. Der Schaffner erscheint kurz vor Pompeji. Ich habe ihn bereits eine Weile vorher im Fernsehen gesehen. Wir hatten bisher noch keine Fahrkarte und nun kaufen wir ihm auch keine mehr ab. Wir steigen aus und stehen vor einem kleinen, recht sauberen Bahnhof, dessen warme rote Ziegelgestaltung Freundlichkeit ausstrahlt. Vor der Halle posiert auf der übersichtlichen Hauptverkehrsstraße ein kunstvoll gestalteter Verkehrsteiler. Er besteht aus einer Art aufrecht stehender Muschel, die mit Tonscherben besetzt ist. Moderne Kunst, die auffällt, ohne zu verstören.
Fremdenführer
Meine Herzdame und ich schlendern ein wenig die nächstgelegene Straße entlang und folgen den Hinweisen, die uns zur Ruinenstadt führen wollen. Kurz bevor die Straße auf einen großen Platz mit einer sehr adrett ausschauenden Kirche mündet, stellt sich uns ein junger Mann in einem gelben T-Shirt in den Weg, der uns fragt, ob wir die Ruinen sehen wollen. Ein wenig skeptisch beäugen wir ihn und versuchen ihn umschiffen. Verzweifelt gibt er uns zu verstehen, dass er vom offiziellen Fremdenverkehrsbüro ist. “Haben Sie keine Angst. Ich bin hier, um ihnen zu helfen!”. Es sagt eine Menge über die Menschen in Gegenden aus, in denen Touristen die Attraktionen der Region sehen möchten, wenn die offiziellen Fremdenverkehrsbüros sich verzweifelt ihrer Glaubwürdigkeit versichern müssen. Die vielen weniger seriösen Angebote ruinieren in allen Gegenden der Welt das Gefühl, willkommen zu sein. Es mag ein wenig weit hergeholt klingen, aber häufig sind Tourist und Flüchtling gleichermaßen unwillkommen. Nur das die einen sich auf Teufel komm raus dabei erholen wollen, während die anderen eine Unerträglichkeit, gegen die andere tauschen. Gleich sind sich beide, wenn man sie als Fremde betrachtet. Wenn fünf davon erscheinen, kommt man noch gut ins Gespräch. Stehen Hundert davon auf der Matte, überlegt man, wohin man selber flüchtet. Dabei sind es nicht mal, die vielen, freundlichen, zuvorkommenden oder zurückhaltenden Gäste, die man als störend empfindet, sondern die zwei Prozent Idioten, die den Ruf aller anderen ruinieren. Manche Leute packen dermaßen schnell ihrer Sieben Sachen in der Heimat zusammen, dass sie vor lauter Eile ihr Gehirn vergessen. Oder zumindest die Regionen, die für gutes Benehmen und Respekt verantwortlich sind. Irgendetwas liegt im Denken der Menschen grundlegend schief und ich fürchte, es ist nicht allein mein Weltbild. Das ganze Gegenteil zur heutigen Situation, in der sich Länder am liebsten abschotten und alles Fremde draußen lassen möchten, war das Römische Reich. Die Römer überfielen Nachbarn und fremde Völker, unterdrückten andere Nationen und verleibten sich deren Menschen und Kulturen ein. Das war keine besonders hinreißende Form von Weltoffenheit. Doch all die Völker und Kulturen, die im Römischen Reich aufgingen, veränderten die Blickwinkel, brachten neue Erkenntnisse und Erfindungen zustande und überarbeiteten das Weltbild des Riesenreiches im Laufe der Jahrhunderte so weit, dass sogar die Staatsreligion wechselte. Und das ist genau der Punkt, der uns heute Sorgen bereitet. Dabei ist doch eigentlich nicht die Frage entscheidend, welcher Religion sich ein Land zugehörig fühlen will, sondern ob Religion überhaupt ein so massives gesellschaftliches Mitbestimmungsrecht besitzen sollte, um politische Entscheidungen zu beeinflussen. Als Pompeji im Jahre 79 vor Christus von der Asche und der Lava des Vesuvs zugedeckt wurde, befand sich das Römische Reich in seiner Blütezeit. Pompeji selbst war eine große, quirlige Stadt, in der Kultur und Handel ebenso viel Wert besaßen, wie Religion und Sport. Um das richtig verstehen zu können, ist ein guter Guide wichtig. Der junge Mann aus der Touristeninformation bietet uns davon gleich mehrere Versionen an. Man könne einen Stadtführer buchen. Der kostet aber Hundert Euro und führt einen dann bis zu zwei Tage durch die Ruinen. Das ist uns entschieden zu lang. Man kann ein Audioguide mieten. Kostet 15 Euro und der erzählt einem ein paar relevante Dinge, beantwortet aber keine Fragen. Oder man nimmt sich ein Buch über die Ruinenstadt mit, die ein paar der Highlights erklärt und macht sich dann bei den betrachteten historischen Stellen seine eigenen Gedanken. Dafür entscheiden wir uns. Wir lassen uns noch den Weg zum Haupteingang erklären und marschieren los.
Posta Italiana
Unterwegs trefe ich auf eine Post. Ich nehme die Postkarten, die wir geschrieben und mit den Briefmarken aus einem Souvenier-Shop versehen haben und betrete damit die Postfiliale. Die Frau am Schalter betrachtet lange die Briefmarke auf der Karte. Dann reicht sie sie an ihre Nachbarin weiter, die kurz mit den Schultern zuckt. Wo ich die Briefmarken für 1,30 Euro das Stück gekauft habe, will sie wissen. “Amalfi, Positano, irgend sowas” erwidere ich. Sie winkt ab. Stecken Sie sie ruhig in den roten Briefkasten, auch wenn die Marken nicht von der Posta Italiana sind, meint sie. Ich gehe hinaus und versenke die Ansichtskarten im roten Briefkasten. Eine davon habe ich als Kontrolle an uns selbst adressiert. Die Postkarten sind nie angekommen.
Das neue Pompeij
Nach dem Untergang Pompeijs war der Ort lange vergessen. Es gab zwar eine kleine Gemeinde seit dem 11. Jahrhundert an diesem Ort, doch erst im 18. Jahrhundert begann es hier wieder etwas lebendiger zu werden. Mit den Ausgrabungen und der modernen Archäologie begann eine neue Blütezeit im Städtchen. Wir wandern an einer ungemein herausgeputzten Basilika vorbei. Es handelt sich dabei um die katholische Marienkirche Santuario della Beata Vergine del Rosario (dt. »Heiligtum Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz«) ein Wallfahrtsort für Katholiken, die hier seit Ende des 19. Jahrhunderts steht. Bis zum Eingangsportal der Ruinenstadt passieren wir noch die unvermeidlichen Läden mit Software, Handfeuerwaffen für Menschen unter vierzehn Jahre sowie religiösen Bedarf und Marktständen mit Lavabrocken vom Vesuv, Madonnenfiguren und Schürzen, auf dem der Penis des David von Michelangelo in einer auf angeberische Weise übertriebene Größe dargestellt ist. Alles Schund, der nur deshalb hergestellt wird, um ihn an einfältige Touristen zu verkaufen, die manchmal nur deshalb solchen Schund kaufen, weil ihnen genau so etwas angeboten wird.Schlange in die Vergangenheit
Wir lassen das alles weitgehend unbeachtet und konzentrieren uns lieber auf die Schlange am Eingang der Ruinenstadt. Und warten geduldig, bis wir fast an der Reihe sind. Zwei Herren an denen kurze Shorts und teure Kameras hängen, lassen sich Zeit. „Sprechen Sie Deutsch“ fragt einer der beiden, ein Mann nahe Fünfzig mit einem albernen Schnauzbart, die Frau im gläsernen Ticketquader. Sie nickt bedauernd. Dann fragt er nach einem Audioguide. Die Frau erklärt geduldig, dass sich, wer ein Audioguide benötigt, an ein entsprechendes Tourismusbüro an der Hauptstraße wenden muss. Die geben die Audioguides aus? „Bekommen wir dort auch eine Eintrittskarte?“ „Nein, die müssen Sie dann hier kaufen. Oder am Haupttor. Da gibts auch Audioguides. Das hier ist das Nebentor“. Da sich sein Begleiter gerade wenige Meter weiter im Schatten einer Pinie mit seinem Telefon vergnügt, muss der Schnauzer seinen Freund über die Distanz von zehn Metern über sein neuestes Wissen in Kenntnis setzen. Der reagiert nicht, also entschließt sich Schnauz die Verhandlung wort- und grußlos abzubrechen und zischt ab. Ich nehme mir vor, freundlich die Eintrittskarten in meinem besten Italienisch vorzutragen. Die Verkäuferin schaut an meiner linken Schulter vorbei und sagt barsch: „Prego“.