
Archäologen
Wir betreten eine andere Zeit, eine andere Welt, eine andere Kultur. Nun, vielleicht tun wir das auch nicht so richtig, denn letztlich spazieren wir in Pompeji durch einen touristisch zurecht gekneteten Arbeitsplatz von Archäologen und Geschichtswissenschaftlern, denen es viel lieber wäre, der Tourist würde einfach nur das Geld spenden, dass sie für ihre Arbeit benötigen und sich ansonsten von ihrer Spielwiese fernhalten. Wissenschaftler haben es gern ruhig und einsam, damit sie nachdenken und unbeobachtet vor sich hin murmeln können. Der Blick durch das Loch in einer Plane, hinter der ein junger Vollbartträger mit einer Lupe am Auge eine kleine Tonscherbe betrachtet und leise faselt, bestätigt das Klischee.
Römische Grafitti
Pompeji war eine gut funktionierende Stadt des römischen Imperiums, die es mit Handel zu Wohlstand gebracht hatte. So berühmt, wie heute, wurde sie jedoch erst, nachdem man anfing, die Asche und die Lava wegzuräumen, die der Vesuv bei seinem spektakulären Ausbruch im Jahre 79 vor Christus über die Gegend gedeckt hatte. Die ersten Funde in der Region machte man bereits im 16. Jahrhundert. Doch erst im späten 19. Jahrhundert begann das große Buddeln. Freigelegt wurde allmählich eine Stadt, die bis zu ihrem plötzlichen Versinken ein bekannter und belebter Ort im Süden des Römischen Reiches war. Nach seinem Verschwinden geriet dessen Existenz komplett in Vergessenheit. Ein enges Straßennetz durchzieht die Stadt. Häuser und Höfe finden sich rechts und links der grob mit Pflastersteinen belegten Wege. Wagenspuren, die die Fuhrwerke der Händler eingegraben haben, sind bis heute deutlich zu erkennen. Hier schien das Leben sehr geschäftig gewesen zu sein. Und eng. Das Gewusel auf den Wegen dürfte sich kaum von dem gegenwärtigen unterschieden haben. Damals lebte, heute besucht man. Und immer hat man den Eindruck, dass ein paar Leute weniger, das ganze Bild etwas positiver wirken lassen würde.


Eins der jetzt dachlosen Häuser beschreibt uns unser Reisehandbuch als Versorgungsstützpunkt. Zu sehen sind die gut erhaltenen Reste einer Theke aus Stein, die in gleichmäßigen Abständen große runde Löcher aufweist. Darunter befanden sich Tröge mit Lebensmitteln. Vermutlich kam der pompejische Schichtarbeiter oder der jugendliche Römer vor seinen abendlichen Graffitikratzausflug hier vorbei, um sich ein bisschen Fastfood mit Fladenbrot umwickeln zu lassen. Kichererbsen, Salat, Tomaten und Spezialitäten aus den römischen Kolonien und Provinzen. Vielleicht war ja auch schon die gemeine Nudel erfunden worden und man holte sich schnell einmal Macaroni To Go. Danach zog der römische Jungspund dann weiter, um mit Eisennagel und ein bisschen Farbe seine Mitteilungen ins damals neue und heute antike Gemäuer zu kratzen. Zahlreiche Stellen an den Wänden zeugen von einer offensichtlich geduldeten Kultur der Wandritzereien. Was heute als Vandalismus empfunden wird, war im Pompeji der Römerzeit eine ganz normale Art, Notizen zu hinterlassen, Rechnungen aufzuzeichnen, Liebesbeweise zu hinterlegen oder sich dem Gladiator seines Vertrauens als Fan erkennen zu geben. Viel verraten sie über das Leben und Denken der Einwohner jener Zeit. Durch die Vulkanasche sind auch diese Hinterlassenschaften erhalten geblieben. Wie viele Pinselstunden wohl vergingen, bis man die über 5000 altrömischen Graffiti freigelegt hatte? Werden sich wohl in tausend Jahren Archäologen mit der gleichen Akribie daran machen, das Wissen des gemeinen Jetztmenschen zu erforschen, in dem sie sich eindringlich mit den Schmierereien an öffentlichen Toilettentüren beschäftigen? Das Bild, dass wir nicht nur in dieser Hinsicht hinterlassen, gereicht der heutigen Kultur zu keinem positiven Ansehen.
Sex im alten Rom

Häuser und Höfe sind nicht alle zu besichtigen. Manche darf man bis Mittag betreten, andere erst ab dreizehn Uhr. In die geöffneten Wohnstätten drängen sich die Besucher. Man kann kaum ein Foto eines Römischen Wohnhauses machen, ohne einen modernen Gegenwartsmenschen mit aufs Bild zu bekommen. Manch Besucher sucht aber genau dieses Motiv: “Römische Villa mit sich Selbst drin”. Eine stilistisch verwegen gestaltete Frau Anfang Dreißig drängt sich mit einer etwa einen Meter langen Selfiestange in eine der aufgeräumten Villen. Mit Pailletten besetzte hochhackige Schuhe, die bei diesem Pflaster bestimmt sämtliche Arbeitsschutzregeln verletzen, klackern über den alten Terrazzoboden. Hautenge Lederleggins umspannen ihre schmalen Beine und ein kurzes Top flattert betont locker über ihre kaum wahrnehmbaren Brüste. Die Oberarme zieren die heute unverzichtbare Sammlung spontan angefertigter Tätowierungen. Eine Sonnenbrille schützt die Umwelt vor ihren Augen. Der Kopfputz ist ein langer schwarzer Vorhang. Jedes Foto, das die Frau in den römischen Gemäuern schießt beinhaltet eine Menge Fotografin vor ein bisschen alter Steine. Die digitale Eitelkeit der Moderne im antiken Gewand – oder „Selfis schießen bei Caesar“. Beeindruckender sind allerdings die Farben der Wandgestaltung in den Innenräumen. Als hätten die Wände nicht fast 2000 Jahre unter Asche geschlafen, leuchten die Bilder und Fresken hell und frisch. Während in den Straßen und Gassen das Ritzgraffito die Wände beherrscht, sind es in den Häusern und Villen kleine und große Wandmalereien.

Häufig spielen dabei nackte Menschen eine Rolle und oft spielen auch nackte Menschen mit anderen nackten Menschen eine Rolle. Sex war hier kein Tabuthema. Es soll eine Gegend in Pompeij geben, die sich ganz dem Thema Sexualität im Alten Rom hingibt. Wir werden sie meiden, denn selbst die einfachen Gassen sind schon recht voll und dicht gedrängt. Und auf die Kommentare der Mitglieder einer verschwitzt stolpernden Reisegruppe aus Mittenwalde, die angesichts der Normalität von gleichgeschlechtlichen oder öffentlichen Sex in der Antike in kopfschüttelnde Anstandsdiskussionen ausbricht und laut verkündet: „Gugg ma Gudrun, geil wa“, „Ne, Jürgen. Denk nich ma dran. Dat machen meine Hüften nich mit“, habe ich im Moment keine Lust.
Ein Berg explodiert
Ein kleines Kolosseum, nicht sehr kolossal und bereits gut mit vertrocknendem Gras überwuchert, hinterlässt einen Eindruck von einem aus Sicherheitsgründen gesperrten oder aufgegebenen Kinderspielplatz. Es handelt sich bei diesem Rondell um das alte Amphitheater, in dem sich Sklaven und Freigelassene zur erholsamen Unterhaltung der Zuschauer gegenseitig umbrachten. Die bekamen häufig ausdauernde Zweikämpfe zu sehen, wenn nicht gerade Löwen und anderes Getier auf Andersgläubige gehetzt wurden, wie uns christlich geprägte Hollywoodfilme gern erzählen. Es gab aber auch noch andere kurzweilige Unterhaltung in Pompeji. Am anderen Ende der Stadt befindet sich das Theaterviertel, mit einem großen und einem etwas kleinerem Theater. Das große Theater ist ein Bau, dessen Auditorium deutlich steiler um den Bühnenbereich angesiedelt ist, als beim Amphitheater im Osten der Stadt. Dieses Theater wird heute wieder gelegentlich für Konzerte genutzt. Bei meinem Besuch ist ein Konzert des amerikanischen Sängers James Taylor angekündigt. Leider findet es erst einen Monat später statt.

Die Kulisse ist besonders für den Künstler ein erhabener Anblick. Ein Publikum, das sich in einem Bogen vor einem auftürmt und darüber der Gipfel des Vesuv. Etwas Sprühlava, wie am Stromboli würde den Abend perfekt machen. Über das Leben und die Einwohner in Pompeji und dem Untergang der Stadt ist erstaunlich viel überliefert. Die Explosion des Vesuv kam nach neueren Erkenntnissen nicht ganz plötzlich. Erdbeben beunruhigten die Einwohner nur bedingt, aber bereits Monate zuvor. Erst als aus dem Berg Wolken aufstiegen, war zumindest Plinius der Ältere etwas überrascht, denn bis zu diesem Zeitpunkt hat niemand den Berg für einen Vulkan gehalten. Plinius informierte seine römischen Bekannten in anderen Provinzen über den ersten Ausbruch. Schnell hämmerte er ein Telegramm in eine Steintafel und band sie um die Hälse von achtzig Brieftauben, die sich schwer mit den Flügel schlagend auf den Weg nach Rom machten. Die endgültige Eruption des Vesuv überlebte er dann genauso wenig, wie die restlichen Einwohner der Stadt, die sich nicht rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatten. Man sieht es diesem Berg nicht an, wie mörderisch er sein kann. Der blaue Golf, die grünen Hänge, der strahlende Himmel, das alles sieht nach mediterrane Idylle

aus. Es ist ein Bild wie auf einem Gemälde, das die romantischen Maler bemühten, wenn sie die italienische Kulturlandschaft in den biblischen Kontext setzen wollten. Der Vesuv erhebt sich stolz und schön hinter den Säulen des Forums Romanum der Ruinenstadt Pompeji. Der Vesuv ist wie eine wunderschöne italienische Frau. Reizend anzuschauen, mit perfekten, einladenden Kurven und dabei gefährlich genug, jederzeit vernichtend zu explodieren. Und dabei ist dieser Vulkan nicht das Hauptproblem in der Region Neapel. Die Stadt und der angrenzende Golf befinden sich auf einem seismologisch sehr unruhigen Boden. Die Phlegräischen Felder im Nordwesten Neapels sind die Oberflächenvulkane eines riesigen Supervulkans, der sich unterirdisch bis nach Ischia erstreckt. Vergleichbar ist er etwa mit dem Supervulkan unter dem Yellowstone-Nationalpark. Ein Ausbruch ist jederzeit möglich, sagen die Forscher. Die Erde ist unruhig. Sollte dieser Supervulkan ausbrechen, wäre nicht nur Neapels Müllproblem für eine Weile vom Tisch. Die Eruption dürfte so gewaltig sein, dass sie die Nordhalbkugel mit Asche verdunkeln würde. Die Temperaturen fielen auf Grund des sogenannten vulkanischen Winters, der durch die Verdunklung in der Atmosphäre eintreten würde, rapide. Eine unangenehme Kälteperiode wäre die Folge. Von der Klimaerwärmung bräuchte dann vorerst keiner mehr reden und die großen Kreuzfahrtunternehmen müssten sich ernsthaft Gedanken machen, über den Ankauf einer größeren Menge von Schlittenhunden. Wer das jetzt nicht glauben will, erinnere sich mal kurz an die Zeit Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. Die Gemälde einiger holländischer Meister zeigen schlittschuhfahrende Holländer auf den Grachten und Flüssen der Niederlande während der kleinen Eiszeit um 1670. Diese Jahre waren geprägt von eisigen Wintern und fehlenden Sommern. Grund war vor allem eine Reihe gewaltiger Vulkanausbrüche in Indonesien. Jederzeit kann die launische Erde dem sich so sicher fühlenden Menschen einen spontanen Strich durch die Planwirtschaft machen. Manche Katastrophen kommen unverhofft, was wohl Schicksal ist. Andere kündigen sich an, was aber selten und ungern wahrgenommen wird. Und einige haben wir der eigenen Raffgier zu verdanken. Im Ignorieren von Gefahren ist der Mensch mindestens so gut ausgebildet, wie im Jammern und Schuld suchen, wenn es bereits zu spät ist. An den Hängen des Vesuvs haben sich gerade in den letzten Jahrzehnten immer mehr Menschen angesiedelt. Bis auf die Hälfte der Flanke verkauft man billiges Bauland mit Blick auf die Ruinen von Pompeij.
Die Pythons in Pompeij

Wie viel die Geschichtsschreibung über das Leben der Menschen in Pompeji weiß, erkennt man, wenn man sich die Namen der Einwohner durchliest, die an den Häusern mit kleinen Erklärungen versehen, angebracht sind. Die Namen sind klangvoll und ich versuche mir die Personen und deren Berufe dahinter vorzustellen. Haus des Paquius Proculus – wahrscheinlich ein untersetzter Geschäftsmann, der Gladiatoren vermietete. Casa di Octavius Quartio. Der Name weist auf einen Menschen hin, der gut mit Zahlen umzugehen wusste. Vermutlich Steuerbeamter. Casa di Amorini Donati. (Knick Knack – Sie wissen schon!) Casa di Casca Longus … ? Meine Herzdame beschleicht der Gedanke, dass vielleicht nicht alles, was uns die Wissenschaft hier präsentiert, ganz so ist, wie es sich in Wirklichkeit abgespielt hat. Woher wissen die, wer in welchem Haus wohnte und wie der hieß? Bei Longus wird sie misstrauisch. Was ist, wenn ein paar der Archäologen sich in ihrer Freizeit begeistert Filme über das alte Rom anschauen? Vielleicht ist da zum Feierabend auch Alkohol im Spiel. Und am nächsten kopfwehschweren Morgen stehen sie vor einer frisch ausgebuddelten Ruine mit anzüglichen Fresken an der Wand und wissen – “Klar. Das muss das Haus von Schwanzus Longus sein, dem lispelnden Freund des römischen Statthalters Pontius Pilatus aus “Das Leben des Brian”. Zeitlich passt das zwar nicht ganz, aber egal. Merkt eh keiner. Die Touristen gucken vor Ehrfurcht auf die alten Mauern und atmen Geschichte. Das Leben von vor zweitausend Jahren betrachten wir ohnehin gern unter der verzerrten Linse der heutigen Ethik. Wir denken anders, als die Menschen damals, haben ein anderes Werteempfinden und würden wohl entsetzt sein, über eine Denk- und Lebensweise, die nicht unseren aktuellen Moralvorstellungen und unserem verzweifelten, stammeligen Bemühen nach Korrektheit entspräche. Der Römer war ein Herrenmensch, einer der sich über andere Rassen, Völker und gesellschaftlichen Stände stellte. Nicht von ungefähr orientierte sich das Dritte Reich gern am Römischen. Besonders die Kriegerdenkmäler fallen da auf. Stattliche Kämpfer, die irgendein Gewürm niederringen, schlicht bekleidet mit einem Helm und einer Lanze. Die Körper in perfekter Form, mit muskulösen Armen und stahlharten Waden, undurchdringlichem Sixpack und einem beeindruckend herabbaumelnden Dödel unter dem Bauch.

Am Forum Romanum darf der Tourist kurz in die Gegenwart zurück. Es gibt einen Imbiss, ein Schnellrestaurant, das aufgeteilt ist in die Bereiche: “Pompeji Pizza, Pompeji Restaurant und Pompeji Bar. Man sitzt mit steinharten Pizzastücken vom Lavagrill vor dem Bistro aus Klinkersteinen oder kleckert mit Fastfood in den Fingern auf die geduldigen Zeugen der Zeit.
Asche ist geduldig
Das Absurde an der ganzen Wanderung durch die Ruinen von Pompeji ist die Tatsache, das es die Ruinen überhaupt gibt. Wir können heute diese Zeitreise in eine zweitausend Jahre zurückliegende Epoche machen, weil die Stadt im Jahre 79 vor Christus zerstört wurde. Wäre sie nicht zerstört worden, gäbe es heute nichts zu bewundern. Dann hätte sich die Stadt weiterentwickelt, bis sie schließlich eine der vielen dreckigen und vernachlässigten traurigen Vororte der Millionenstadt Neapel geworden wäre, in der nichts auf die Vergangenheit hinweist. Orte, wie Torre de Grecco zum Beispiel, oder Nocera Inferiore. Spielsalons und Häuseransammlungen an einer ausgeschlagenen Bundesstraße, denen Putz und Reparaturen gut täten. Es erstaunt mich angesichts der vergleichsweise gut erhaltenen Ruinen von Pompeji, dass die Italiener es schaffen Häuser, die gerade fünfzig Jahre alt sind, in so kurzer Zeit in einen schlechteren Zustand zu versetzen, als zweitausend Jahre Ruinendasein unter Lavagestein es vermochte. Der Vesuv deckte mit seiner Asche ein Tuch aus Vergessen über die Stadt, das erst vor zwei Jahrhunderten allmählich wieder gelüftet wurde. Bei manchen Wohnbauten wünschte ich mir, dass sich wenigstens die daran erinnern, die aktuell drin wohnen. Wir haben erstmal genug Zeitgeschichte inhaliert und begeben uns langsam zum Ausgang. Dort steht weithin sichtbar noch so ein riesiger nackter Römer mit frei baumelnden Gemächt auf einem Hügel. Ich mache noch ein Bild von Schnullerfreddi und dann lassen wir die Geschichte erst einmal hinter uns.
