In Caseneuve ist Kirschfest. Anfang Juni, wenn die Kirschbaumhaine rot leuchten und mehr Früchte als Blätter tragen, wenn die ersten Wanderarbeiter eintreffen, um die Kirschernte einzufahren, feiern zahlreiche Dörfer der Provence, die „Fété de Cerise“, das Kirschenfest. So auch in Caseneuve, einem kleines Dorf im Vaucluse.
Im Umkreis von knapp 30 Kilometern werden kleine Bekanntmachungen, die auf die Feierlichkeiten hinwiesen an Lampen- wie Telegrafenmasten, Friedhofsmauern, Stromverteilerkästen, in Eingangstüren von Dorfkneipen und an langsameren Rentnern befestigt. Unten, in Apt sah ich einen dieser handfesten Flugblätter am Korb eines vor einem Friseur geparkten Rollators und ein anderer überdeckte die Ankündigung einer kleinen Kirche für den sonntäglichen Gottesdienst.
Caseneuve liegt wie eine kleine Trutzburg auf einem Berg. Der Donjon der alten Festung derer von Agoult-Simiane, einem alten Adelsgeschlecht, das seit dem 10.Jahrhundert wesentlichen Einfluss auf das Wohl und Werden der Region besaß, ragt wie ein riesiger Steinquader über das Dorf hinaus. Weithin sichtbar steht er als Wahrzeichen des Ortes über dem Berg und verleiht Caseneuve das Aussehen eines Hahnes mit stolz geschwellter Brust. Dabei macht das Dorf auf den ersten Blick nicht so sehr viel her.
Während des 19. Jahrhunderts besaß es etwas mehr als 700 Einwohner. Wo die alle gewohnt haben wollen, ist nicht ersichtlich, doch zählen die zahlreichen kleinen Landgüter unterhalb des Dorfes sicher auch in die demoskopische Berechnung. Um 1962 war das Dorf mit 160 Einwohner fast menschenleer.
Erst im Zuge der zunehmenden Popularität der Provence für den Tourismus und des allmählichen Aufbaus des Luberons und des Ventouxumlandes zu einem ertragreichen Weinanbaugebiet wuchs die Bevölkerung allmählich wieder zu einer Zahl von heute mehr als 400 Einwohnern. Wie einige andere Dörfer in der Provence kann man davon ausgehen, dass die normale Bevölkerungszahl zwischen Januar und August schwankt. Durch Ferienwohnungsvermietung kann in den Sommermonaten schon schnell mal das dreifache im Dorf unterwegs sein. Doch auch davon kann man leben und das nicht mal schlecht.
Caseneuve bietet eine Poterie, eine Post und ein Restaurant auf. Der Anbau von Wein, der als AOC Wein zur Cooperative des Cote du Ventoux gehört, gehört zu einem Hauptarbeitsgebiet der Ortsansässigen. Eine andere Einnahmequelle bietet ihnen der Anbau von Oliven und Kirschen. Und wenn die Kirschen reif sind, dann ist es Zeit für das Kirschfest.
Am Kirschfesttag, dem zweiten Sonntag im Juni, trifft sich alles im Dorf, was der aggressiven Plakatierung nicht entkommen ist. Von den Wiesen bis in die kleine Gasse des Dorfes stehen Marktstände. Die meisten bieten Kirschen an, aber es gibt auch Wein und Kirschen, Ansichtskarten, Kirschen und Modeschmuck, ein paar Kirschen, etwas Töpferware, Kirschen, Lavendel, Kirschen und ebenfalls sehr beliebt: Kirschen. Wein bekommt man in Flaschen, schließlich will man nicht hin und her laufen, bis die ganze Familie mit Erfrischungsgetränken versorgt ist. Kirschen bekommt man in Pappkartons. Für den kleinen Hunger sorgt ein qualmender Grill, für den großen ein Tier, das sich an einem Spieß dreht und noch eine Weile benötigt, bis es gar ist.
Autos haben es heute schwer. Die meisten stehen auf dem nahen Parkplatz herum, manche fahren noch schnell zu einem der zahlreichen anderen Sonntagsmärkte in der Umgebung, andere kommen gerade von dort zurück. Ein Ein- und Ausparken, wie auf einem Flughafen. Von Apt stöhnt ein völlig unpassendes Gefährt herauf. Die Steigung unterhalb der Dorfstraße ist selbst für einen Rollce Royce eine Zumutung. Ein Traktor – ja, der schafft das locker, aber ein Rollce Royce? Das Auto ist unverkennbar britisch, der Inhalt auch. Ein alter grauhaariger Gentleman, der offenbar ahnt, hier etwas fehl am Platz zu sein, guckt verstört aus dem Fond. Vermutlich irgend ein alter Bond- oder Draculadarsteller, der seine alten Tage in einer Landschaft verbringen will, in denen nicht permanent der Nieselregen über dem Hochmoor hängt, wie ein nasses Wäschestück. Da ihm keine kreischenden Fans hinterherjagen und auch sonst kaum einer von der Nobelkiste und seinem Einsitzenden beeindruckt ist, beschließt das Gespann im Schritttempo wieder aus dem Dorf zu fliehen.
Viel größeren Eindruck macht da das für den frühen Nachmittag anberaumte Kirschkernweitspucken. Bei den geübten Einwohnern hätten vermutlich Bonds Ausbildungsjahre auch nichts genutzt. Die Leute hier spucken das ganze Jahr und das sieht man ihnen auch an. Erstaunliche Techniken gibt es zu bewundern. Aus dem Stand, mit geblähten Backen – entschuldigung – Wangen, tiefe Bauchatmung, Stoßatmung durch die Nase, weit nach hinten gebogener Nacken und dann ruckartiger Vorstoß des Kopfes unter Ausstoß jeglicher angestauter Luft, schießt das Geschoß knapp neun Meter weit. Dass dem Sportler dabei auch ein kräftiger Wind nach hinten losging wird nur milde von den unmittelbar hinter dem Mann stehenden Sportsfreunden mit wedelnden Handflächen vor der Nase belächelt.
Ein anderer Sportler nimmt drei Meter Anlauf stoppt so abrupt wie ein Speerwerfer und … verschluckt den Kern. Ein dritter macht kaum einen Umstand. Er knuppert an der Kirsche herum und spuckt dann wie beiläufig seinen Kern aus, als wolle er ihn nur schnell los werden. Sieben Meter zwanzig. Wenn ich das doch schon in der Schule gekonnt hätte.
Es entgeht mir leider was dem Sieger als Preis droht. Der Trostpreis besteht aus einem Karton voller Kirschen.
Der Abend wird, wie allgemein üblich auf den hiesigen Dorffesten mit reichlich Wein, Tanz und deftigem Essen begangen. Wie überall, wo man in fröhlichem Missbrauch dem Rebensaft huldigt und singend nur wage erkennt, wessen Ehefrau man gerade herzt, wird in schummrigen Ecken ein bisschen getechtelt und vielleicht auch ein bisschen gemechtelt. Ein Grunzen am Ortsausgang auf dem Weg zu meiner Unterkunft lässt mich kurz aufschrecken. Die Wildschweine sind im Juni mit ihren Kleinen unterwegs und sind auf Störungen nicht gut zu sprechen. Doch das Grunzen steigert sich kurz und verebbt in der Art eines starken Ausatmens, wie es nur tieftrunkene Festtagsschläfer von sich geben. Ein gutes Stündchen später klinge ich ebenso.