Das Herz der Küste

Wir wollen nach Amalfi, dem Ort, der dieser Küste den Namen und das Gesicht gibt. Das wollen wir mit dem Bus versuchen, denn vom Autofahren auf der Amalfitana, der berühmten Küstenstraße rät uns jeder Reiseführer ab. Von Raito aus, dem Bergort, der unterhalb unserer Unterkunft im noch kleineren Örtchen Albori liegt, verkehrt ein Bus nach Vietri sul Mare ins Tal hinab. Wann wissen wir nicht. Wir wandern also die eineinhalb Kilometer hinab nach Raito, geben der Verkäuferin im Tabacchi-Laden ein paar Euro für die Fahrkarten und setzen uns an die Haltestelle, die wir am Abend vorher ausfindig gemacht haben. Neben uns liest ein Herr, gepflegt, Anzughose, Sommerhemd in der Gazetta della Sport. Das geschätzte Alter des Herren liegt bei kurz vor der Pensionierung. Als der Bus kommt und wir uns in diesen hineinstürzen wollen, guckt er uns kurz an, erkennt unseren Touristenstatus und hält uns vom Einsteigen ab. Der Bus fährt über den Berg ins Nachbardorf und nicht nach unten und ins Nachbardorf wollen wir ganz sicher nicht. Das erklärt er uns im zügigen Italienisch, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ins Englische oder Deutsche zu wechseln. Erstaunlicherweise verstehen wir, was er sagt. Dann erzählt er uns noch, um welche Uhrzeit der Bus kommt, was wir ebenfalls irgendwie verstehen. Der Bus fährt hier jede Stunde von Albori herab, was für ein so abgelegenes Bergdorf ein echtes Angebot ist. Kurz bevor der richtige Bus ankommt, sorgt er dafür, dass wir uns vom Sitzplatz erheben und uns fünfzig Meter weiter bergauf platzieren, weil dort die Haltestelle ist. Wir bedanken uns überschwänglich mit zahllosen “Grazies”. Dann achtet er noch darauf, dass meine Herzdame und ich zusammensitzen können, auf den einzigen beiden freien Plätzen des Busses. Der Mann ist besorgt darum, dass wir uns nicht verfahren und auch sonst einen guten Eindruck bekommen. Danke dafür. Hundert Meter vor dem Ziel unserer Fahrt in Vietri sul Mare stoppt der Bus kurz und lädt zwei Uniformierte ein, die mit den Aufnähern: “Europolizia” auf dem Revers und ernsten Blicken in den Gesichtern für eine bedrohliche Stimmung sorgen. Die beiden europäischen Ortsbullen kontrollieren die Fahrkarten auf eine Weise, die vermuten lässt, dass sie diesen Job wirklich gerne machen. Wir steigen mit unseren gültigen Fahrkarten unbehelligt aus.
An der Haltestelle, die sich am Beginn der Amalfitana, der Küstenstraße, die die ganze Halbinsel von Salerno bis nach Sorrent entlangführt, hält der Bus nach Amalfi. Pünktlich erscheint er. Es steht aber nicht Amalfi dran, sondern Maiori, ein Ort fünf Kilometer vor Amalfi. Der dahinter ankommende Bus fährt direkt nach Amalfi und ist knallvoll. Der Fahrer meckert uns aus dem Bus, wir sollten gefälligst mit dem Bus nach Maiori fahren und dann erst dort umsteigen in den Bus, den er fährt. Wir steigen also um und finden nach kurzer Fahrt einen Platz auf den vordersten Sitzen mit Blick in Fahrtrichtung und diese besondere Fahrt hätte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollen.
Die Amalfitana ist eng, kurvenreich und sagte ich es schon: eng. Außerdem ist sie an einigen Stellen extrem kurvenreich und dabei eng, schmal, dünn und für Fahrzeuge, die breiter sind als Fahrräder oder Motorroller ungeeignet. Der Bus besitzt die Größe eines normalen Linienbusses. Und manchmal kommt ihm auch ein anderer Bus entgegen. Luigi sitzt am Steuer und pfeift, während er geradewegs auf die nächste Felsenwand zubrettert, bevor er locker einlenkt und mit einem Abstand von zwei Zentimetern zur Felswand Blech- und Personenschaden verhindert. Vor jeder Kurve hupt er, vermindert sein Tempo geringfügig. Motorroller ziehen brummelnd an unserem Bus vorbei, Autos stehen in Kurven am Rand, lassen den Bus vorbei oder fahren mit einem Abstand, der deutlich geringer ist, als das Auto breit, noch schnell am Bus entlang. Die Fahrt, die keine 20 Kilometer lang ist dauert eine Weile, denn selten erhöht der Bus sein Tempo auf über 20 km/h. Dabei ist die Fahrt vom Hupen, Bremsen, Beschleunigen und wieder Bremsen so ausgefüllt, dass sich irgendwann meine Fingerknöchel weiß über dem umklammerten Handgriff vor meinem Sitz abzeichnen. An irgend einer Kurve hält er, nimmt zwei junge Damen auf, die keine Fahrkarte haben. Während er weiterfährt, sucht er zwei Fahrkarten heraus, lenkt, hupt, erledigt die Sache mit dem Wechselgeld hupt, fährt direkt auf einen Abgrund zu und lenkt uns sicher wieder auf die Straße, bevor ich “Hilfe” rufen kann. Schließlich erreichen wir Maiori sicher und unverletzt. Ich steige aus, nicht ohne “Grazie” zu sagen und “Molto sportifo” zu denken.

Maiori erweist sich als kleiner mondäner Badeort. Wir vergessen die Idee mit dem Umsteigen in den folgenden immer noch vollen Bus, sondern schlendern ein bisschen die hiesige Croizette entlang. Die Badestrände scheinen keinen Eintritt zu verlangen. Der Blick aufs Meer ist von Diesigkeit überdeckt. In einer benachbarten Bucht sehen wir allerdings ein enormes Segelschiff. Fünf Masten besitzt es und sieht nach einem dieser extrem teuren Kreuzfahrtschiffe aus, wie die “Club Med 2”, die sich ja tatsächlich diesen Sommer im Mittelmeer tummeln soll. Noch während wir in Maiori sind, unternimmt das Schiff ein Takelmanöver. Es setzt die Segel und der Himmel über dem Schiff flattert weiß. Während wir im Ort einen kleinen Supermarkt entern, werden die Segel wieder gerefft. Das Schiff liegt vor Amalfi, an diesem Vormittag. Als wir mit dem nächsten Bus dort ankommen, sehen wir, wie Gäste in großen Booten von Ort zum Schiff transportiert werden. Um die Mittagszeit setzt das extrem teuer wirkende Schiff erneut Segel und verschwindet am Horizont Richtung Sizilien.
Amalfi ist größer, als ich es erwartet hätte. Und voller. Ein hektisches Busrangieren beginnt. Unser Bus steht noch vor dem Ortseingang im Stau, da ein Van vor ihm hält. Der lädt in aller Seelenruhe seine Gäste aus, ein japanisches Hochzeitspaar – beide sehr jung, beide in hellsten Weißtönen gekleidet. Er in weißem Anzug mit Blumengesteck am Revers, sie im Hochzeitskleid mit langer Schleppe, die ein kleine, ebenfalls schmucke Japanerin hinter der Braut hinterher – ja was wohl – schleppt. Die beiden flanieren Hand in Hand und von Fotografen begleitet die Strandpromenade entlang. Mehr als ein Touristenhandyakku haucht beim Mitfilmen sein Leben und seine Leistung aus.
Der trillerpfeifende Carabinieri von der Straßenwacht hat schließlich unseren Linienbus in einem überfüllten Busparkplatz einsortiert und wir können endlich aussteigen. Zum benachbart parkenden Bus beträgt der Abstand gerade 40 Zentimenter. Das wird für einige Fahrgäste eng.
Und nun erblicken wir Amalfi, das sich da hinter den Touristenströmen in die Höhe hebt. Ein schmales steiles Tal, bietet knapp 5000 Einheimischen Platz. Wie viele Touristen im Jahr hier durchschlurfen, möchte ich so genau gar nicht wissen. Hinter einem trutzigen Steintor öffnet sich die Piazza Duomo, deren Namensgeber, der Dom, sich über einer hohen Freitreppe aufbaut.
Amalfi gehörte einst neben Pisa, Genua und Venedig zu den vier großen Seerepubliken in Italien. Zeugen der glorreichen Vergangenheit sind in der Kathedrale zu bewundern. Besonders beeindruckend ist der Kreuzgang mit seinem Garten. Orientalisch wirkt der ganze Bereich, der architektonisch, sehr hell gehaltene Baustil der Mauren ist hier deutlich zu erkennen. Angelegt wurde er einst als Friedhof für den Adel Amalfies. Heute wird der Rundgang von 120 Säulen gestützt und nur vereinzelt sieht man an den Wänden noch ein paar der alten Sarkophage stehen. Durch die Säulen sieht man den Glockenturm aufragen, eingerahmt vom gothischen Bogen.
Faszinierend auch die Krypta. Eine breite Treppe führt hinab in einen Keller, der allen Erwartungen widerspricht. Es ist das eigentliche Herz Amalfis. In diesem großen hellen Raum, mit seinen bunt ausgemalten Wänden, liegen die Gebeine des Heiligen Andreas, einem der Jünger Jesus. Ein in der katholischen, wie orthodoxen Kirche immer wieder auftauchender Brauch ist es, Körperteile von Heiligen aufzubewahren und zu bestimmten Zeiten in kleinen Schaukästen prozessierend durch die Gegend zu tragen. Vom Heiligen Andreas besitzt man eine ganze Reihe Körperteile.

So bewahrt man hier ein Teil des Kopfes auf, sowie eine Ampulle mit Flüssigkeit aus seinen Gebeinen. Warum man tote Helden nicht ordentlich in ihrer Gesamtheit beerdigen kann, ist mir nicht ganz klar. Durch das Herumzeigen ihrer sterblichen Reste, werden die Heiligen ja auch nicht wieder lebendig. Allerdings hat so ein Heiliger auch heute noch allerhand Aufgaben. Sie bewahren bei Anbetung vor Krankheiten oder anderem Ungemach. Andreas zum Beispiel ist der Betriebsheilige der Metzger, Fischer und Seiler. Er hilft bei Gicht, Krämpfen und Rotlauf und soll außerdem für gutes Wetter sorgen. Das mit dem Wetter hat er heute ganz gut hinbekommen. Danke. Der Altar, der den Heiligen Andreas zeigt, ist ein beliebtes Fotomodell. Ein Frau posiert vor der Skulptur des Heiligen, bis sie so abgelichtet ist, wie sie es für richtig hält. Welche Rolle der Heilige auf diesem Bild spielt, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie ja Gicht. Aber vermutlich ist er auf dem Foto nicht die Hauptperson.
Auch die große Kathedrale ist ein Schmuckstück, das prunkvoll und vergoldet die Netzhaut reizt. Wunderbare Deckenmalereien animieren dazu, sich ein paar eigene Geschichten zu den Bildern auszudenken. Immer wieder muss ich in Sakralbauten Engel sehen, die albern durch die Lüfte tanzen, dicke Backen machen und die ganze religiöse Angelegenheit scheinbar nicht ganz ernst nehmen.
Aus dem kühlen Inneren der Kathedrale heraustretend, erschlagen mich Lärm und Hitze gleichermaßen. Ein Gemurmel und Geschnatter dringt über die lange Treppe von der Piazza di Duomo hinauf. Schirmschwingende Reiseleiter ermahnen ihre staunenden, aber weitgehend willenlosen Schafherden zur Eile, erklären die wichtigsten Bauwerke und machen Witzchen, um die Herde bei Laune zu halten.
Die Piazza lockt mit kulinarischen Versprechungen. Wir betrachten vor einem Restaurant eine gut gestaltete Speisekarte in Handschriftdesign, die an einem kleinen Holzzaun angebracht ist. Ein Kellner winkt. In weißem Leinenanzug, das gegelte schwarze Haar in einem Zopf auf den Rücken fallen lassend, wartet er aufmerksam auf Leute wie uns, die nach etwas Ansprechendem zu Essen suchen. Er weist auf einen Stuhl unter einem Schatten spendenden Schirm und macht eine Bewegung mit den Fingerspitzen, die er zum Munde führt, um die Vorzüglichkeit des Essens hervorzuheben. Kurz entschlossen folgen wir seiner Einladung und ordern ein großes kaltes Wasser. Der Kellner teilt uns Speisekarten zu und widmet sich wieder seiner Hauptbeschäftigung – Gäste ködern. Die Speisekarte besteht aus einer Sammlung von fotografiertem Essen. Für Ausländer und Leute, die nicht Lesen können. Es ist nicht die Speisekarte, die wir uns vor dem Restaurant angesehen haben. Ich suche nach dem Holzzaun, an dem die Karte hängt und stelle fest, dass der Zaun zwei Restaurants auf dem Platz teilt. Das mit der handgeschriebenen Speisekarte befindet sich auf der anderen Seite der Grenze. Der italienische Schmierenkomödiant leistet gute Arbeit, wie ich sehe, denn ein weiteres Pärchen blickt von der Karte auf und folgt seinen Winkebewegungen.
Die Fotos vom angebotenen Essen sind nicht von einem Ästheten geschossen worden. Sie vergilben bereits und ich hoffe, dem Essen ergeht es nicht ebenso. Ich bestelle Nudeln mit Muscheln. Während wir auf unsere Gerichte warten, beginnt in unserem Rücken plötzlich ein Quartett ein paar unterhaltsame Melodien zu spielen. Ein Gitarrist bedient dabei den Rhythmus des Gipsyswing, ein Klarinettist trillert geschäftig dazu, ein Kontrabassspieler hat auch reichlich Noten und ein Sänger versucht, die italienische Lebensweise in Stimmung zu setzen. „Quando, quando“ und „Volare“ hören wir und Klassiker des italienischen Schlagers, wie „Bambolero“ und „Guantanamera“. Die eingängigen Melodien kennt hier jeder der Anwesenden. Der weiß gekleidete Gigollokellner animiert nun auch noch zum Mitsingen. Eine nicht mehr ganz junge, aber sehr schicke Frau mit ausgeprägter Yachtbräune, die zwei Tische weiter speist, zappelt rhythmisch herum. Ihrem Mann gelingt es gerade so, sie davon abzuhalten aufzuspringen und zu tanzen. Bei „Volare“ grölt das ganze Lokal mit, wie ein Fußballfanclub im Siegestaumel. Nach der anschließende Trinkgeldrunde wechseln die Musiker auf die andere Seite des Zaunes und beginnen mit ihrem Repertoire von vorn.
Meine Nudeln mit Muscheln bestehen aus Nudeln mit geöffneten Miesmuschelschalen. Das Muschelfleisch ist auf dem Weg aus der Küche offensichtlich ausgebüchst. Wer weiß, wie oft die Muschelschalen heut schon den Teller gewechselt haben. Was es an Fleisch auf meinem Teller mangelt, setzt sich in diesem Moment in großer Menge an den Nachbartisch. Dicke Wabbelbeine quellen aus engen kurzen Jeans und Schwabbelwulste unter einem ärmellosen Kleidungsstück mit dem Charme eines verschwitzten Unterhemdes, das sicher in der richtigen Größe gekauft wurde … vor mehreren Jahren. Was die Frau an Bauch und Oberweite zu viel hat, fehlt ihr am Hals. Das Kinn kommt nahtlos aus dem Ausschnitt. Die lodigen Haare umklammern ein trotzig blickendes Gesicht. Dabei stört mich weniger die Tatsache der enormen Leibesfülle – ich schleppe selber etwas zu viel mit mir herum – sondern deren Präsentation. Die Kunstfertigkeit, sich ästhetisch zu Kleiden scheint mir dieser Tage nicht besonders ausgeprägt. Allerdings ist mein Toleranzverständnis für angemessene Kleidung ohnehin etwas angegriffen, seit zerrissene Jeans und Jogginghosen zu Sakko als Haute Couture gelten. Vermutlich liegt das auch nicht an der Kleidung, sondern an mir. Doch wenn das Kopfschütteln über zerrissene Jeans und zu enge Unterhemden über Schwabbel ein deutliches Zeichen allgemeiner Spießigkeit sein soll, nun denn, bekenne ich mich dazu. Ein Spießer auf Reisen sucht nach Klischees und bekommt sie natürlich prompt geliefert, als die Frau nun im breiten Akzent des amerikanischen Mittleren Westens beginnt, ihrem Mann, der genauso so massig wirkt, die Speisekarte, die ja wie erwähnt aus Fotos besteht, vorzulesen. Er brummt bei jeder Ansage voller Vorfreude.
Als wir gehen, suche ich verzweifelt nach meinem Hut. Ich schaue unter dem Tisch und auch die Frau vom Nachbartisch hebt hilfreich das Tischtuch und fragt, ob sie helfen kann. Sie lächelt, wünscht uns, nachdem ich meinen Hut gefunden habe, einen schönen Tag in Amalfi und wirkt dabei auf eine natürliche Weise nett, die mein festgelegtes Weltbild ein kleines Bisschen ins Wanken bringt.
Die Unmenge der Touristen, die bereits jetzt in der Vorsaison die kleine enge Stadt überschwemmen, taumelt im zähen Strom durch die Gassen. Für die weniger Fußfitten bleibt der untere Bereich des Ortes alles, was es zu besichtigen gibt. Und selbst dort steigt der Weg zwischen den Geschäften mit Keramik, Eisläden und Souvenirs, die auf der Kitsch-Skala nach oben hin keine Grenze kennen, leicht an. Eine kleine Nische offeriert einen Treppenstieg, dem wir willkommen nach oben folgen. In zahlreichen Windungen führen die Stufen höher und höher, vorbei an Wohnungen mit halb geöffneten Türen und Fenstern, aus denen die unterschiedlichsten Geräusche und Gerüche zu uns dringen. Gespräche, Gemurmel aus Fernseh- oder Radiosendungen, Tellerklappern, Bruzelgeräusche frisch in der Zubereitung befindlicher Mittagsgerichte, nebst den dazu gehörigen Düften. Auf einer Treppenstufe führt ein Kind ein Spielzeugauto aus. Eine Katze sitzt, sich putzend auf einer hohen Wegbegrenzung aus Stein, die atemberaubende Aussicht hinter ihrem Rücken ignorierend. Wir sind fast ganz oben auf dem Treppenstieg angekommen. Nur eine weitere Treppe führt noch höher zur Kapelle “Unserer Lieben Madonna vom Schnee”. Auch wenn ich eine Abkühlung vertragen könnte, gehen wir doch unterhalb des Gotteshauses den Hochpfad über der Stadt entlang und schauen hinab auf Amalfi und das Meer und hinauf auf die steilen grünen Hänge, die sich über uns im Sonnenlicht erheben und an denen der Ort klebt, wie ein Bienenstock.
Amalfis Bauland bemisst sich gerade mal auf drei Quadratkilometer. Es steckt in einem schmalen Mühlental, in dem einst mehrere Mühlen vom herabstürzenden Wasser betrieben wurden. Hauptsächlich Papiermühlen wurden hier betrieben. Die Häuser baute man in und an den Fels, das wenige Ackerland legten die Amalfitaner mühsam auf schmalen Terrassen an. Unter unserem Ausguck hängen die Zitronen satt und gelb an den Bäumen. Große Büsche mit bunten Blüten stehen überall am bewirtschafteten Hang, umflattert von Schmetterlingen, vor allem vom hier auffällig häufigen Schwalbenschwanz. Die kleinen Wege hat man mühsam aus dem Hang gekratzt, Eselspfade stabilisiert und Kletterstiege mit Stufen gefüllt, um die natürlichen Hindernisse eines Bergortes etwas zu entschärfen. Über Jahrhunderte erreichte man den Ort nur über den Seeweg. Was als Piratennest begann, entwickelte sich bis ins Mittelalter zu einer der mächtigsten Seerepubliken des Mittelmeers. Hier wurde angeblich von Seefahrer Flavio Gioia der Kompass erfunden. Aber das behauptet auch die Nachbargemeinde Positano. Ein Denkmal für den Erfinder steht in Hafennähe, ist mir aber nicht aufgefallen. Erst spät errichtete man die Küstenstraße, die Amalfitana. 1832 begann man Stückchenweise einen festen Weg aus dem Fels zu sprengen. Bereits 1850 hatte man die wohl schönste Straße Italiens weitgehend fertig gestellt.
Von unserem Standort können wir bequem auf den Glockenturm des Domes schauen. Das Turmdach ist mit bunter Keramik gedeckt, ein typischer Baustil in der Region, den wir in jedem Ort wiederfinden. Die Kirchtürme erinnern etwas an die Mützenarchitektur orientalischer Gotteshäuser. Ob hier Funktionalität oder Ästhetik die Hauptrolle spielten oder beides ineinander greift, weiß ich nicht zu sagen.
Der Weg führt wieder steil hinab. Im Abstieg begegnen uns die ersten Menschen seit einer längeren Zeit. Ein Pärchen, wie wir Touristen, die bei der Aussicht in ein glückliches Seufzen verfallen und sofort beginnen, ein aussagekräftiges Selfie zu konstruieren.
Wieder zwischen den Touristenströmen angekommen, lassen wir uns zu einem Eis überreden. Die insgesamt vier Kugeln am Hauptportal zur Einkaufspassage kosten zehn Euro und sind es geschmacklich nicht wert. Eine aromatisierte Zuckerpampe, die schneller zu tropfen beginnt, als sie auf die Keksrolle geschmiert werden kann. Und dann kaufen wir die obligatorischen Postkarten samt Briefmarken, die, wie wir später feststellen, zwar schön teuer sind, jedoch nicht zum Transport durch die italienische Post berechtigen. Es ist das Porto eines privaten Brieftransporters, wie die grüne Pin-AG in Deutschland, nur leider so wenig verbreitet, dass seine blauen Briefkästen und selbst der Name des Unternehmens im ganzen Süden Italiens nicht mal bei Postbeamten bekannt sind. Resigniert werfen wir die Karten in die roten Postbriefkasten, in der Gewissheit, dass keiner der Adressaten diese wohl je zu Gesicht bekommt. Im Touristen Verarschen sind die Italiener Weltmeister.
Für die Abreise aus Amalfi nutzen wir nicht den Bus, sondern das Schnellboot nach Salerno. Der Ausblick auf die spektakuläre Steilküste mit der gewundenen Hochstraße und den übereinander gebauten Häusern der kleinen Felsnester ist fast nicht auszuhalten. Kleine Felsbuchten tun sich auf, mit schmalen Stränden, die nur mit dem Boot zu erreichen sind. Auf Felsvorsprüngen stehen alte Forts oder moderne Restaurants, die nur von der Straße aus über einen beschwerlichen Abstieg besucht werden können. Dann allerdings sitzt man weit vorgelagert vor dem aufragenden Fels über dem Meer und kann sich ein sicher nicht ganz billiges Menü schmecken lassen. Segelschiffe und kleine Fischerkähne, die träge in der Dünung wippen, weichen langsam größeren Pötten, Lastkähnen und Fähren nach Sardinien und Tunesien. Schließlich erreichen wir mit Salerno einen romantikarmen Großstadthafen. Es riecht nach brackigem Wasser und Diesel. Rollkoffer zwitschern die Landungsmole entlang. Wir verlassen den Hafen, von dem wir uns einen etwas beschwerlichen Weg bis zu unserem Schwalbennest hoch über dem Meer suchen müssen, was uns nach einer kleinen Odyssee durch die Undurchdringlichkeit der örtlichen Bushaltestellenorganisation schließlich gelingt.