Anacapri
Von weiten Ausblicken, engen Gassen und beleidigten Navigationsgeräten
Am Rande des Trubels von Capri Stadt befindet sich ein winziger Busbahnhof – wenn man den denn so nennen darf. An einem Pavillon, der wirkt, wie ein Carport mit drei Parkbuchten, befindet sich ein kleiner Zugang, der aussieht, wie ein offengelassenes Gatter zu einem Ziegenstall. Einem Ziegenstall, der in drei Segmente aufgeteilt ist. Diese heißen Marina Grande, Capri (was gleich um die Ecke ist) und Anacapri. Man muss den richtigen Zugang in diesem kleinen Labyrinthspiel finden, um sich dem gewünschten Bus zuzuordnen. Das scheint schwerer, als es zunächst aussieht, denn fast jeder, der uns in dem Gang zum Bus nach Anacapri folgt, fragt, ob das hier richtig sei, nach Anacapri. Es gehört zu den unerklärlichen Phänomenen des Reisens, dass man sich unsicher fühlt, selbst wenn man den Hinweisen und Wegleitschildern folgt. Vielleicht meint es die Wegmarkierung ja anders, als man es selbst versteht. Oder jemand erlaubt sich einen Witz, über den nur er selbst lachen kann. Wir gehen zuerst durch dieses Gatter und weitere Reisende schließen sich uns an. Ich fühl mich, wie die Judasziege, den genau weiß ich auch nicht, was mich erwartet, erzähle den nach mir Folgenden aber hoffnungsvoll, dass alles gut wird. Wird es auch, denn schließlich schiebt sich der Greyhound in die Parklücke. Nun ja, wenn man Hunderassen als Vergleich bei Bustypen heranzieht, so ist dies hier eher ein behäbig er Mops. Nicht wesentlich größer als ein Werkstattwagen einer Klempnerfirma, besitzt der Bus eine Seitentür zum Ein- und Aussteigen. Über eine steile zweistufige Treppe, die in der Mitte mit einem Handlauf getrennt ist, gelangt man als sehr schneller Menschen zügig ins Innere des Busses, als normal gebauter Mensch mit moderater Geschwindigkeit und als stabilerer Mensch nur mit blauen Flecken. Ich drängle mich am Fahrer vorbei, der mir meine Fahrkarte abnimmt, sie in den Entwerter stopft und abstempelt, als wäre ich, da ich Tourist bin, zu blöd, für solch eine qualifizierte Tätigkeit. Ich schaffe es aber immerhin, mir einen der neun Sitzplätze mit Aussicht zu sichern.
Der Bus schleppt sich mit lautem Röhren Meter um Meter die steile, aber dafür schmale Straße hinauf, legt sich in die engen Kurven, wie ein von schwerer See getroffener Gaffelschoner. Auf einer Seite stützen Mauern und künstlich angelegte Baumbestände die Straße vor Steinschlag und Bergrutschen, auf der anderen fällt der Blick hinab zum Meer. Die Straße nach Anacapri ist, wie auch die Amalfitana, die Straße entlang der malerischen Amalfiküste, eine Meisterleistung der Ingenieurbaukunst des späten 19. Jahrhunderts. Sie windet sich hier um das Kalksteinmassiv des Monte Solaro.
Auf der ganzen Strecke bis hinein nach Anacapri gibt es nur einen Zwischenstopp: direkt an der Eingangspforte des Hotels »Caesar Augustus«. Das befindet sich auf einer Felsspitze und gibt mit einer der prächtigsten Aussichten ganz Süditaliens an. Von der Insel Ischia im Osten über Procida und der Bucht bei Pozzuoli, blickt man weiter bis nach Neapel, dessen abstoßende Gerüche von Müll und Urin man hier nicht mehr ertragen muss. Der Blick schweift hinüber zum friedlich schlummernden Vesuv, über den Golf von Neapel, der Halbinsel Sorrent, dann die Amalfiküpste entlang bis nach Salerno. Dann dreht man sich ein wenig nach rechts und überblickt den Golf unterhalb des Cilento, bis an die Spitze des gerade so erahnbaren Ortes Licosa. Die beiden Golfs oder Golfe oder Golfii – wie auch immer, geben zwei wunderbare schwungvolle Rundungen ab, die in ihrer Mitte von der Spitze der Halbinsel Sorrent getrennt werden. Irgendwo an dieser Küste ist Sophia Loren geboren worden. Vor mir liegt ein strahlend blaues Meer voller weißer Boote, Ausflugsschiffe und Yachten mit angeberischen Ausmaßen. All die kleinen und großen Dreckecken, an denen es dem Großraum Neapel nicht mangelt, sind hier weit weg und vergessen. Dieser Augenblick der Vollkommenheit einer Landschaft von überwältigender Schönheit ist vielleicht nur kurz, aber so einprägsam, wie sich sonst nur ein Gemälde zu einzuprägen vermag. Wer sich hier mit einer Staffelei hinstellt, benötigt sehr viele Blautöne.
Die Preise in diesem Luxushotel mit dem mondänen römischen Cäsarennamen sind nicht gerade für eilige Pauschalurlauber gemacht, wie ich später aus dem Internet erfahre. Wer es sich leisten kann, hier im Überlaufpool, in erstklassigen Restaurants und Suiten mit Übernachtungspreisen von bis zu 4500 Euro das Ambiente zu genießen, bekommt für sein Geld wirklich was geboten: Service, der Wünsche erfüllt, den er gar nicht hat, Betten, deren einzige Funktion es ist, im siebenten Himmel zu landen und Restaurants, in denen das Essen mehr Rätsel aufgibt, als ein Fernsehquiz. Und die Aussicht, diese traumhafte Aussicht übers Meer – die ist allerdings bei allem kaum bezahlbaren Luxus nichts, in das die Hoteleigner irgend eine Form von Eigenleistung gesteckt hätten. Nur dreißig Meter neben dem Hotel ist der An- und Ausblick derselbe, nur ohne Pagen und ohne finanziellen Ruin.

Anacapri erweist sich als die leisere Schwester von Capri-Stadt. Auch hier gibt es ein paar edle Boutiquen, ein paar schicke Hotels und ein paar Kunstgalerien. Doch alles wirkt viel gelassener und weitaus weniger wie ein Basar der Eitelkeiten. Wir laufen ein paar Meter die Promenade herunter und machen uns dann auf die Suche nach einem Hotel für die Nacht. Ich hatte mir auf Booking.com ein preiswertes, aber schickes Hotel ausgesucht, gebe das Ziel in mein Wandernavi ein und wir marschieren streng nach Vorgabe des Gerätes los. Ich verfolge den Pfeil, meine Herzdame die Straße. Wir gelangen an einen Platz vor einer Kirche. Vor dem kleinen Eingangstor gestalten Kinder und Jugendliche einen Teppich aus Blumen. Ein voller Blütenduft steht über dem Ort, den wir langsam durch eine Seitengasse verlassen. Wir passieren eine Straße und landen erneut in einer engen Gasse. Rechts und links erheben sich bis in zweieinhalb Meter Höhe weiß gekalkte Wände, die die Einwohner vor zudringlichen Blicken bewahren. Ich weiß nicht, ob hier gut verwahrt Prominente hausen und es ist mir auch wurscht, aber ob Promi oder Eingeborener, die ewigen Touristen, die hier entlang jagen, würden mir auch auf den Zünder gehen. Allerdings sind wir zu Zeit in dieser Gasse allein. Hier scheint sich kaum ein Tourist hin zu verirren. Und wenn doch, dann ist Verirren der richtige Begriff. Meine Navigationsapp zeigt mir längst nicht mehr an, dass wir uns auf dem Weg befinden, dem wir eigentlich folgen sollten. Eigentlich befinden wir uns laut Navi bereits hinter den Mauern und sollten längst auf dem Schoß irgend einer Filmzicke herumlümmeln. Aber irgendetwas ist hier falsch. Entweder macht das Navi oder die Realität schlapp. Die App saugt sich munter durch den Stromvorrat des Taschentelefons. Daran kanns also nicht liegen. Oder doch?
Der Mensch hat in der langen Geschichte verzweifelter Bemühungen, sich mit komplizierten Erfindungen, Dinge zu erleichtern, die man ohne den Einsatz dieser Erfindungen, schneller erledigen könnte, schon ein paar tolle Treffer gelandet. Das Navigationssystem gehört zweifelsohne dazu. Irgendwo im Nirgendwo befindet sich ein ratloser Mensch und möchte gern nach Haus oder wenigstens ans Ziel des Tages. Er greift zu einem kleinen Stück leblosen Verbundmaterial aus Glas, Aluminium und Silizium, das in der Lage ist, Informationen an ein weitaus größeres Stück leblosen Verbundmaterials aus ähnlicher Materialzusammenstellung zu schicken, das irgendwo hunderte Kilometer über seinem Kopf um die Erde kreist und das in diesem Moment den kleinen Menschen mit dem teuren Taschenspielzeug auf dem großen runden Planeten genau orten kann, während andererseits der geniale, aus Millionen intelligenter Zellen bestehende komplexe Organismus mit seinem enorm leistungsfähigen Gehirn und seinem brillanten in Jahrmillionen evolutionär geformten Orientierungssinn, nicht die leiseste Ahnung hast, wo er sich befindet. Das einzige Problem, das sich zwischen der Information des Satelliten, des Navigationssystems und dem persönlichen Gefühl der Sicherheit, tatsächlich zu wissen, wo man sich befindet, steht, ist die Komplexität der Software. Oder anders ausgedrückt, das eigentliche Problem besteht zwischen der Genialität der Technik, die sich findige, äußerst schlaue Köpfe ausgedacht haben und der eigenen Beschränktheit beim Umgang mit dieser, von findigen und äußerst schlauen Köpfen ausgedachten Technik. Ein Freund, dem nie wirklich was schief geht, wenn er mit technischem Spielzeug konfrontiert wird (oder der dies zumindest nie zugäbe), würde hier generös und augenverdrehend feststellen: “Muss man sich natürlich vorher schon mal ein bisschen mit beschäftigen.”
“Nein! Muss man nicht!” Technik, die hergestellt wird, um angeblich alltagstauglich in den Einsatz am lebendigen Menschen geschickt zu werden sollte funktionieren, ohne das man weiß, was man da überhaupt in der Hand hat. Der größte technische Depp und Handbuchignorant – mich eingeschlossen – sollte ein handflächengroßes Gerät intuitiv bedienen können, ohne einen Schrankkoffer mit Bedienungsanleitungen auswendig gelernt und in tagesfüllenden Workshops an sich selbst getestet zu haben. Und ein Navigationsgerät, dem ich nicht vertrauen kann, weil es sich beleidigt füllt, wenn ich einen Bedienfehler mache und ein bisschen ratlos darauf herum tatsche, ohne mir klar zu machen, was ich tun soll, hat am Ende nur ein wirklich entscheidendes Problem: Mich! Ich schalte es ab und werde es nicht mehr benutzen.

Wir orientieren uns am Straßenschild und folgen dem Gefühl. Nach einer Weile gelangen wir wieder auf dem Platz mit der kleinen Kirche und den Blumenteppich. Man kann sich in den Gassen und entlang der hohen Steinmauern der Grundstücke Anacapris sehr effektiv verlaufen. Genau das machen wir auch weiterhin, da ich nun trotzig weder Navi noch Karte vertraue, sondern nur noch leise vor mich hin seufze. Ich setze mich auf eine kaum kniehohe Steinmauer. Wenige Sekunden später streicht eine bunte Glückskatze um meine Beine. “Kraul mich, am besten zwischen den Ohren” schnurrt dieses kleine feline Flittchen, dem ich nicht widerstehen kann.
Das scheint zu helfen. Ich werde etwas ruhiger – beruhigen können Katzen richtig gut, wenn sie nicht heimlich den Wurstteller auf dem heimischen Küchentisch plündern. Wir brechen wieder auf und nach einigen energischen Schritten in die vermeintlich falsche Richtung, befinden wir uns vor einer recht großen Kirche an einem auch nicht sehr kleinen Platz. Wir fragen einen einheimisch wirkenden Einheimischen, der rauchend über den Platz schlendert. Der erklärt uns wage und kompliziert, wo wir uns befinden. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, so sind wir auf Capri.
Ich zeige auf eine Gasse und sage bestimmt: “Da lang”. Knapp zweihundert Meter weiter erblicken wir ein Hinweisschild, das uns den Weg zu unserem Hotel weist. Manchmal muss man einfach die Initiative an sich reißen.
Das Hotel il Girasole versöhnt uns nach all den Strapazen des Tages gründlich. Mit dem Mann am Empfangstresen kann man nicht nur ein Check-In Gespräch führen, sondern sogar ein bisschen albern Small-Talken. Das Zimmer, das wir bekommen ist zwar klein, besitzt aber einen Zugang zu einer großzügigen Gemeinschaftsterrasse mit rankenden Weinreben und einem grandiosen Gratisblick über das Meer bis hinüber nach Ischia. Ein paar Stufen oberhalb unseres Kämmerchens plätschert das Wasser kühl im blauen Pool und nichts kann uns nun davon abhalten, den Moment zu genießen, uns abzukühlen und zu wissen, dass wir tatsächlich auf Capri angekommen sind und heute auch nicht wieder weg müssen. Jetzt braucht nur noch die scheiß rote Sonne im blauen Meer zu versinken.