Frischer Schnee knirscht unter den Sohlen der Stiefel. Unberührt liegt eine weiße glitzernde Decke über dem märkischen Land. Die Bäume stehen wie überzuckerte Leckereien in der Gegend herum. Den Vögeln, die durch die Zweige hopsen, fehlt jede Tarnung. Sie werden angeguckt und bestimmt. Eine Schar Gimpel tanzt über mir umher, ihre roten Bäuche leuchten wie Feuerwehrmelder unter dem hellen Himmel. Ein Fasan hüpft erschrocken aus dem Unterholz auf einen Ast, als er mich wahrnimmt. So etwas habe ich bereits gegessen, aber noch nie in freier Wildbahn herumtollen gesehen. Als Städter kennt man leider von den meisten Lebewesen nur die leckersten Teile. Hier am Rande der Schorfheide sollen Waschbären eine echte Plage sein. Ich biege in ein kleines Waldstück ein, doch keine Plage zeigt sich. Dafür wächst mein Respekt in der Stille des Winterwaldes - denn so appetitlich, wie ich Wildschwein finde, mag ich es doch in seiner Heimat nicht unbedingt begegnen. Spuren sehe ich keine, nur Katzentapsen haben Löcher im Schnee hinterlassen.
Der Radwanderweg Berlin-Kopenhagen führt direkt am Landgasthof "Preußischer Hof" vorbei. Bis zum nächsten Ort begleitet der Weg den Vosskanal, der sich träge bemüht seine Eisschollen von Schleuse zu Schleuse zu transportieren. Der Schnee hindert am zügigen Laufen und der Frost beißt in die Nase. Sich im Winter umzuschauen erweckt den Eindruck, in einem Schwarz-Weiß-Film zu leben. Die wenigen farbigen Punkte, die Scheunen oder Siedlungen bieten, wirken blass und fahl. Nur die Vögel schaffen es, das Bild zu sprengen, wobei die besonders bunten den Eindruck erwecken, fehl am Platz oder nachcolouriert zu sein. Die ganze Sehnsucht einer längeren Winterwanderung durch karges, schneebedecktes Land, dessen augenschmerzende Helligkeit nur von ein paar schwarzen Kühen aufgelockert wird, richtet sich auf den im Nachbarort erhofften Glühwein. Der Ort, den ich erreichen will, heißt Krewelin. Er beginnt hinter einer Brücke über dem Kanal, der hier von zahlreichen Enten bevölkert wird. Das Schild Gasthof prangt bereist wenige Meter hinter dem Ortseingang an einem Schild. Viele einsame Schilder in leere Landschaft versprechen seltsame Dinge. "Aussichtspunkt 10 min", "Hünengräber 200 m", "Negerküsse aus eigener Produktion, gleich hier rechts". Ooh. Nicht immer halten sie ihre Versprechen, wie die Hünengräber, die ich mal zwei Stunden lang suchte, bis ich mich entkräftet und enttäuscht auf einen Hügel setzte, mein Wanderbrot auspackte und mich darüber ärgerte, dass man zwar eine große Steinbank in die leere Landschaft gebaut hatte, aber keinen Papierkorb.
Den Dorfplatz schmückt eine Kirche in Fachwerkbauweise. Still sticht sie ihre Turmspitze in den wolkenverhangenen Himmel. Von Schnee überzogen und mit der Ruhe des schlafenden Dorfes gepolstert, wirkt sie, wie eine Einladungskarte zum Weihnachtsgottesdienst. An der anderen Dorfseite erkenne ich das eigentliche religiöse Zentrum Krewelins - den Fußballplatz. Das Vereinshaus sieht sauber und frisch renoviert aus. Helles Eiergelb leuchtet gegen den Schnee. Der Rasen ist grün - eine Aussage, die selbstverständlich klingen würde, stünde man nicht mit den Füßen neben einer Halbmeter hohen Schneewehe. Auf einer Informationstafel, die alle Gäste des Ortes Willkommen heißt, wird auf die beiden Shops hingewiesen und auf den Gasthof Dorfkrug. Der Dorfkrug steht an der Dorfstraße, ein mindestens 150 Jahre alter Klinkerbau. Ein Schild an der Tür verweist auf die Öffnungszeiten. Täglich ab 18.00. Außer Dienstag, da ist Ruhetag. Es ist noch lange nicht 18.00 Uhr, dafür aber Dienstag. Von den Shops finde ich nur Hausnummern, verschlossene Türen und Hunde mit einer sehr gründlichen Berufsauffassung. Eine Anhäufung zotteliger Scheuerlappen testet laut bellend die Haltbarkeit des Maschendrahtzaunes an dem ich vorbeigehe. Er gibt Signale an den Nachbarhund, der hinter einer Holzpalisade Alarm schlägt. Unter einem Eisentor schiebt sich eine schwarze Nase durch. Binnen Sekunden verweist das Dorfbellen auf die Ankunft des Fremden. Ich betrachte das mit einer Gelassenheit, sind wir doch gern mutig, wenn sich zwischen Hund und Mensch ein Zaun ist und ein verschlossenes Tor befindet. Hinter den Gardinen sitzen kaffeetrinkende Dorfbewohner und knurren leise. Mir bleibt nichts weiter, als zurück zu wandern. Ohne Glühwein als Wegaufheiterung. Zurück im Hotel "Preußischer Hof" lege ich meine Füße aufs Bett. Ein kaltes Bier aus der Minibar des Zimmers bringt mich wieder zu Kräften.
Das Landgut "Preußischer Hof" liegt abseits des Weges, der durch den Ort Liebenwalde führt und ist knapp eine Autostunde von Berlin entfernt. Kurz vor Ende des 18. Jahrhunderts ließ Friedrich Wilhelm der II. das Anwesen als Märkisches Landgestüt errichten. Später diente es als Lazarett, als größte Championzuchtstation des Kaiserreiches, Knabenlandheim und Reichsfachschule, bevor es die DDR-Führung als Kaderschmiede der politischen Landwirtschaftselite nutzte. Mal abgesehen vom Erholungscharakter werden auch heute hier Tagungen, Seminare und Kongresse abgehalten, in denen sich die Besten der Besten der Besten gegenseitig auf die Schultern klopfen und auf projizierten Computeranimationen ihrer Gewinnspanne analysieren.
Die Wende brachte für das kasernenartige Gehöft neue Attraktivität, den außer den Tagungsmöglichkeiten hat man hier eine gute Gelegenheit sich angenehm zu Erholen und sich verwöhnen zu lassen. 90 Zimmer und 3 Suiten besitzt das Hotel. Aller Komfort ist gegeben, den man sich wünscht, von der erwähnten Minibar, über geräumige Bäder bis zum Fernsehgerät und dem eigenen Faxanschluss im Zimmer. Die Zimmer sind sauber und die Fenster gehen entweder auf den großen Innenhof oder auf die märkische Landschaft hinaus.
Ein Wellnessbereich mit Sauna, Schwimmbad, Massagemöglichkeiten und Whirlpool gehört ebenso dazu, wie ein kleiner Fitness-Tempel mit Sprossenwand, Rudergerät, leichtabgewetzten Billardtisch, einem Dartautomat ohne Strom und einer Kegelbahn.
Im kleinen Schwimmbecken ziehe ich in Ruhe ein paar Bahnen, solange nicht allzu viele andere Gäste darin herumplanschen. Die Sauna bietet sechs Leuten platzt, wenn sie es eng mögen und das Aromadampfbad ist eine kleine Plastezelle mit fünf Knöpfen für verschiedene Düfte. Sobald ich die Tür schließe, fühle ich mich unter dem bläulichen Neonlicht, wie in einer Zeitmaschine. Ich drücke auf einen Knopf und bevor was Erfreuliches aus den Düsen dringt, flackert kurz das Licht. Ich hoffe, ich habe nicht versehentlich die Taste für das Mittelalter gedrückt. Nackt auf einem Feld in 14. Jahrhundert ist nicht die Art von Vorstellung, der ich mich länger hingeben möchte.
Für den Whirlpool benötige ich Chips. So steht es jedenfalls in der Sauna angeschrieben. Ich reibe mich mit meinem nassen Handtuch trocken und lese weiter, dass diese an der Rezeption zu bekommen sind. Ich habe kein Interesse nackt über den Hof zur Rezeption zu laufen, selbst wenn wir nicht im Mittelalter sind. Also lege ich mich auf eine Liege. Später stelle ich meine Füße in den Schnee. Es kribbelt angenehm. Neben meinen Fußabdrücken sind die Abdrücke einer Amsel, die hier zwischengelandet ist.
Genug gesaunt. Zeit etwas gegen den Hunger zu tun. Das Restaurant ist so leise, wie es sich für ein gehobenes Restaurant gehört. Kein Geplapper und kein Geklapper. Nur vornehm verhaltenes Schmatzen an den besetzten Tischen. Die Mitte des großen Raumes wird von einer beleuchteten Glasdecke überspannt. Der Reichsdeckengestalter hat hier ganze Arbeit geleistet. Es wirkt protzig, wie für eine Parteiversammlung kreiert.
Eine sehr große Kellnerin bedient. Sie ist angenehm, weil sie zwar höflich ist, aber keine Anflüge von falscher Vornehmheit zeigt. Sie flaxt ein bisschen herum und ich flaxe zurück. Als Vorspeise wähle ich einen Salat mit Leberstückchen, übergossen mit einer hervorragenden Vinaigrette. Eine rosa Linsen-Suppe folgt. Der Wildschweinbraten mit Kroketten gibt mir Auskunft, warum ich heute dem Tier im Wald nicht begegnet bin. Ein mäßig interessanter Cotês du Rhone begleitet mich bis zum Dessert aus Germknödeln in Vanillesoße. Danach bin ich nudelsatt. Alles zusammen ist wohlschmeckend, sättigend und teuer, aber sein Geld wert.
Satt versinke ich am Kamin neben der Rezeption in einer tiefen Couch.
Vier angereifte und angeheiterte Damen erscheinen am Kamin. Betriebsausflug ohne Männer. Sie leihen sich ein Würfelbecher aus und beginnen an einem kleinen Tisch in meiner Nähe zu poltern.
Nach einem kleinen Absacker spaziere ich durch den immer noch fallenden Schnee vor der Restauranttür. Der Weg zu meinem Zimmer führt an einer im Winter geschlossenen Bar vorbei und an einem Stall. Hier kann man im Sommer sein Pferd abstellen, wenn man zufällig eins dabei hat.
Ich hätte für den nächsten Tag gern Skier ausgeliehen, doch an der Rezeption konnte man mir nur Fahrräder und Kanus anbieten.
Aus der Minibar unterhalten mich ein paar Erdnüsse, aus dem Fernseher meine die übliche abendliche Aneinandereihung von Mord und Totschlag und deren fachgerechter Aufklärung. Bis zum ersten Abspann bleibe ich wach, dann wirken Sauna, Spaziergang und üppiges Essen als Gespann und ich dämmere trotz Vollmond allmählich weg, obwohl ich in solchen Nächten häufig wachliege, mich herumwälze und befürchte morgens mit Fellresten in den Zähnen aufzuwachen.
Das Frühstücksbüffet befindet sich in London. Gleich neben der Eingangstür zum Frühstücksraum gongelt mir eine alte Westminster-Standuhr das Geläut von Big Ben vor. In solchen Uhren verstecken sich gewöhnlich kleine Geißlein. Aber darauf habe ich heute keinen Appetit.
Das Büfett liegt unter einem Dach, das einen Bauernhof darstellen soll. An den Wänden hängen alte Pflugscharen und Harken. Ich kann mir nicht denken, dass irgend ein Landarbeiter in der Mühsal der Tage je auf die Idee gekommen wäre, dass sein Werkzeug mal in einem gehobenen Restaurant ausgestellt sein wird, damit sich der wohlhabende Esser beim Verzehr seiner Brötchen angenehm gruselt bei der Vorstellung, wie schwer es doch ein Landarbeiter hat, sich seine Brötchen zu verdienen.
Ich denke mir den Hals trotz Gruselfaktor ordentlich vollzustopfen, und türme Teile des Büfetts auf meinen Teller. Rührei, Kochei, Wurst und Marmelade, Müsli, Kornflakes, Obst, Brötchen Croissants, Kaffee, Tee und Kakao... . Es könnte so schön sein, zumal gerade ein paar Meisen in der Fichte vor dem Fenster herumturnen, die ich aber leider nicht hören kann, weil mir das unter dem Büfett abgestellte Radiogerät akustisch die Laune versalzt. Der Mukkefucksender RTL rüpelt die üblichen platten Hits aus den 80gern, 90gern und heute und labert seine Hörer zu. Miserable Moderatoren ohne musikalischen Sachverstand. Dafür mit ganz viel fehlendem Geschmack. Ich will von solchen Leuten nicht am Frühstückstisch geduzt werden. Ich kenne sie nicht und sie nerven. Wann immer ich im Schlaf von einer friedlichen Welt träume und den Maßnahmen die nötig sind, um das zu erreichen, steht ganz oben auf der Liste diese Form hirnloser Geräuschansammlungen zügig zu beenden. Mit diesen Gedanken befinde ich mich allerdings wieder in der neurotischen Welt des Großstädters. Dabei hatte ich mich erholen wollen und es ist mir bis hierher auch tadellos gelungen. Gerade im Winter ist der “Preußische Hof” ziemlich verlassen und meist von einer beruhigenden Stille. Wem das als Erholung nicht langt, kann sich mit Massage, Peeling, Kosmetik, kurz dem ganzen Rundumprogramm Ganzkörperverwöhnen lassen. Kostet natürlich extra und nicht zu knapp.
Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten und der bedingungslosen Übergabe meiner Visakarte reise ich zurück ins weniger ruhige Berlin, um für ein Bruchteil des Preises eines hiesigen Abendessens in der eigenen Küche leckere Nudeln zu Kochen. Keine vier Sterne Nudeln, aber sättigend.