Komm ein bisschen mit nach Italien ...
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Vorfreude
Wie viele hunderttausende Westdeutsche zog es auch meine Großeltern in den ausklingenden Wirtschaftswunderjahren in der Urlaubszeit nach Italien. Sie packten erst den Gogo, später den Käfer so voll es ging und rollerten über die Alpen hin in das Land, wo die Zitronen blühen, im Kopf die Italienschlager der bis heute wunderbaren Caterina Valente. Manchmal schickten sie Ansichtskarten in den Osten, wo wir Empfänger dann “Oohs und Aahs” von uns gaben und manchmal auch ein “Scheiß Osten - kannste nich hin”. Ich versuchte, bessere Details aus den Ansichtskarten zu beziehen und betrachtete sie mit einer Lupe. Ganz dicht, damit der Rand und auch das “Gruß aus … ” nicht zu sehen war, vertiefte ich mich und dachte manchmal tatsächlich, so in diese Gegend einzutauchen. Es gab auch eine Ansichtskarte von der Amalfiküste. Später gab‘s auch Fotos, noch später erbten wir von den Großeltern ein Bild, dass sie in Süditalien erworben hatten, das Gemälde eines Straßenmalers, der einen Blick über einen kleinen Segelhafen zum wolkenverhangenen Vesuv verewigte. Ein Bild mit der Idylle eines ruhigen Fischerhafens, wie er auch in den Sechzigern schon illusorisch gewesen sein dürfte.
Als dann endlich die Reisefreiheit auch den Ostdeutschen heimsuchte, standen allerhand andere Ziele zur Auswahl. Die Amalfiküste lag nicht unbedingt ganz vorn. So schön, wie sie landschaftlich sein dürfte, hatte sie den Ruf, dass sich dort Freunde des tonverarbeitenden Kunstgewerbes in beigefarbenen Hosen tummelten, die alle so alt waren, wie meine Großeltern damals. Gern würde ich dort einmal hinfahren, aber erst, wenn ich im gesetzteren Alter wäre, vielleicht so alt, wie meine Großeltern in den Sechzigern.
Jetzt ist es also so weit.
Ein Foto im Gepäck, mit dem Aquarell, das in meinem Schlafzimmer hängt, soll es in diesem Jahr bis südlich von Neapel gehen, dort wo der gefährlichste Vulkan der Erde auf einen neuen Ausbruch hinschnarcht, wo die Mafia regiert und der Müll überläuft. Ein bisschen südlicher am Golf von Salerno liegt die pittoreske Amalfiküste, an der sich die Dörfer die Berge hinaufdrängeln und hoffen, von den Regengüssen, die gelegentlich das dünne Erdreich von den Hängen spülen, nicht hinab gerissen zu werden. Die letzten Jahrhunderte ging das - mit ein paar Abstrichen - alles ganz gut. Das Foto mit dem Aquarell möchte ich mit der Landschaft vergleichen, die ich vorfinde und vielleicht bekomme ich eine Ahnung, von dem Moment, in dem das Motiv für die Malerei Modell stand.
Ansonsten sollen die Italiener ja ganz gut kochen - zumindest viel. Der Rest wird erlebt und mit etwas Esprit beschrieben werden. Falls das Internet mitspielt und die Lust am Schreiben nicht dem Dolce far Niente zum Opfer fällt, kann man ein paar Momente hier im Blog miterleben. Im Gepäck ist übrigens noch eine Autobiografie von Caterina Valente und die eine oder andere Melodie aus ihrem Leben. Also: “Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans Blaue Meer … .«
Am Gardasee
Trotz fortführender Studien, ist es mir bisher nicht gelungen einen Schlager Caterina Valentes zu finden, der die Schönheit des Gardasees würdigt. Vielleicht war sie nicht so oft in diesem gerade für Deutsche so beliebten Urlaubsparadies in Norditalien. Andere besangen das wildromantische Bergland mit dem riesigen See, aber deren Namen will ich hier gar nicht anfangen zu erwähnen. Ich würde mich zwar ohne Widerworte als Spießer auf Reisen bezeichnen, aber einen gewissen Stolz hab selbst ich.
Der Gardasee ist Zwischenstopp auf der Reise nach Süditalien. Hier hielten wir bereits vor Jahren für eine Nacht, als wir noch keine Ahnung hatten, dass es hier so schön ist. Damals fuhren wir auf der Autostrada Richtung Süden, um mit Kind und Kegel die Toscana zu besuchen. Ein Motel an der Autobahn hätte uns genügt. An einer Tankstelle verriet uns eine Angestellte, dass es kein Motel in der Nähe gebe, aber wenn wir hier abbögen und nach Arco führen, fände sich da schon was. Wir fuhren nach Arco, einem Ort oberhalb des Gardasee und einige Kilometer vor dem Ort tat sich das Tal des Gardasees auf, bei dessem Anblick wir außer “Aah, wie schön” nicht mehr viel mehr herausbrachten. Gigantisch diese Berghänge und der große klare See. Keine 11 Jahre später reicht uns dieser See wieder als Zwischenstation.
Diesmal fahren wir ein ganzes Stück an der Westküste hinab bis nach Toscolano Maderno, ein Ort der alt und authentisch wirken will und dem es im Gegensatz zu Riva del Garda auch gelingt. Riva ist die Hochburg des Touristen-Schnick-Schnacks am See. Toscolano dagegen ist bis zu einem gewissen Punkt zurückhaltender. Die Gassen, die die Berge hinauf führen, besitzen einen italienischen Charme, der altmodisch wirkt. Ich finde das angenehm. Die Häuser sind gepflegt, die Straßen sauber.
Das Hotel, das ich ausgesucht habe, befindet sich etwas oberhalb der Hauptstraße. Ein Gewirr aus Einbahnstraßen führt uns mehr als einmal weit daran vorbei. Schließlich finden wir eine gemauerte Einfahrt mit schmiedeeisernem Tor. Ein gesicherter Parkplatz mit Orleanderbäumen lädt das Auto ein, eine Nacht unter Bäumen zu träumen. Der Pool ist geräumig und schimmert blau mit schwarzen Punkten. Ein paar Junikäfer haben den Freitod im Freibad gesucht.
Das Hotel ist verwinkelt, mehrstöckig und mit kühlen Terrazzoböden belegt. Großzügige Terrassen vor den Balkontüren präsentieren einen weitläufigen Blick über den See.
Die Empfangsdame spricht nur italienisch. Ich rücke mit den beiden wichtigsten Sätzen raus, die ich in drei Monaten Babbel gelernt und sogar behalten habe. Nämlich: “ich habe ein Zimmer reserviert” und “ich spreche kein Italienisch.” Sie honoriert das mit einem Lächeln und zügigen unverständlichen Erklärungen zu den Hotelsatzungen. “Grazie” sage ich so oft, wie ich es für erforderlich halte.
Später spazieren meine Herzdame und ich noch ein bisschen am Wasser entlang. Vor der Kirche findet irgend ein Event statt, das Polizia und Rettungskräfte erforderlich machen. Kurz dahinter befindet sich ein Eisladen, den wir interessanter finden. Das Eis ist wirklich köstlich und der Einkauf ist auch nicht so schwer. Wir suchen uns den Begriff für Kugel, Sorte und Waffel und die Verkäuferin versorgt uns im akzentuiertem Englisch mit dem Rest.
Der Gardasee ist ein Paradies für jede Altersgruppe. Familien mit Kindern spazieren hier herum und leben relativ preiswert auf dem Campingplatz am Wasser. Ältere Herrschaften flanieren den Uferstreifen herunter oder düsen mit Elektrorad von einem Ende zum anderen. Sportliche Menschen Joggen oder Rennradeln über den Radweg. Und auch für Hundebesitzer ist hier viel Freiraum. Selbst in den Restaurants können Leute mit Hund darauf setzen, dass es lecker frisches Wasser für die zum Teil kalbsgroßen Bellfelle gibt.
Wir nehmen in einem Terrassenrestaurant am Segelhafen Platz. Rings um uns spricht man Deutsch. Hinter mir sitzt ein Mann mit einem pflegeintensiven Spitzbart. Rechts neben uns platzieren sich zwei Blondinen, die Mutter und Tochter sein können. Dazu kommen später zwei stattliche Herren. Einer mit dunkel gefärbtem Toupet und ein junger Bursche von vielleicht 25 Jahren, zwei Meter groß und zwei Meter dick. Der gehört wohl zur jüngeren der beiden weiblichen Begleiterinnen, die selbst höchsten 168 groß ist und bestenfalls ein knappes Viertel des Riesenbabies ausmacht. Sie wischt ihm ein bisschen durchs verschwitzte Haar. Er zeigt ihr ein paar Videos auf dem Taschentelefon. Das Gespräch dreht sich darum, dass es besser ist, für die Pferdesachen eine eigene Pferdewaschmaschine zu nutzen. Das Leiden der Pferde in der Waschmaschine, verdränge ich mit der Ankunft der Pizza.
Sechs Kellnerinnen und eine Bardame schickt das Restaurant Abends ins Rennen. Eine der Damen ist etwas älter und ich halte sie für die Chefin, bis eine junge gertenschlanke Frau ihr einmal klar sagt, was sie zu tun hat. Alle versuchen die zögerlichen Italienischversuche bei der Essenbestellung zu ignorieren und reagieren gleich auf Deutsch. Der Einfluss des deutschen Touristen ist seit den Fünfziger Jahren so groß, dass sie hier in einer Gegend, die sich ohnehin zu Südtirol hingezogen fühlt, ihre italienische Kultur ein bisschen mehr hintenan stellen, als es gut tut. Der Norden des Sees gehört offiziell zu Trentino.
Das Gebiet ist also fest in Deutscher Hand und ich befürchte, die Einwohner haben ein deutliches Bild vom hässlichen Deutschen, zu dem ich mich, wenn ich das Publikum um mich herum betrachte, letztlich auch zählen muss.
Von der Dachterrasse aus, können wir noch eine Weile das Gewitter sehen, dass weit entfernt hinter dem See die Region um Moderna heimsucht und den Himmel färbt. Die Lichter der Orte an den Hängen rund um den See beginnen in der feuchten Abendluft zu flackern.
Nachts beginnt es zu regnen und morgens ist das gegenüberliegende Ufer nicht zu erkennen. Der Orleander hat seine Blüten verloren und über unser Auto verstreut. Das sieht jetzt aus, als würde es heute heiraten wollen. Nun, es ist gerade 18 Jahre geworden, da kann es ja selbst entscheiden.
Kleiner Halt mit nettem Hotel am Gardasee.
Der kleinkriminelle Aspekt beim Reisen durch Italien
Dem Italiener hängt das Klischee nach, ein bisschen kleinkriminell zu sein. Ein Ruf, den er sich mühsam und ehrlich erworben hat und den er kämpferisch pflegt. Mir begegnet diese ehrwürdige Tradition an der ersten Tankstelle, die ich in Italien anfahre. Die Spritpreise liegen in Italien zur Zeit an der Autobahn bei 2 Euro. Selfservice im Inland ist deshalb eine gute Möglichkeit zu sparen. 1,60 € soll der Tankspaß hier kosten. Ich besuche die nächste freie Zapfsäule in Toscolano, gleich am Morgen der Weiterreise. Mein Versuch, die Geldkarte als Zahlungsmittel zu verwenden, blockt der Computer, nachdem er sich meine Geheimzahl hat herausgeben lassen, ab, mit der Bemerkung: “Keine Verbindung”. Die zweite Möglichkeit, die mir das Gerät anbietet, ist einen gewissen Geldbetrag zu investieren und dann zu tanken. Da der Tank groß und schon gut geleert ist, denke ich, fünfzig Euro sind der angemessene Beitrag.
Den Fünfzig Euro-Schein nimmt der Apparat ohne weitere Nachfrage. Ich beginne zu Tanken. Bei 35 Euro bricht der Tankfüllstutzen seine Tätigkeit ab. Komplett voll ist der Tank allerdings noch lange nicht. Ich stelle mich naiv vor den Transaktionscomputer. Es gibt keine Wechselgeldklappe, wie ich bemerke. Dass er kein Wechselgeld zurück gibt steht aber auch nirgends. Jedenfalls nicht so, dass ich es lesen könnte. Mit der Quittung, die der Kasten ausspuckt, besuche ich das kleine Bistro auf dem Tankstellengelände. Die Kellnerin winkt ab, als sie meine Quittung sieht. Mit der Tankstelle habe sie nichts zu tun, meint sie.
Was bleibt mir übrig, als weiter zu fahren. Da ich Nichtraucher bin, besitze ich nicht mal ein Feuerzeug, um die Tankstelle abzufackeln.
Die Fahrt geht weiter durch kleine Orte mit attraktiven Häusern und mondänen Anwesen, deren Finanzierung sicher auch durch dumme Touristen an Zapfsäulen gesichert bleiben wird.
Viterbo
"Volare - Oooo-ho"
------------Domenico Modugno
"Viterbo- Oooo- no"
------------Ich
Warum Viterbo nie in einem Schlager von Caterina Valente auftauchte, wird mir sehr schnell klar, als ich in der mittelgroßen Stadt nördlich von Rom Zwischenhalt mache. Wörter wie “Drecksnest”” und “Lumpengesindel” sind nicht schlagerkompatibel.
Viterbo ist eine alte Stadt, das sieht man sogar den neueren Bauten an. Italien, das Land, in dem man in Jahrhunderte verfallende Ruinen alter Gemäuer aus Antike, Renaissance und Klassizismus gleichermaßen bewundern kann und dabei anzuerkennen vergisst, dass der Italiener auch knapp fünfzig Jahre alte Wohnhäuser in wesentlich kürzerer Zeit in den selben Zustand zu versetzen vermag.
Irgendwann haben die Päpste hier für ein paar Jahre ihr Quartier aufgeschlagen. In Rom war gerade nichts los. Außerdem lockte der Ort damit, den Päpsten, die hier gerne Konzile abhielten damit, ihnen einen netten Palast zu bauen. Wer kann da schon Nein sagen. Und weil jeder gern mal Papst in Viterbo sein wollte, gelangten in knapp dreißig Jahren gleich acht Päpste in den Genuß, in Viterbo zu residieren.

Dabei lag in dieser Zeit eine Phase von 1000 Tagen, in den kein Papst regierte, weil die anwesenden Bischöfe nicht wussten, wen sie wählen sollten. Erst nachdem die Bischofskonferenz die Kardinäle bei Wasser und Brot zu mehr Zügigkeit in der Wahl zwang, suchten sie schneller nach einem Mann, der das Amt bekommen sollte. Der war gerade nicht da, pilgerte im Heiligen Land herum und erfuhr erst nach seiner Rückkehr von seinem Glück.Nach dreißig Jahren zog es die Kardinäle und den Papst wieder nach Rom. So recht wollten sich wohl die Kirchenchefs nicht mehr mit dem viterbösen Menschenschlag vertragen. Die bekannteste Person Viterbos ist eine literarische. Vitus von Viterbo spielte eine zentrale Rolle als erzkatholischer Fiesling in der Geschichte um die Kinder des Grals von Peter Berling, ein Mittelalterzyklus von wahrlich epischen Ausmaß, brillant erzählt und fundiert recherchiert. Warum Berling den windigen Intriganten Vitus ausgerechnet aus Viterbo kommen ließ, ist mir nach Betrachtung der Stadt nicht mehr ganz unklar.
Ich rolle über ausgeschlagene Asphaltstraßen ins Zentrum des Ortes, der größer ist, als ich erwartet hatte. Unser Hotel steht am Bahnhof. Es ist ein riesiger Kasten, kantig, mit wasserstockigen Flecken am Putz und er besitzt die größte Mobilfunkantennensammlung, die ich mit der Ausnahme im Gelände einer Fremdenlegionsausbildungsstätte in Südfrankreich je gesehen habe.
Das Hotelpersonal ist zunächst freundlich. Eine ältere Rezeptionistin geht mit einer Auszubildenden die Einweisung des Gastes durch. Wir bekommen ein Zimmer im dritten Stock zugewiesen, dem einzigen Stockwerk, das aktuell vermietet zu sein scheint. Es sind eigentlich zwei Zimmer. Geräumig, jeweils ein Sofa und ein Schreibtisch mit Glasplatte. Die Sofas sind bereits etwas durchgesessen und ein paar notdürftig gereinigte Stellen, lassen auf aktiven Besuch schließen.
Das Bad ist geputzt, aber nicht rein. Kalkige Stellen an den Ausflüssen und Hähnen verweisen auch hier auf die Glanzzeit der Räumlichkeiten in der Vergangenheit. Der Klodeckel wird von einer Zierbinde aus Papier, mit dem Aufdruck: “Garantiert Hygienisch” geschmückt. Davon möchte ich gern Kopien anfertigen und auf die Autobahntoiletten an italienischen Raststätten anbringen, denen der Begriff Hygiene noch nie begegnet ist. Aber das Wort stammt ja auch aus dem Griechischen.
Die Geräusche der Stadt werden durch dichte Fenster gedämpft, wie ich bemerke, als ich eins kurz öffne. Die Fenster gefallen mir.
Die Viterboer Altstadt wird von einer alten Stadtmauer umgeben. Das Innern der Altstadt mit seinen Kirchen, alten Gebäuden, Tordurchfahrten und Gassen ist als verkehrsberuhigt ausgewiesen. Das heißt hier im Klartext, hier kacheln die Autos - SUV’s, Kleinwagen, Transporter nur im gemäßigten Tempo durch. Die Fußgänger dürfen deshalb trotzdem nicht mit allzu viel Rücksicht rechnen. Man bremst zwar, wenn es eng wird, aber man hält nicht. Autohupen sind ein deutliches Indiz für ein Tempo in der Stadt, das man sich wünscht, aber nicht überall bekommt.
Ruhig ist es nur in den Kirchen. Mittelgroße Gebrauchskirchen, in denen sich viel Gemeindeleben abspielt. Das Gebet und die Beichte spielen hier noch eine funktionale Rolle im Leben der Menschen.

Im alten Papstpalast sind Floristinnen gerade dabei das ganze Kirchenschiff mit frischen Blumen auszuschmücken: Am morgigen Samstag wird geheiratet. Und diese Zeremonie nehmen die Leute hier noch richtig ernst.
In einer anderen Kirche liegt die Heilige Rosa aufgebahrt. Das Mädchen ist knapp 19-jährig Mitte des 13. Jahrhunderts gestorben und befindet sich in einem Stadium der Mumifizierung, bei dem es sich auch heute noch lohnt, mittels Röntgenuntersuchung zu erforschen, ob sich in ihren Inneren Organen noch Spuren von Restblähungen finden lassen. Rosa hat ein paar Wunder verrichtet. Das sicher nachhaltigste Wunder soll gewesen sein, Brot in Rosen zu verwandeln. Bei der schlichten Nahrungsmittelversorgung im frühen Mittelalter, wird man angesichts solcher Tat bestimmt vor Vergnügen hintenüber gekippt sein.
Das öffentliche Erscheinungsbild in Viterbo steckt voller Widersprüche.
Hier in Viterbo machen sich die Leute durchaus schick, bevor sie sich mit einem Eis neben eine überlaufende Mülltonne setzen. Sie betreiben hier schicke Läden mit Handytaschen im Erdgeschoß von alten Bürgerhäusern, von deren Fassaden der Putz bröckelt. Eine H&M-Filiale fällt sofort ins Auge, weil sie den alten Bau, in den sie sich eingewanzt hat, ziemlich verloren aussehen lässt. Läden für teure Designerklamotten ducken sich in alten Gemäuern, an deren Wänden Papieranzeigen erst kürzlich Verstorbener kleben.
Die Gassen und kleinen Sträßchen wirken ungepflegt. Der Steinboden fleckig und speckig. Papier und Plasteteile lungern herum und versuchen den Fußgänger ins Bein zu beißen.
Ich kenne Orte in Frankreich, die ähnlich strukturiert sind. Altstadtgassen mit modernem Einzelhandel. Allerdings habe ich dort nie so viel Müll gesehen und schon gar nicht so viel Gleichgültigkeit im Erscheinungsbild des Städtchens. Was mir in Frankreich charmant und pittoresk vorkommt, wirkt hier ranzig und schäbig. Auch da ist nicht alles sauber. Die Ranzigkeit französischer Orte wirkt im Gegensatz zu Viterbo liebevoll gepflegt.
Greifen hier wieder einmal nur die eigenen Vorurteile? Ich reise nicht nur, um mal aus Berlin rauszukommen, sondern auch um die mitgebrachten Klischees und Vorurteile zu überprüfen und sie gegebenenfalls abzulegen. Bedauerlich finde ich es immer dann, wenn diese bestätigt werden.
Schauen wir uns also mal in anderer Weise um, weniger fixiert auf das eigene Urteil. Offener für andere Lebensgewohnheiten.

An einem Platz gackern ein paar blonde Finninen herum, die sich mit ausladenden Sonnenhüten in ein Straßencafé setzen. Bei einigen hat die südliche Sonne bereits gute Arbeit geleistet. Natürlich sind sie froh über die Sonne, von der sie ja eigentlich im Sommer viel mehr haben, als die Südländer. Immerhin geht sie dort stellenweise gar nicht erst unter. Dafür ist dort am Nordpol natürlich für ein halbes Jahr das Licht weg. Wenige Meter weiter beobachte ein junger Mann in einer Gasse, der in Sichtweite von Spaziergängern an eine Häuserwand uriniert. Auf einem kleinen Platz bewacht die Polizei eine gerade im Aufbau befindliche Veranstaltung einer Partei, die die aktuelle Bürgermeisterwahl in Viterbo lautstark beeinflussen möchte. Ob sie liberal, links, demokratisch oder rechtsgerichtet ist kann ich nicht erkennen. Angesichts der enormen zahl an rechtskonservativen und nationalistischen Parteien hier im Land wäre eine Wette darauf aber ein kalkulierbares Risiko. Ein Mann versucht uns mit einem Werbezettel zu einer Stadtführung verurteilen. Wir lehnen dankend ab und schauen auf einen Stadtplan. Als wir uns wieder umdrehen, versucht es der selbe Typ noch einmal. Wir befinden uns an der Piazza della Morte. Ich will genauso wenig einen italienischen Führer, wie ich einen deutschen will. Mir reichen die eigenen Vorurteile.
Das Eis aus einer kleinen Eisdiele ist sehr schmackhaft. Es ist bereits das zweite Eis in Italien und bisher haben sie in dieser Hinsicht noch nichts falsch gemacht. Wir sitzen auf einer Eisenbank vor dem Geschäft und schauen hinüber zu einem Laden, der allerhand nutzlosen Tinnef vertreibt. Plasterevolver, Handytaschen, etc. Da dafür gerade kein Bedarf herrscht, sitzen die beiden tätowierten Vollbart tragenden Verkäufer vor dem Eingang und spielen wahlweise mit dem Taschentelefon oder ihren Muskeln, grüßen Vorbeigehende und schäkern mit Mädels. Eine der jungen Damen, die sich anschäkern lässt ist extrem gut gebaut und befindet sich in einem Dress, der ganz offensichtlich absichtlich eine Nummer zu klein gewählt wurde. Ich habe Schwierigkeiten, meinen Blick auf das Türschild gegenüber der Eisdiele zu fixieren. Ein Psychotherapeut arbeitet da, wie ich beiläufig lese.
Der Hunger, der trotz Eis allmählich aufkommt, kann noch nicht gestillt werden. Die meisten Restaurants öffnen erst gegen sieben oder acht Uhr abends.
Also wandern wir zunächst zurück zum Hotel, vorbei am Bahnhofsvorplatz, auf dem um diese Zeit mehrere deutlichst als afrikanische Einwanderer zu erkennende afrikanische Einwander stehen, die alle teilnahmslos in den Himmel gucken und manchmal beiläufig Passanten ansprechen. Ein Polizeiauto steht in der Nähe. Einer der Polizisten guckt in sein Telefon, ein anderer steht breitbeinig herum und tut so, als wäre er für aggressiv Herumlungernde eine Bedrohung. In klischeehafter Spießermanie greife ich schützend auf mein Portemonnaie.
Als wir einige Zeit später wieder an dieser Stelle entlang kommen, um in der Innenstadt doch noch ein geöffnetes Restaurant zu finden, stehen die selben Leute immer noch herum und versuchen so auffällig wie möglich unauffällig auszusehen. Die Polizei ist inzwischen abgezogen. Wir entdecken eine größerer Schar ausgelassener Uniformierter vor einer Pizzeria, wo sie lautstark etwas zu feiern haben.
Für uns findet sich ein sardisches Restaurant in einer Seitengasse nahe der Piazza della Morte. Neben der Tür präsentieren sich wieder zahllose teure Tote auf schulheftgroßen Anschlägen. Es ist im Stil eines Kellergewölbes eingerichtet und gut besucht. Bei der Essensbestellung tun wir uns mangels Sprachkenntnissen etwas schwer und bestellen drauflos, ohne zu wissen was Was ist. Die Bedienung erscheint im Doppelpack am Tisch, weil sie der Zeit ihr Bestellkonzept revolutionieren und auf Tablet umstellen. E-Tablet, nicht Serviertablett. Das klappt schon recht gut, muss aber noch vom zweiten Servicepersonalbeisteher kontrolliert werden. In einer der Kellnerinnen erkenne ich die junge Frau im zu engen Dress, auf die ich bereits am Nachmittag vor der Eisdiele mit heraushängender Zunge gestarrt habe. (Das Eis war aber auch wirklich lecker.) Man muss im Restaurant auch was fürs Auge präsentieren. Das graue Fleisch auf meinem Teller schmeckt zwar halbwegs, ist aber bei Weitem kein Hingucker.
Zurück im Hotel bleiben die Fenster zu. Das Viterböse Nachtleben ist laut. Es wird gerufen, diskutiert und mit Rollern gefahren. Die Liebe zum Zweitakter ist auch hier deutlich ausgeprägt.
Das Frühstück im Hotel kann ich nicht weiter empfehlen. Der Kaffee köchelt auf Dauerflamme in einer Großküchenkanne vor sich hin. Der Rest ist lieblos zusammengetragen. Verpennt räumt eine Kellnerin mit dem Gesichtsausdruck einer schlecht bezahlten Serviceangestellten leeres Geschirr weg.
Der Portier an der Rezeption, dem ich meinen Zahlungswunsch offeriere - ebenfalls eine schwer erlernte Floskel auf Italienisch - guckt nur kurz und bellt: “Numero della Camera”. Die dreistellige Zahl kann ich nicht aussprechen. Ich halte den Schlüssel hoch.
Auf dem Parkplatz stelle ich erleichtert fest, dass unser Auto noch alle vier Räder besitzt. Ich will hier weg und fahre prompt verkehrt in eine Einbahnstraße. Hupen, Kopfschütteln und beschämtes Wenden meinerseits bringen mich aber schließlich auf die Autobahn Richtung Napoli.
Trotzdem mir kein Viterborianer irgendetwas getan hat, ist Viterbo keine Stadt, die ich dringend ein zweites Mal sehen muss.

Angekomen an der Amalfiküste
Albori


Unsere Unterkunft liegt relativ weit oben am Berg in Albori, eines der Pui belle Dörfer von Italien. Dreihundert Meter Wanderweg müssen wir laufen, bevor wir überhaupt im Ort sind. Dann nochmal eineinhalb Kilometer bis in den Nachbarort Raito hinab, in dem es Fahrkarten, Brot und Obst gibt, wenn die kleinen Läden geneigt sind, offen zu haben, was morgens ist und dann noch mal am späteren Nachmittag - allerdings nicht am Montag. Ich bin am Montag morgen unterwegs, fahre mit dem Fahrrad die rasante Abfahrt ins Dorf hinab. Im Bäckerlädchen gibt es noch drei süße Kekse, sonst liegt auf den Blechen noch etwas herabgestreuselter Zucker und eine Zange. Der Obstladen hat kein Brot und das Alimentarilädchen, der hiesige Tante Emma Laden hat montagmorgens zu. Also fahre ich ohne Brot und ohne Frühstück wieder hoch um Haus, was angesichts der Steigung von manchmal 13% schweißtreibend und nicht sehr erquicklich ist. Oben, am Parkplatz, auf dem unser Auto steht, gibt es einen kleinen Brunnen, der frisches Trinkwasser ausspuckt. Neben dem Brunnen wurde eine kleine Tonkachel in den Boden eingelassen, auf der steht, wer diesen Brunnen gestiftet und aufgebaut hat. Es ist die Radsportgemeinschaft Fausto Coppi e.V., die hier für Glanztaten sorgte. Auch die nahe gelegene Bushaltestelle neben der Bruscheteria ist von Fausto Coppis Jüngern gestaltet worden. Für die weniger Radsportbegeisterten sei erwähnt, dass Fausto Coppi einer der erfolgreichste Radrennfahrer der Geschichte ist. Fünfmal gewann er den Giro d’Italia, dreimal die Tour de France. Drei Mal wurde er Weltmeister. Neben Gino Bartali gehört er zu den großen Helden der italienischen Radsportgeschichte.
Das Haus ist klein, in dem wir wohnen. Doch es reicht für zwei Personen. Eine winzige Küche, Wohnstube mit Tisch und Schlafzimmer mit Bad. Rund um das Haus ist eine gepflasterte Terrasse. Holzgeländer verhindern den Absturz in das tiefer liegenden Nachbargrundstück. Wie alle Häuser, Gärten und Grundstücke ist auch dieses an den Berg geklebt worden, obwohl das bei diesen Hängen physikalisch eigentlich nicht möglich ist. Über unserem Haus führt der Wanderweg entlang, der auch gern von kleinen Motorrädern mit Ladefläche frequentiert wird. Darüber befindet sich ein Weinberg. Der Besitzer pflegt ihn intensiv. Morgens schreddert er überflüssiges Laub und Gewächs mit einer Motorsense vom Gesträuch, das dabei in alle Richtungen schleudert, auch auf das mit Bambusrohr gedeckte Dach unserer Terrasse. Da kennt Freddi nix. Außer Freddi belästigen uns noch Mücken auf der Terrasse. Und die verstehen ihr Handwerk. Aber Holla. Wahrscheinlich ist der Abfluss der Außendusche ein angenehmer Brutplatz für die Mistviecher.

Weniger lästig, als vielmehr wunderschön ist die Menge an weniger bissigen Insekten und Reptilien auf der Terrasse. Zahlreiche Geckos turnen auf den Geländern herum oder sitzen wie Gummidinos im Spielzimmer eines Fünfjährigen auf dem Fußboden. Nur dass man sie weder umschubsen noch zwischen zwei Finger einklemmen und mit einem lauten “Buuoooaarrrch” auf den Hamster loslassen kann.
Vor der Terrasse hat sich ein kleiner Forst aus Feigenbäumen und lindenähnlichen Bäumen aufgetürmt. Die Sicht zum Meer ist dadurch verstellt. Aber am Rand des Grundstückes, von einer Wiese aus, sehen wir das Tal steil abfallen und dahinter das blaue Wasser des Golfes von Salerno.
Fernsehen gibt es auch. Allerdings nur italienische Kanäle und die auch noch mit schlechtem Empfang. Das erspart uns die Fußball-WM des Jahres 2018, die gerade stattfindet. Großes Public Viewing wird es hier in Italien auch nicht geben, da sich der einstige Weltmeister von 2006 in diesem Jahr gar nicht erst qualifiziert hat. Also dieses Jahr kein lautes “Azzurro” im Geiste Paolo Contes.

Gewitter über Salerno
Neapel
Derzeit ist der Vesuv der sauberste Ort im Großraum Neapel. Der dampft nicht (auf dem Bild sind es Wolken).
Neapel sehen und ...
Wer immer den Satz “Neapel, sehen und sterben” geprägt hat, er muss einen guten Grund gehabt haben. Nur welchen? Die Klassiker, Romantiker, Dichter und Romanciers schwärmten von der Schönen am Golf. Das muss ein völlig anderes Neapel gewesen sein, als das, was sich uns heute präsentiert.
Das gut ausgebaute Nahverkehrsnetz in der Großraumregion Neapel, bringt uns von Vietri sul Mare innerhalb einer knappen Stunde in die Metropole. Es gibt verschiedene Züge, die hier eingesetzt werden. Eine moderne, gut klimatisierte S-Bahn, in der ein junges Mädchen in der Uniform der Firma Dussmann-Reinigungsservice von einem Ende des Zuges zum anderen schreitet und bei alle freien Sitzbänken mit Sprühflasche und Tuch die Armlehnen putzt, ist die eine Form. Die lernten wir bei der Fahrt nach Pompeji kennen. Die andere Sorte ist eher die dritte Klasse. Wagons mit spärlich aufgestellten Blechsitzen, die verschiedene Stufen der Farbgebung offerieren, sind dabei im Einsatz. Die Klimatisierung erfolgt hier in der Regel in der Kombination von übersteuertem Kühlsystem und weit aufgerissenen Fenstern. Ich bin nicht der einzige im Zug, der hustet.
Ein französisch sprechendes Pärchen setzt sich uns gegenüber. In Pompeji steigen sie aus. Die Welt will Ruinen sehen. Wir fahren weiter nach Neapel. So wie sich die Stadt von der Bahnstrecke her präsentiert, gibt es auch dort genug davon. Die Vororte wirken so trist, wie viele Orte, in denen die Balkone direkt auf die Bahn zeigen. Das Gleisbett ist ein einziges Müllsammellager, da die Bewohner ihren Müll offensichtlich direkt aus dem Fenster werfen. An den Bahnstationen flattern in Müllständern unbenutzte Mülltüten im Wind, als wüsste niemand etwas damit anzufangen. Die Häuserfronten sind nur zum Teil verputzt, Kabel führen wahllos zwischen den Fassaden entlang und von Dach zu Dach. Wir fahren durch Torre del Grecco, eines der berüchtigten Problemgebiete der Stadt, wo die größten Clans Neapels das Leben der Menschen kontrollieren, Drogenlabore ungestört arbeiten können. Die Polizei Neapels wird in diesem Ort als eine Art Mythos angesehen, von dem jeder schon mal gehört hat. Trotzdem wagt sie sich manchmal in den neapolitaninschen Vorort und nahm vor einiger Zeit hier einen der berüchtigsten Camorrachafs fest: Adriano Manca – im Schlafanzug.
Wende ich den Blick nach links durch das andere Fenster des Zuges, kann ich über den ganzen Golf von Neapel sehen, nach Sorrento und nach Capri. Das Meer schimmert blau und sauber, nur die Uferregion wirkt ungepflegt. Neben einer Ansammlung von blauen Fässern, in denen man gern Altöl lagert, spielen Kinder auf einem kleinen Felsen. Ein Mann versucht, ein Sonnensegel aufzustellen. Ein anderer angelt.
Der Zug wird voller. Ein dicker Herr liest Zeitung, ein drahtiger Südländer korrigiert Zeichnungen. Junge Frauen kommen geschminkt und hochhackig durch den Wagon gestelzt. Das Telefonini, die hiesige Bezeichnung des Taschentelefons blinkt in beinahe jeder Hand. Schnatternde Gespräche, Selfies, soziale Kontakte mit Daumen und Zeigefinger.
Allmählich nähern wir uns der Innenstadt. Links der Bahnstrecke jonglieren Kräne mit großen Verladecontainern. Rechts ragt der Vesuv still und friedlich in die Höhe, bebaut mit Häusern bis auf die halbe Höhe des Kegels. Bauland ist hier billig und wer hier wohnt, hat einen wunderschönen unverbauten Blick über den Golf. Das Risiko eines Vulkanausbruches ist hier so hoch wie sonst nirgends in Europa. Zwar schläft der Bursche seit 1944, doch ist er nicht tot. Vulkanologen rechnen jedes Jahr mit seinem Erwachen und warnen zu gleich vor dem gewaltigen, nicht eben ruhigen Supervulkan, auf dem sich der halbe Golf von Neapel befindet.
Der Zug endet an der Station Neapel-Garibaldi. Dem umtriebigen Revolutionär und Kriegshelden hat man in Italien an vielen Orten ein Denkmal gesetzt. In Neapel schmückt eine riesige Statue den nach ihm benannten Platz. Die Piazza Garibaldi ist eine enorm große gepflasterte Freifläche, unter der sich der Bahnhof und ein Einkaufszentrum befinden. Auf dem Platz selbst befindet sich nichts, außer ein paar Werbeaufstellern, ein paar Bauzäune und ein paar in den Boden eingelassene Gitterroste, durch die man die Lüftungsanlagen der Einkaufspassage bewundern kann. Der Platz, der viel Raum für frische Luft bieten könnte, weil der Wind freie Bahn hat, stinkt nach Urin. Kleine Seen aus Pisse dampfen in der brütenden Sonne. Dicht an ihren Ufern liegen Obdachlose reglos auf dem Pflaster, hoffnungslos genug, um nicht mal den Versuch zu unternehmen, zu betteln. Mehr als einmal lässt der Geruch in mir Würgereize aufkommen. Es vergeht eine ganze Weile, bis wir schließlich den Platz überschritten und unter den Augen Garibaldis versuchen, unbeschadet eine Straße zu überqueren. Es gibt Ampeln. Grün für Fußgänger bedeutet nur, dass bei einem Unfall der Fußgänger nicht schuld ist. Autos halten nur kurz oder verringern die Geschwindigkeit, Mopeds brettern einfach weiter, die Fußgänger umkurvend.
Noch nie hegte ich den Wunsch, eine Stadt in dem Moment zu verlassen, in dem ich sie betrat.
Wir tauchen in ein Gewirr aus Gassen ein, in der Hoffnung in einer Fußgängerzone vom Verkehr wegzukommen. Motorroller kreisen auch hier herum. Am Rand der Gasse befindet sich ein Taschenverkäufer neben dem nächsten. Der Bedarf an Ersatz scheint hier größer zu sein, als anderswo. Wir halten unsere Handtaschen fest. Hinter einer weiteren Gasse öffnet sich ein Markt. Obst, Gemüse, Telefone, Software, Taschen und Gürtel. Ein Obsthändler kippt sich einen Kaffee aus einem Plastebecher in den Hals. Dann zerknüllt er den Becher und schmeißt ihn unter den Verkaufsstand des Nachbarn. Gleich daneben bietet ein Verkäufer frische Fische an. Die sind noch feucht und liegen auf dem Holz des Tisches. Gerade gefangen, verderben sie hier ungekühlt in der Sonne, die kaum erstarrten Augen bereits voller Fliegen. Wir verlassen den Markt und gehen eine schattige Gasse hinab. Die Häuser haben fünf bis sechs Stockwerke. Rostige Balkone sind mit trocknender Wäsche behängt. Vor den Häuserfassaden drängt sich Müll in die Nischen. Das alte Pflaster aus großen schwarzen Quadern gibt bei jedem Schritt mit einem klebrigen Geräusch die Schuhsohlen frei.
Von der Gasse aus gelangen wir auf eine breite Straße, die am Hafengelände entlang führt. Ich müsste mal dringend aufs Klo und überlege ernsthaft, ob es hier irgend wen stört, an die Häuserwand zu pinkeln. Kleine Bäume stehen am Straßenrand. Wäre auch eine Lösung und doch auch wieder keine, denn unter jedem Baum hat ein Obdachloser ein Lager aufgeschlagen und fleckige Matratzen liegen im dürftigen Schatten.
Ein kleiner Einkaufsmarkt bietet Rettung. Ich sehe ein Schild mit dem WC-Hinweis. Das Klo soll sich im ersten Stock dieser Einkaufspassage befinden. Sofort werde ich von einer Verkäuferin angehalten. Sie versucht, mir den Rucksack abzunehmen. Ich händige ihn ihr widerwillig aus. Sie befördert ihn in einen Sack aus Netzmaterial, den sie elektrisch versiegelt. Dann kann ich mit meinem Rucksack ins Einkaufszentrum, ohne an den Inhalt meiner Tasche zu kommen. Fürs Klo händigt sie mir einen Metallcoin aus. Ich muss durch die Wein- und die Süßwarenabteilung, bevor ich endlich am hintersten Ende das WC finde. Eine Weile rätsele ich, wie ich die Tür aufbekommen soll. Mittels des Coins gelingt es mir schließlich und ich kann mich befreien. Das war ja jetzt keine große Hürde für mich als Mann, aber was, wenn man in seiner Tasche einen wichtigen Hygieneartikel zu stecken hat, den man als Frau in diesem Moment benötigt? Kann sein, dass das Konzept nicht besonders gut durchdacht ist?
Die Tasche muss ich an der Information selbstständig elektronisch entkorken. Die anwesende Mitarbeiterin telefoniert gerade und hat für mich keinen Blick übrig.
Wieder in der Mittagshitze fällt mir erneut der viele Müll auf. Es heißt ja, die italienische Mafia hat hier in Neapel die Müllsituation fest im Griff. Schuld haben dabei wohl vor allem die städtischen Behörden. Aber was ich hier sehe, lässt mich zweifeln. Es stehen an dieser Straße eine ganze Anzahl sehr großer Müllbehälter, die nur gering befüllt sind. Der Müll türmt sich um diese Behälter herum. Wieder scheint niemand den Leuten die Benutzung erklärt zu haben oder die Benutzung steht unter Strafe. Man kann der Camorra ja vieles vorwerfen. Aber bestimmt nicht, dass die Mafia dran Schuld ist, wenn die Leute selbst zu blöd sind, ihren Müll in die vorgesehenen Behälter zu tun.
Unsere Idee, mit einer Stadtrundfahrt zu sehen wo Neapel am schönsten ist, löst sich allmählich auf. Wir ahnen auch schon, wo Neapel Spaß machen kann: auf einer Fähre, mit der man der Stadt den Rücken kehren kann.
Auf der anderen Straßenseite sehe ich das Büro einer Fährgesellschaft. Die scheint für größere Fährtransporte nach Sardinien, Capri und Ischia zuständig zu sein. Wir wollen aber nach Sorrento, auf der anderen Seite des Golfes. Auf meiner Karte ist ein Fährableger im Hafenbecken eingezeichnet, das sich irgendwo hinter diesem Büro versteckt hält. Ich trete in den kühlen Raum und grüße höflich. Zunächst nimmt keiner der beiden Angestellten von mir Notiz. Ein junger Mann telefoniert. Eine nicht mehr ganz so junge Frau schaut abwesend auf ihren Schreibtisch und tut … nichts. Ich hüstele verlegen. Mit genervtem Ausdruck blickt sie auf und bellt “Prego”. Da mein italienisch hier versagt und ich mich in den Räumen einer international tätigen Fährgesellschaft befinde, in einer der größten Metropolen Italiens, denke ich, dass ich ohne weiteres Englisch reden kann und frage immer noch höflich, ob sie mir wohl sagen kann, wo sich der Fähranleger in Richtung Sorrento befindet.
“I dont know” gibt sie höchst zickig und barsch wieder. “There is no Ferry to Sorrent. I dont know from Ferry to Sorrent”. Jetzt platzt mir doch ein bisschen der Kragen. Und ich frage sie, ob sie noch nie von Sorrent gehört habe? Sie arbeite schließlich in Neapel und in einer Fährgesellschaft und der Ort liege nur knapp vierzig Minuten mit dem Boot entfernt an der Küste und ich habe doch nur eine Frage gestellt. “Go out and look left, Arrividerci” blökt sie und fixiert wieder ihre Schreibtischplatte. »Vielen Dank, Teuerste«, denke ich. »Es war mir ein inneres Blumenpflücken«. Meine allgemein gültige Lebensmethode: »Benimm dich nicht wie ein Arschloch, dann wirst du auch nicht wie eins behandelt« scheint hier wieder einmal ins Leere zu laufen.
Ich gehe raus und weiß genauso viel, wie zuvor, nur weiß ich auch, dass ich gerade von links gekommen bin und sich der Fähranleger irgendwo rechts befinden muss. Tatsächlich findet sich einige Meter weiter ein Ticketpoint für Fähren zu allen Orten der näheren Küste. Capri, Ischia und auch Sorrent. Der junge Mann im Ticketshop verkauft mir auch sofort zwei Tickets, gibt mir Uhrzeit und Ort der Abfahrt bekannt und bedankt sich dafür, dass ich bei ihm ein Ticket gekauft habe. Und viel Spaß in Sorrento. Ich verabschiede mich mit allen drei italienischen Vokabeln, die ich für solche Zwecke gelernt habe: Mille grazie und Arrivederci. Höchst nett und zuvorkommend, der junge Mann, ganz im Gegensatz zu der Erfahrung fünf Minuten zuvor. Was haben diese italienischen Frauen bloß für ein Problem?
Da noch etwas Zeit bleibt, spazieren wir die belebte Straße unterhalb des Kastells entlang. Die Wände der Trutzburg haben Schimmelflecken. Der Fußweg ist schmal und wird von großen Blumenhecken beansprucht. Man muss ständig auf die Straße ausweichen und wieder auf den Weg hochspringen, bevor der nächste Laster einen erwischt. Am Rande wächst ein Affenbrotbaum aus einem umgekippten und zerstörten Blumenkasten aus Beton.
Ein kleiner grüner Park befindet sich hinter einer Segelmarina. Eine junge Frau müht sich auf den Rand eines Brunnes, um sich fotografieren zu lasse. Ich fotografiere den Inhalt des trockenen Brunnens: Neapels Lieblingszierden - jede erdenkliche Sorte von Müll. An der Marina befindet sich ein Restaurant. Wir kommen aber leider nicht bis hin, denn an einem Tor steht, dass das Betreten für Nichtmitglieder des dänischen Segelvereins verboten ist.
Zurück am Fähranleger warten wir auf das Schiff nach Sorrento, dass dann auch endlich ablegt. Die italienische Fahne am Heck flattert in Fetzen hängend im Wind. Langsam verschwindet Neapel hinter uns. Mit jedem Meter Wasser zwischen uns und dem Ufer, wird die Stadt schöner. Aber das ist nur eine Illusion. Neapel sehen und Sterben? Neapel nicht sehen und gemütlich weiterleben, ist da die bessere Empfehlung. Neapel ist mit Abstand die schäbigste und unhöflichste Stadt, in die ich je ein Fuß gesetzt habe. Stinkend, dreckig und all dem gegenüber gleichgültig. Und über dem ganzen Chaos thront friedlich der Vesuv und schaut milde herab. Wie kann der Bursche nur so ruhig bleiben.
Neapolitaner Ehre
Geräuschlos gulpert in der Ferne der weiße Rauch aus dem Schlot des Vesuvs. Neapel, die schmuddelige Schöne am Golf von ... ja eben, Neapel, liegt in gammeliger Siestaträgheit in der mediterranen Mittagssonne. Ein kleines Segelboot dümpelt im brackigen Wasser eines aufgegebenen Hafenbeckens.
Aus den alten nach feuchtem Putz riechenden Häusern am Ufer ist kaum ein Geräusch zu hören. Ein paar Teller klappern im Abwasch. Eine Frauenstimme summt leise. Sonst scheint keiner wach zu sein.
Doch der Eindruck täuscht. Im ersten Hinterhof, direkt neben der Einfahrt lauert Luigi, ein Mitglied einer ehrenwerten neapolitanischen Familie im Schatten einer rostigen Vespa auf sein Opfer. Luigi arbeitet pedantisch und gut vorbereitet. Er ist nicht nur schwer bewaffnet, sondern, da er nicht weiß, wie lange er auf sein Opfer warten muss, auch ausreichend bewaffelt. Seine Familie beherrscht den Markt für Neapolitanische Waffeln. Luigi, hat von seiner Großmutter ein Lunchpaket mitbekommen, in dem sich eine Großpackung dieser köstlichen süßen Waffeln befindet. Luigi würde zunächst eine halbe Stunde warten, bevor er sich die erste Waffel gönnen würde.
Sein Opfer, Fabrizio, sitzt auf der anderen Seite der Hofeinfahrt auf einer Kellertreppe. Sein Auftrag lautet, Luigi auszuschalten, denn seine Familie möchte gern den Markt für Neapolitanische Waffeln kontrollieren. Fabrizio hält nichts vom Essen während der Arbeitszeit.
Luigi betrachtet das stetige Voranschreiten des Sekundenzeigers seiner Zannettiuhr. Plötzlich merkt er, wie sein Magen zu gurgeln anfängt.
Ob nun dreißig Minuten oder zwanzig, was spielt das für eine Rolle, denkt er. Leise zieht er seine Waffel aus der Sakkotasche. Der trockene Geruch nach gebackenem Keks dringt ihm in die Nase. Genüsslich beißt er hinein. Es knistert zwischen seinen Zähnen. Keine Sekunde später trifft ihn die Kugel aus Fabrizios Waffe. Der Biss in die knackende Waffel hatte ihn verraten.
"Luigi" ruft Fabrizio triumphierend. "Arrogante und verfressen. Ha. Jetzt haset du entegültig in die lätzte Waffel gebisse." Er dankte der Jungfrau Maria, den Drang, das Lunchpaket seiner Großmutter doch einzupacken widerstanden zu haben.
Der oberste Patron und zu dem oberster Kassierer aller ehrenwerten Familien des Landes, hatte sich gerade wieder einmal zum Regierungschef wählen lassen. Bereits mehrfach wurde ihm zugetragen, dass die berühmte Familienwaffel aus Neapel, das traditionelle Begleitgebäck für Schulpausen und spezielle Reinigungsaufträge, zu bedauerlichen Betriebsunfällen führte. Sein Vorschlag, die Neapolitaner Waffel aus den Brotbüchsen der Profikiller zu verbannen, hätte ihm beinahe selbst einen Killer an den Hals gebracht.
"Du kommst hierher, in mein Haus, das dich immer gut empfangen hat und machst mir solche Vorschläge. Willst du die gute alte Tradition zerstören, die in unseren ehrbaren Familien seit Generationen bewahrt und gepflegt wird. Mein Großvater ist mit einer Waffel im Mund gestorben, mein Onkel hat in die Waffel gebissen. Ohne die Waffel der Familie, du bist kein richtiger Neapolitaner."
"Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, dass ihr Euch nicht bei jeder Pausenversorgung gegenseitig über den Haufen schießt."
Die guten Beziehungen und guten Süßigkeiten sehr wohlwollend gegenüberstehende deutsche Kanzlerin, bringt ihn am Rande eines gemeinsam besuchten Fußballspiels auf eine Idee. Die Kanzlerin zieht eine kleine quadratische Tafel Schokolade aus ihrem orangefarbenen Sakko.
"Mensch, Silvio" denkt er. "Das issis."
Er empfiehlt einer renommierten deutschen Schokoladenfirma eine Zusammenarbeit mit der ehrenwerten neapolitanischen Familie, zu der auch Luigi zählte. Der Familie, die den Markt für die berühmte Neapolitaner Waffel kontrolliert.
Die renommierte deutsche Schokoladenfirma befördert seine neueste Kreation auch sofort erfolgreich zur Sorte des Jahres. Die renommierte deutsche Schokoladenfirma, der deutsche Außenhandelsminister, Italiens Regierungschef und eine kleine ehrenwerte neapolitanische Familie sind zufrieden.
Während weißer Rauch aus dem Schlot des Vesuv gulpert und über den immer noch nicht abtransportierten Müllbergen auf den Straßen Neapels die Fliegen lieblich das Lied von den Caprifischern summen, sitzt Dietmund Corleone, der in Deutschland aufgewachsene Cousin Luigis, auf dem Hinterhof eines nach feuchtem Putz riechenden Hauses im Schatten einer rostigen Vespa und wartet auf sein Opfer: Fabrizio. Die Familie möchte, dass Luigi gerächt wird. Das Lunchpaket hat er zu Hause gelassen. Es begleitet ihn nur eine Tafel Neapolitaner Waffel im Schokoladenmantel. Deutsche Herstellung. Sicher ist sicher. Und sicher würde sich sein Opfer bald zeigen. Doch noch scheint etwas Zeit zu bleiben.
Leise zieht Dietmund Corleone die Tafel Schokolade aus der Tasche und öffnet den patentierten Schokoladenverschluss.
Knick.
"Verdammt."
***
Grundlage der Schokoladensorte mit der Neapolitaner Waffel im Schokoladenmantel, war die bereits öfter genutzte Idee Kekse in Schokolade zu tauchen, also eine Jackentaschenkompatible Variante eines "Kalten Hundes" herzustellen.
Die bei in dieser Geschichte verwendete Waffel ist die Neapolitaner Waffel.
Sie besteht aus drei Waffelblätterschichten, die durch zwei Schichten Haselnusscreme voneinander getrennt werden. Diese Waffel ist leicht, köstlich und bekannt dafür sehr üppig zu krümeln. Der neapolitanische Namensbezug verweist dabei nicht auf den Erfindungsort der Waffel, sondern nur auf den Fakt, dass die beste Haselnuss die man für diese Waffel verwendete, unweit Neapels an den Hängen des Vesuvs heranreifte.
Die Haselnussschnitte selbst ist eine Erfindung Österreichs. Sie wurde 1898 von Josef Manner erfunden und hieß ursprünglich Mannerschnitte. In Neapel selbst spielt diese Waffel keine besonders hervorgehobene Rolle. Weder im Einzelhandel, noch in der Pausenversorgung der Camorra. Und weder Luigi, noch Dietmund Corleone und auch Fabrizio kamen bei der Herstellung der Waffel und der kleinen Geschichte zu Schaden. Sie und ihr Zahnarzt erfreuen sich bester Gesundheit und zufriedenster Laune.
Die Schokoladensorte “Neapolitaner Waffel” war 2008 Sorte des Jahres bei einer renommierten deutschen Schokoladenfirma. 2010 wurde die Produktion leider eingestellt. Ob das an der Variationslust des Herstellers, Lizenzproblemen des Waffelhändlers oder am Einfluss gewisser Familien dem befreundeten EU-Land lag, ist dem Autor nicht bekannt.
Amalfi
Das Herz der Küste

Wir wollen nach Amalfi, dem Ort, der dieser Küste den Namen und das Gesicht gibt. Das wollen wir mit dem Bus versuchen, denn vom Autofahren auf der Amalfitana, der berühmten Küstenstraße rät uns jeder Reiseführer ab. Von Raito aus, dem Bergort, der unterhalb unserer Unterkunft im noch kleineren Örtchen Albori liegt, verkehrt ein Bus nach Vietri sul Mare ins Tal hinab. Wann wissen wir nicht. Wir wandern also die eineinhalb Kilometer hinab nach Raito, geben der Verkäuferin im Tabacchi-Laden ein paar Euro für die Fahrkarten und setzen uns an die Haltestelle, die wir am Abend vorher ausfindig gemacht haben. Neben uns liest ein Herr, gepflegt, Anzughose, Sommerhemd in der Gazetta della Sport. Das geschätzte Alter des Herren liegt bei kurz vor der Pensionierung. Als der Bus kommt und wir uns in diesen hineinstürzen wollen, guckt er uns kurz an, erkennt unseren Touristenstatus und hält uns vom Einsteigen ab. Der Bus fährt über den Berg ins Nachbardorf und nicht nach unten und ins Nachbardorf wollen wir ganz sicher nicht. Das erklärt er uns im zügigen Italienisch, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ins Englische oder Deutsche zu wechseln. Erstaunlicherweise verstehen wir, was er sagt. Dann erzählt er uns noch, um welche Uhrzeit der Bus kommt, was wir ebenfalls irgendwie verstehen. Der Bus fährt hier jede Stunde von Albori herab, was für ein so abgelegenes Bergdorf ein echtes Angebot ist. Kurz bevor der richtige Bus ankommt, sorgt er dafür, dass wir uns vom Sitzplatz erheben und uns fünfzig Meter weiter bergauf platzieren, weil dort die Haltestelle ist. Wir bedanken uns überschwänglich mit zahllosen “Grazies”. Dann achtet er noch darauf, dass meine Herzdame und ich zusammensitzen können, auf den einzigen beiden freien Plätzen des Busses. Der Mann ist besorgt darum, dass wir uns nicht verfahren und auch sonst einen guten Eindruck bekommen. Danke dafür. Hundert Meter vor dem Ziel unserer Fahrt in Vietri sul Mare stoppt der Bus kurz und lädt zwei Uniformierte ein, die mit den Aufnähern: “Europolizia” auf dem Revers und ernsten Blicken in den Gesichtern für eine bedrohliche Stimmung sorgen. Die beiden europäischen Ortsbullen kontrollieren die Fahrkarten auf eine Weise, die vermuten lässt, dass sie diesen Job wirklich gerne machen. Wir steigen mit unseren gültigen Fahrkarten unbehelligt aus.
An der Haltestelle, die sich am Beginn der Amalfitana, der Küstenstraße, die die ganze Halbinsel von Salerno bis nach Sorrent entlangführt, hält der Bus nach Amalfi. Pünktlich erscheint er. Es steht aber nicht Amalfi dran, sondern Maiori, ein Ort fünf Kilometer vor Amalfi. Der dahinter ankommende Bus fährt direkt nach Amalfi und ist knallvoll. Der Fahrer meckert uns aus dem Bus, wir sollten gefälligst mit dem Bus nach Maiori fahren und dann erst dort umsteigen in den Bus, den er fährt. Wir steigen also um und finden nach kurzer Fahrt einen Platz auf den vordersten Sitzen mit Blick in Fahrtrichtung und diese besondere Fahrt hätte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollen.
Die Amalfitana ist eng, kurvenreich und sagte ich es schon: eng. Außerdem ist sie an einigen Stellen extrem kurvenreich und dabei eng, schmal, dünn und für Fahrzeuge, die breiter sind als Fahrräder oder Motorroller ungeeignet. Der Bus besitzt die Größe eines normalen Linienbusses. Und manchmal kommt ihm auch ein anderer Bus entgegen. Luigi sitzt am Steuer und pfeift, während er geradewegs auf die nächste Felsenwand zubrettert, bevor er locker einlenkt und mit einem Abstand von zwei Zentimetern zur Felswand Blech- und Personenschaden verhindert. Vor jeder Kurve hupt er, vermindert sein Tempo geringfügig. Motorroller ziehen brummelnd an unserem Bus vorbei, Autos stehen in Kurven am Rand, lassen den Bus vorbei oder fahren mit einem Abstand, der deutlich geringer ist, als das Auto breit, noch schnell am Bus entlang. Die Fahrt, die keine 20 Kilometer lang ist dauert eine Weile, denn selten erhöht der Bus sein Tempo auf über 20 km/h. Dabei ist die Fahrt vom Hupen, Bremsen, Beschleunigen und wieder Bremsen so ausgefüllt, dass sich irgendwann meine Fingerknöchel weiß über dem umklammerten Handgriff vor meinem Sitz abzeichnen. An irgend einer Kurve hält er, nimmt zwei junge Damen auf, die keine Fahrkarte haben. Während er weiterfährt, sucht er zwei Fahrkarten heraus, lenkt, hupt, erledigt die Sache mit dem Wechselgeld hupt, fährt direkt auf einen Abgrund zu und lenkt uns sicher wieder auf die Straße, bevor ich “Hilfe” rufen kann. Schließlich erreichen wir Maiori sicher und unverletzt. Ich steige aus, nicht ohne “Grazie” zu sagen und “Molto sportifo” zu denken.

Maiori erweist sich als kleiner mondäner Badeort. Wir vergessen die Idee mit dem Umsteigen in den folgenden immer noch vollen Bus, sondern schlendern ein bisschen die hiesige Croizette entlang. Die Badestrände scheinen keinen Eintritt zu verlangen. Der Blick aufs Meer ist von Diesigkeit überdeckt. In einer benachbarten Bucht sehen wir allerdings ein enormes Segelschiff. Fünf Masten besitzt es und sieht nach einem dieser extrem teuren Kreuzfahrtschiffe aus, wie die “Club Med 2”, die sich ja tatsächlich diesen Sommer im Mittelmeer tummeln soll. Noch während wir in Maiori sind, unternimmt das Schiff ein Takelmanöver. Es setzt die Segel und der Himmel über dem Schiff flattert weiß. Während wir im Ort einen kleinen Supermarkt entern, werden die Segel wieder gerefft. Das Schiff liegt vor Amalfi, an diesem Vormittag. Als wir mit dem nächsten Bus dort ankommen, sehen wir, wie Gäste in großen Booten von Ort zum Schiff transportiert werden. Um die Mittagszeit setzt das extrem teuer wirkende Schiff erneut Segel und verschwindet am Horizont Richtung Sizilien.
Amalfi ist größer, als ich es erwartet hätte. Und voller. Ein hektisches Busrangieren beginnt. Unser Bus steht noch vor dem Ortseingang im Stau, da ein Van vor ihm hält. Der lädt in aller Seelenruhe seine Gäste aus, ein japanisches Hochzeitspaar - beide sehr jung, beide in hellsten Weißtönen gekleidet. Er in weißem Anzug mit Blumengesteck am Revers, sie im Hochzeitskleid mit langer Schleppe, die ein kleine, ebenfalls schmucke Japanerin hinter der Braut hinterher - ja was wohl - schleppt. Die beiden flanieren Hand in Hand und von Fotografen begleitet die Strandpromenade entlang. Mehr als ein Touristenhandyakku haucht beim Mitfilmen sein Leben und seine Leistung aus.
Der trillerpfeifende Carabinieri von der Straßenwacht hat schließlich unseren Linienbus in einem überfüllten Busparkplatz einsortiert und wir können endlich aussteigen. Zum benachbart parkenden Bus beträgt der Abstand gerade 40 Zentimenter. Das wird für einige Fahrgäste eng.
Und nun erblicken wir Amalfi, das sich da hinter den Touristenströmen in die Höhe hebt. Ein schmales steiles Tal, bietet knapp 5000 Einheimischen Platz. Wie viele Touristen im Jahr hier durchschlurfen, möchte ich so genau gar nicht wissen. Hinter einem trutzigen Steintor öffnet sich die Piazza Duomo, deren Namensgeber, der Dom, sich über einer hohen Freitreppe aufbaut.
Amalfi gehörte einst neben Pisa, Genua und Venedig zu den vier großen Seerepubliken in Italien. Zeugen der glorreichen Vergangenheit sind in der Kathedrale zu bewundern. Besonders beeindruckend ist der Kreuzgang mit seinem Garten. Orientalisch wirkt der ganze Bereich, der architektonisch, sehr hell gehaltene Baustil der Mauren ist hier deutlich zu erkennen. Angelegt wurde er einst als Friedhof für den Adel Amalfies. Heute wird der Rundgang von 120 Säulen gestützt und nur vereinzelt sieht man an den Wänden noch ein paar der alten Sarkophage stehen. Durch die Säulen sieht man den Glockenturm aufragen, eingerahmt vom gothischen Bogen.
Faszinierend auch die Krypta. Eine breite Treppe führt hinab in einen Keller, der allen Erwartungen widerspricht. Es ist das eigentliche Herz Amalfis. In diesem großen hellen Raum, mit seinen bunt ausgemalten Wänden, liegen die Gebeine des Heiligen Andreas, einem der Jünger Jesus. Ein in der katholischen, wie orthodoxen Kirche immer wieder auftauchender Brauch ist es, Körperteile von Heiligen aufzubewahren und zu bestimmten Zeiten in kleinen Schaukästen prozessierend durch die Gegend zu tragen. Vom Heiligen Andreas besitzt man eine ganze Reihe Körperteile.

So bewahrt man hier ein Teil des Kopfes auf, sowie eine Ampulle mit Flüssigkeit aus seinen Gebeinen. Warum man tote Helden nicht ordentlich in ihrer Gesamtheit beerdigen kann, ist mir nicht ganz klar. Durch das Herumzeigen ihrer sterblichen Reste, werden die Heiligen ja auch nicht wieder lebendig. Allerdings hat so ein Heiliger auch heute noch allerhand Aufgaben. Sie bewahren bei Anbetung vor Krankheiten oder anderem Ungemach. Andreas zum Beispiel ist der Betriebsheilige der Metzger, Fischer und Seiler. Er hilft bei Gicht, Krämpfen und Rotlauf und soll außerdem für gutes Wetter sorgen. Das mit dem Wetter hat er heute ganz gut hinbekommen. Danke. Der Altar, der den Heiligen Andreas zeigt, ist ein beliebtes Fotomodell. Ein Frau posiert vor der Skulptur des Heiligen, bis sie so abgelichtet ist, wie sie es für richtig hält. Welche Rolle der Heilige auf diesem Bild spielt, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie ja Gicht. Aber vermutlich ist er auf dem Foto nicht die Hauptperson.
Auch die große Kathedrale ist ein Schmuckstück, das prunkvoll und vergoldet die Netzhaut reizt. Wunderbare Deckenmalereien animieren dazu, sich ein paar eigene Geschichten zu den Bildern auszudenken. Immer wieder muss ich in Sakralbauten Engel sehen, die albern durch die Lüfte tanzen, dicke Backen machen und die ganze religiöse Angelegenheit scheinbar nicht ganz ernst nehmen.
Aus dem kühlen Inneren der Kathedrale heraustretend, erschlagen mich Lärm und Hitze gleichermaßen. Ein Gemurmel und Geschnatter dringt über die lange Treppe von der Piazza di Duomo hinauf. Schirmschwingende Reiseleiter ermahnen ihre staunenden, aber weitgehend willenlosen Schafherden zur Eile, erklären die wichtigsten Bauwerke und machen Witzchen, um die Herde bei Laune zu halten.
Die Piazza lockt mit kulinarischen Versprechungen. Wir betrachten vor einem Restaurant eine gut gestaltete Speisekarte in Handschriftdesign, die an einem kleinen Holzzaun angebracht ist. Ein Kellner winkt. In weißem Leinenanzug, das gegelte schwarze Haar in einem Zopf auf den Rücken fallen lassend, wartet er aufmerksam auf Leute wie uns, die nach etwas Ansprechendem zu Essen suchen. Er weist auf einen Stuhl unter einem Schatten spendenden Schirm und macht eine Bewegung mit den Fingerspitzen, die er zum Munde führt, um die Vorzüglichkeit des Essens hervorzuheben. Kurz entschlossen folgen wir seiner Einladung und ordern ein großes kaltes Wasser. Der Kellner teilt uns Speisekarten zu und widmet sich wieder seiner Hauptbeschäftigung - Gäste ködern. Die Speisekarte besteht aus einer Sammlung von fotografiertem Essen. Für Ausländer und Leute, die nicht Lesen können. Es ist nicht die Speisekarte, die wir uns vor dem Restaurant angesehen haben. Ich suche nach dem Holzzaun, an dem die Karte hängt und stelle fest, dass der Zaun zwei Restaurants auf dem Platz teilt. Das mit der handgeschriebenen Speisekarte befindet sich auf der anderen Seite der Grenze. Der italienische Schmierenkomödiant leistet gute Arbeit, wie ich sehe, denn ein weiteres Pärchen blickt von der Karte auf und folgt seinen Winkebewegungen.
Die Fotos vom angebotenen Essen sind nicht von einem Ästheten geschossen worden. Sie vergilben bereits und ich hoffe, dem Essen ergeht es nicht ebenso. Ich bestelle Nudeln mit Muscheln. Während wir auf unsere Gerichte warten, beginnt in unserem Rücken plötzlich ein Quartett ein paar unterhaltsame Melodien zu spielen. Ein Gitarrist bedient dabei den Rhythmus des Gipsyswing, ein Klarinettist trillert geschäftig dazu, ein Kontrabassspieler hat auch reichlich Noten und ein Sänger versucht, die italienische Lebensweise in Stimmung zu setzen. "Quando, quando" und "Volare" hören wir und Klassiker des italienischen Schlagers, wie "Bambolero" und "Guantanamera". Die eingängigen Melodien kennt hier jeder der Anwesenden. Der weiß gekleidete Gigollokellner animiert nun auch noch zum Mitsingen. Eine nicht mehr ganz junge, aber sehr schicke Frau mit ausgeprägter Yachtbräune, die zwei Tische weiter speist, zappelt rhythmisch herum. Ihrem Mann gelingt es gerade so, sie davon abzuhalten aufzuspringen und zu tanzen. Bei "Volare" grölt das ganze Lokal mit, wie ein Fußballfanclub im Siegestaumel. Nach der anschließende Trinkgeldrunde wechseln die Musiker auf die andere Seite des Zaunes und beginnen mit ihrem Repertoire von vorn.
Meine Nudeln mit Muscheln bestehen aus Nudeln mit geöffneten Miesmuschelschalen. Das Muschelfleisch ist auf dem Weg aus der Küche offensichtlich ausgebüchst. Wer weiß, wie oft die Muschelschalen heut schon den Teller gewechselt haben. Was es an Fleisch auf meinem Teller mangelt, setzt sich in diesem Moment in großer Menge an den Nachbartisch. Dicke Wabbelbeine quellen aus engen kurzen Jeans und Schwabbelwulste unter einem ärmellosen Kleidungsstück mit dem Charme eines verschwitzten Unterhemdes, das sicher in der richtigen Größe gekauft wurde … vor mehreren Jahren. Was die Frau an Bauch und Oberweite zu viel hat, fehlt ihr am Hals. Das Kinn kommt nahtlos aus dem Ausschnitt. Die lodigen Haare umklammern ein trotzig blickendes Gesicht. Dabei stört mich weniger die Tatsache der enormen Leibesfülle - ich schleppe selber etwas zu viel mit mir herum - sondern deren Präsentation. Die Kunstfertigkeit, sich ästhetisch zu Kleiden scheint mir dieser Tage nicht besonders ausgeprägt. Allerdings ist mein Toleranzverständnis für angemessene Kleidung ohnehin etwas angegriffen, seit zerrissene Jeans und Jogginghosen zu Sakko als Haute Couture gelten. Vermutlich liegt das auch nicht an der Kleidung, sondern an mir. Doch wenn das Kopfschütteln über zerrissene Jeans und zu enge Unterhemden über Schwabbel ein deutliches Zeichen allgemeiner Spießigkeit sein soll, nun denn, bekenne ich mich dazu. Ein Spießer auf Reisen sucht nach Klischees und bekommt sie natürlich prompt geliefert, als die Frau nun im breiten Akzent des amerikanischen Mittleren Westens beginnt, ihrem Mann, der genauso so massig wirkt, die Speisekarte, die ja wie erwähnt aus Fotos besteht, vorzulesen. Er brummt bei jeder Ansage voller Vorfreude.
Als wir gehen, suche ich verzweifelt nach meinem Hut. Ich schaue unter dem Tisch und auch die Frau vom Nachbartisch hebt hilfreich das Tischtuch und fragt, ob sie helfen kann. Sie lächelt, wünscht uns, nachdem ich meinen Hut gefunden habe, einen schönen Tag in Amalfi und wirkt dabei auf eine natürliche Weise nett, die mein festgelegtes Weltbild ein kleines Bisschen ins Wanken bringt.
Die Unmenge der Touristen, die bereits jetzt in der Vorsaison die kleine enge Stadt überschwemmen, taumelt im zähen Strom durch die Gassen. Für die weniger Fußfitten bleibt der untere Bereich des Ortes alles, was es zu besichtigen gibt. Und selbst dort steigt der Weg zwischen den Geschäften mit Keramik, Eisläden und Souvenirs, die auf der Kitsch-Skala nach oben hin keine Grenze kennen, leicht an. Eine kleine Nische offeriert einen Treppenstieg, dem wir willkommen nach oben folgen. In zahlreichen Windungen führen die Stufen höher und höher, vorbei an Wohnungen mit halb geöffneten Türen und Fenstern, aus denen die unterschiedlichsten Geräusche und Gerüche zu uns dringen. Gespräche, Gemurmel aus Fernseh- oder Radiosendungen, Tellerklappern, Bruzelgeräusche frisch in der Zubereitung befindlicher Mittagsgerichte, nebst den dazu gehörigen Düften. Auf einer Treppenstufe führt ein Kind ein Spielzeugauto aus. Eine Katze sitzt, sich putzend auf einer hohen Wegbegrenzung aus Stein, die atemberaubende Aussicht hinter ihrem Rücken ignorierend. Wir sind fast ganz oben auf dem Treppenstieg angekommen. Nur eine weitere Treppe führt noch höher zur Kapelle “Unserer Lieben Madonna vom Schnee”. Auch wenn ich eine Abkühlung vertragen könnte, gehen wir doch unterhalb des Gotteshauses den Hochpfad über der Stadt entlang und schauen hinab auf Amalfi und das Meer und hinauf auf die steilen grünen Hänge, die sich über uns im Sonnenlicht erheben und an denen der Ort klebt, wie ein Bienenstock.
Amalfis Bauland bemisst sich gerade mal auf drei Quadratkilometer. Es steckt in einem schmalen Mühlental, in dem einst mehrere Mühlen vom herabstürzenden Wasser betrieben wurden. Hauptsächlich Papiermühlen wurden hier betrieben. Die Häuser baute man in und an den Fels, das wenige Ackerland legten die Amalfitaner mühsam auf schmalen Terrassen an. Unter unserem Ausguck hängen die Zitronen satt und gelb an den Bäumen. Große Büsche mit bunten Blüten stehen überall am bewirtschafteten Hang, umflattert von Schmetterlingen, vor allem vom hier auffällig häufigen Schwalbenschwanz. Die kleinen Wege hat man mühsam aus dem Hang gekratzt, Eselspfade stabilisiert und Kletterstiege mit Stufen gefüllt, um die natürlichen Hindernisse eines Bergortes etwas zu entschärfen. Über Jahrhunderte erreichte man den Ort nur über den Seeweg. Was als Piratennest begann, entwickelte sich bis ins Mittelalter zu einer der mächtigsten Seerepubliken des Mittelmeers. Hier wurde angeblich von Seefahrer Flavio Gioia der Kompass erfunden. Aber das behauptet auch die Nachbargemeinde Positano. Ein Denkmal für den Erfinder steht in Hafennähe, ist mir aber nicht aufgefallen. Erst spät errichtete man die Küstenstraße, die Amalfitana. 1832 begann man Stückchenweise einen festen Weg aus dem Fels zu sprengen. Bereits 1850 hatte man die wohl schönste Straße Italiens weitgehend fertig gestellt.
Von unserem Standort können wir bequem auf den Glockenturm des Domes schauen. Das Turmdach ist mit bunter Keramik gedeckt, ein typischer Baustil in der Region, den wir in jedem Ort wiederfinden. Die Kirchtürme erinnern etwas an die Mützenarchitektur orientalischer Gotteshäuser. Ob hier Funktionalität oder Ästhetik die Hauptrolle spielten oder beides ineinander greift, weiß ich nicht zu sagen.
Der Weg führt wieder steil hinab. Im Abstieg begegnen uns die ersten Menschen seit einer längeren Zeit. Ein Pärchen, wie wir Touristen, die bei der Aussicht in ein glückliches Seufzen verfallen und sofort beginnen, ein aussagekräftiges Selfie zu konstruieren.
Wieder zwischen den Touristenströmen angekommen, lassen wir uns zu einem Eis überreden. Die insgesamt vier Kugeln am Hauptportal zur Einkaufspassage kosten zehn Euro und sind es geschmacklich nicht wert. Eine aromatisierte Zuckerpampe, die schneller zu tropfen beginnt, als sie auf die Keksrolle geschmiert werden kann. Und dann kaufen wir die obligatorischen Postkarten samt Briefmarken, die, wie wir später feststellen, zwar schön teuer sind, jedoch nicht zum Transport durch die italienische Post berechtigen. Es ist das Porto eines privaten Brieftransporters, wie die grüne Pin-AG in Deutschland, nur leider so wenig verbreitet, dass seine blauen Briefkästen und selbst der Name des Unternehmens im ganzen Süden Italiens nicht mal bei Postbeamten bekannt sind. Resigniert werfen wir die Karten in die roten Postbriefkasten, in der Gewissheit, dass keiner der Adressaten diese wohl je zu Gesicht bekommt. Im Touristen Verarschen sind die Italiener Weltmeister.
Für die Abreise aus Amalfi nutzen wir nicht den Bus, sondern das Schnellboot nach Salerno. Der Ausblick auf die spektakuläre Steilküste mit der gewundenen Hochstraße und den übereinander gebauten Häusern der kleinen Felsnester ist fast nicht auszuhalten. Kleine Felsbuchten tun sich auf, mit schmalen Stränden, die nur mit dem Boot zu erreichen sind. Auf Felsvorsprüngen stehen alte Forts oder moderne Restaurants, die nur von der Straße aus über einen beschwerlichen Abstieg besucht werden können. Dann allerdings sitzt man weit vorgelagert vor dem aufragenden Fels über dem Meer und kann sich ein sicher nicht ganz billiges Menü schmecken lassen. Segelschiffe und kleine Fischerkähne, die träge in der Dünung wippen, weichen langsam größeren Pötten, Lastkähnen und Fähren nach Sardinien und Tunesien. Schließlich erreichen wir mit Salerno einen romantikarmen Großstadthafen. Es riecht nach brackigem Wasser und Diesel. Rollkoffer zwitschern die Landungsmole entlang. Wir verlassen den Hafen, von dem wir uns einen etwas beschwerlichen Weg bis zu unserem Schwalbennest hoch über dem Meer suchen müssen, was uns nach einer kleinen Odyssee durch die Undurchdringlichkeit der örtlichen Bushaltestellenorganisation schließlich gelingt.
Wandern zu den Kapellen rund um den Monte Falerio
Wandern zu den Kapellen rund um den Monte Falerio

Der Monte Falerio schaut uns jeden Morgen beim Frühstück zu. Es handelt sich dabei um einen Felsenkegel, der sich auf 650 Meter aus dem Meer hebt. Für den Wanderer ist er nicht ohne Weiteres zu erklimmen. Trotzdem verirren sich von Zeit zu Zeit Kletterer auf den Felskegel, von dem die Aussicht sicher phänomenal ist. Um das Massiv herum und auch entlang der größeren Felsen oberhalb der Amalfiküste ziehen sich zahlreiche Wanderwege, deren Ausschilderung allerdings eine gewisse Kreativität in der Auslegung erfordert.
In der größten Mittagshitze machen wir uns auf den Weg. Der Wanderweg, der hinter dem Haus entlangführt und die Nummer 303a trägt, schlängelt sich zunächst an noch abgelegeneren Gehöften, als dem Unsrigen vorbei.

Er führt uns an eine Quelle, die aus dem Berg rinnt und eine Art Vertikalgarten speist. Üppig klettern hier die verschiedensten, mir namentlich nicht geläufigen Grünpflanzen die Felswand hinauf, glänzen feucht in der verhalten in die Wand scheinenden Sonne. Das Wasser ist kalt und kommt im richtigen Moment, um den beginnenden Durst zu löschen. Im Dickicht steht eine kleine Tafel mit einem Bildnis von Maria.
Ein Schrein mit einer Marienfigur versteckt sich in einer Nische im Felsgestein. Weitere kleine Heiligenpüppchen werden vom herabtropfenden Wasser benetzt. Ein heilige Quelle, vielleicht? Ein Jungbrunnen, nach dessen Nutzung man ewig jung bleibt? Wie funktioniert so etwas, wenn man bereits über fünfzig ist? Vermutlich bleibt man dann auch über fünfzig.
Kurz hinter der Quelle beginnt ein Anstieg hinauf in den Berg. Zunächst sind es Stufen, auf denen uns ein Wanderer entgegenkommt, der Einzige, den wir für eine lange Zeit sehen. Die Stufen enden an einem steilen Felspfad, der uns weiter nach oben bringt. Das Dickicht rechts und links wird dichter. Eine Machete wäre gut, denn die wilden Brombeeren greifen uns an. Immer wieder öffnen sich kleine Fenster im Grün, durch die der Blick hinab ins Tal, hinüber auf Vietri sul Mare, die Hafenstadt Salerno und weit über den Golf bis hinab nach Süditalien schweift.

An einer Kreuzung müssen wir uns entscheiden. Links schickt uns ein Weg zu einer Kapelle, der Capella Vecchia, rechts zu einer anderen, der Capella Nuova. Beide Wege führen weiter hinauf an die Flanke des Monte Falerio. Wir folgen dem linken Weg. Nach wenigen Schritten merken wir, dass wir uns nicht mehr auf dem offiziellen Wanderweg befinden, sondern auf einem leicht ausgetretenen Pfad, an dem nur hin und wieder weiß-rote Flatterbandstückchen, die im Baum hängen, den Weg markieren. Nach einem steilen Wiesenstück lockt uns ein schattiger Weg in den Wald, dann passieren wir wieder Felsstücke, auf die man sich hinauf hangeln muss. Jede dieser Mühen wird mit noch spektakuläreren Aussichten belohnt. Die Vegetation wird allmählich dürftiger. Es handelt sich nun um ein Art Macchia, ein Buschland wie es auch auf Korsika zu finden ist. Nach etlichen Metern und einer weiteren Klettereinlage auf Fels gelangen wir auf eine Felsnase, die mit Brandspuren einer kürzlich erfolgten Grillpause dekoriert ist.

Wie kommen die mit dem ganzen Plunder hier hoch, frage ich mich und kicke eine leere Zigarettenschachtel beiseite. Der Weg führt von der Aussicht weg. Farn und Dickicht machen den Weg kaum noch als solchen erkennbar. Inzwischen sind wir mit der Kuppe des Monte Falerio auf einer Höhe. Schmetterlinge umflattern uns.Eine Hornisse brummt eilig an uns vorbei. Ein Gecko genießt die Sonne auf einem Stein.
Wenige Schritte später erblicken wir die alte Kapelle.. Sie ragt auf einer Aussichtsplattform in die Landschaft, die einen Blick offeriert, von dem wir uns so schnell nicht wieder lösen können. Das ist mal eine Aussicht, die sich nicht nur gewaschen hat, sondern geduscht. Ach was, ein ausgiebiges Bad hat sie genossen. Links ist der Hafen von Salerno zu sehen. Dahinter weiß leuchtende Felder, die wirken, als wären sie mit Folie abgedeckt. Weiter schweift der Blick bis zur letzten Spitze des Golfes von Salerno, tief im Süden des Landes. Direkt vor uns können wir über den Kamm unseres Hausberges blicken, der jetzt bereits niedriger ist, als unser Standort. Tief unten im steil abfallenden Tal sehen wir ein kleines Fischerdörfchen, vor dessen Hafen allerhand weiße Boote verschiedenster Größe ankern. Weiter draußen bewegen sich die ganz großen Pötte auf dem blauen Wasser. Vor dem Hafen von Salerno lässt sich ein Frachter von den Lotsen ins Hafengelände ziehen. Golden schimmert eine Schleppe aus Treibstoff und Öl auf der Wasseroberfläche, verteilt sich und wird schließlich auch an die Badestrände von Vietri sul Mare anlanden, an denen sich nicht weit vom Hafen zahllose zahlende Badegäste lautstark erholen. Gelegentliche Windstöße tragen das Geräusch bis hier hinauf. Ein kleiner Privatjet schießt dagegen lautlos hinter dem Bergmassiv über das Meer und verschwindet irgendwo im Hinterland von Salerno.

Jetzt kommen ein paar weitere Wanderer auf dem Weg hinter der Kapelle entlang. Wir beschließen ebenfalls, weiter zu wandern. Es gibt kein Hinweisschild, wo entlang es zur Capella Nuova geht. Lediglich die rot weiße Markierung am Wegesrand weist darauf hin, dass es sich hier um einen Wanderweg handelt. Der teilt sich hier allerdings und wir laufen zunächst nach links, was mir nicht ganz richtig erscheint. Zwei gut ausgestattet Bergwanderer begegnen uns. Einer müht sich mit zwei Wanderstöcken eine Stufe hinauf. “Cappella Nuova” frage ich und blicke in Wegrichtung. “Si” stöhnt der eine. Wir marschieren also weiter. Nach einer Weile frage ich mich, ob der Wanderer meine Frage nicht vielleicht so verstanden hat, als fragte ich ihn, wohin er will. Vielleicht wollten uns die beiden Knaben aber auch verarschen. Wäre ja nicht ungewöhnlich. Ich beschließe, die Wandernavigationsapp meines Taschentelefons zu Rate zu ziehen, der ich nicht so recht über den Weg traue. Sie verrät mir, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Nur in falscher Richtung. Auf unserer Karte ist dieser Weg dünn gestrichelt dargestellt. Also drehen wir um, erreichen nach einer halben Stunde zügigen Schrittes die Alte Kapelle und folgen dann einem dicken, steil abwärts führenden Schotterweg, der uns an einem Haus vorbei führt und an einer illegal aussehende Lagerstätte für Sondermüll. Reihenweise stehen hier blaue Plastetonnen im Wald. Ein altes, aber fahrbereites Moped lehnt an einem Baum.

Weiter abwärts des Weges erkenne ich ein kleines Gebäude, die Cappela Nuova und höre das Brummeln eines Mopeds. Direkt an der Cappela führt eine unbefestigte Straße entlang. Dieser Wallfahrtsort ist also auch mit dem Taxi erreichbar. Die vom Regen ausgewaschene kleine Straße wirkt nicht so, als wäre sie gänzlich schadensfrei befahrbar. Trotzdem sind einige Spuren von motorisierten Fahrzeugen zu erkennen. Auf den Weg hat man zur Befestigung Tonscherben und zerbrochene Fliesen ausgestreut. Es ist ein ziemlich rutschiges Gelände.
Die kleine Marienkapelle lädt eigentlich ein zu einem kurzen erholsamen Päuschen. Doch neben der Kapelle, in einer kleinen Nische unter einem Baum, sitzen ermattet die beiden Männer, die uns in die falsche Richtung geschickt haben.
»Ah. Capella Nuova«, sage ich laut und mit einer Betonung, die unterstreichen will, dass man nicht wirklich überrascht ist. Dann nicke ich den beiden etwas verlegen aus ihrer verschwitzten Wäsche schauenden Wanderern lächelnd zu und wir laufen, so locker wir können, weiter bergab. »Eine Pause wäre jetzt auch für uns sehr schön gewesen, ihr Pappnasen.«

Plötzlich Glockengeläut, nahe und leise. Eher Gebimmel. Ich höre Gemecker. Im abschüssigen Gelände knabbert sich eine kleine Ziegenherde durchs Gebüsch. Aufgeregt klingeln die kleinen Glöckchen, während die Ziegen versuchen die saftigeren Blätter an den biegsamen Sträuchern zu erreichen und dabei auf den Hinterbeinen stehen. Hinter der nächsten Wegbiegung ist von den Tieren nichts mehr zu hören. Allerdings steht rechter Hand nun das Gehöft, auf dem die Ziegen leben. Hunde bellen mit großer Ernsthaftigkeit. Ein paar rostige Traktoren stehen herum, Reifen liegen am Straßenrand, Schrott und Mülltüten ebenfalls. Die einfachste Art mit seinem Müll zurechtzukommen, ist ihn soweit auszulagern, dass es nicht mehr das eigene Problem, sondern das Problem anderer Leute ist. Müll am Straßenrand? Ich wohne hier nicht. Müll in unwegsamen Bergmassiven? Ich bin heute zum ersten Mal hier. Müll in den Weltmeeren? Also ich hab ihn da nicht hineingetan.
Wir kommen in ein kleines Dorf von dem aus wir das Tal und die Stadt sehen können, die an der Verbindungsstraße zwischen Neapel und Salerno liegt. Hinter dem Dorf gehen Stufen in nicht besonders schrittkonformer Höhe talwärts. Nicht gerade eine Showtreppe. Eine Ruine steht am Wegesrand. Ein großer Bau, in dem sich keine Türen mehr befinden, keine Fenster. Taubendreck liegt auf dem Fußboden, die Wände der Räume sind mit Graffitis geschmückt. Aus dem Fenster lockt ein traumhafter Blick aufs Mittelmeer. Wer immer diesen Bau verlassen hat, er muss ernsthafte Gründe gehabt haben. Das Gemäuer ist noch perfekt. Das Bad noch gefliest und auch die Wasserleitungen führen noch bruchlos die Wand hoch. Stufen locken ins nächste Stockwerk unter dem Dach, das auf den ersten Blick dicht zu sein scheint. Vor dem Haus liegt, einige Meter tiefer eine weitere Terrasse. Ein großer Schuppen oder eine kleine Werkstatt befindet sich in der Nähe. Alles ist von Unkraut überwuchert, das zur Zeit bunt blüht. Eine Menge Arbeit wäre nötig, dieses kleine Schmuckstück aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Vermutlich gibt es auch keine vernünftige Anbindung zur Straße. Es ist eine interessante Ruine in einem an interessanten Ruinen nicht armen Land. Ich will noch auf den Balkon gehen, aber der ist bereits besetzt. Eine große Ziege mit langen Hörners steht dort und genießt die Aussicht. Sie dreht sich zu mir um und blickt mich fragend an: “Sie wünschen?”
Wenige Meter später, erneut eine Quelle. Wieder eine Marienquelle. Kalt spritzt das Wasser aus dem Hahn und erfrischt. Und dann befinden wir uns oberhalb unseres Ortes Albori. Über dem Weg flattern zwei Schwalbenschwänze um einander herum, umturteln sich im Liebesspiel der Schmetterlinge. Allmählich steigen sie, sich weiter umkreisend höher und verschwinden an einer Hecke, die an einer Mauer lehnt, mehrere Meter über dem Weg, zwei bunte Elfen unter einem azurblauen Himmel.
Stufen führen hinab ins Dorf. Aus offenen Fenstern hört man italienische Gespräche, laut und schnell wie Streitgespräche, die sie vermutlich nicht sind. Dann gebrochenes Englisch und geknödeltes Amerikanisch aus einem benachbarten Fenster. Ein junges Paar, dass ich bereits einen Tag zuvor sich mit drei Rollkoffern den Berg hinaufquälen sah, haben sich hier für ein Wochenende ihrer Europarundreise einquartiert.

In einem kurzen Tunnel unter einem Haus hat man an einer Wand die Geburtsgeschichte Christi aufgebaut. Wie eine Spielzeuglandschaft mit Häusern, Menschen, Eseln, Bäumen. Zement, Farbe und ein paar Figuren, die die Wand plastisch schmücken. Ein Krippenspiel, das zwölf Monate an der frischen Luft bleiben kann.
Schließlich erreichen wir wieder den Parkplatz, wo unser Auto steht und das Brünnlein des Fausto Coppi Fanclubs Wasser spendet. Die Wanderung mit seinen Steigungen war durchaus anspruchsvoll, wenn auch mit knapp fünfzehn Kilometern nicht sehr weit. Trotzdem sind wir verschwitzt und etwas abgekämpft.
Ein bisschen Ruhe und ein paar erfrischende Minuten unter der Außendusche, die als kleines Zubehör vor unserem Ferienhaus auf uns wartet, sind jetzt genau das, was wirklich zählt im Leben.
Capri
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt ..."
------------Ralph Maria Siegel

Es gibt ein Wort, dass man bei der Nennung des Inselnamens Capri sofort im Kopf hat: Sonne. Nicht nur das süße Getränk in der Aluverpackung erscheint vor dem inneren Auge, auch das Lied von den Caprifischern schaukelt gemächlich am inneren Ohr vorbei.
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…"
Um das zu erleben, darf man kein Tagestourist sein, denn die letzten Fähren laufen häufig noch bei Tageslicht in Richtung Festland aus.
Also nehmen wir uns fest vor, nach Capri zu schippern und dort mindestens eine Nacht zu bleiben.
Es ist der 13. Juni. Antonius-Tag.
Anreise
Von Amalfi aus legt ein Fähre gegen 11:00 Uhr ab. Wir müssen also einigermaßen zeitig aus unserem Bergdorf herab, den richtigen Bus bekommen und rechtzeitig vor Ort sein. Der Bus nach Amalfi fährt wieder im höllischen Tempo von knapp 20 km/h die Zick-Zack-Linien der Amalfitana ab. Auch diesmal ist der Bus voll. Ich muss eine Weile stehen, bevor ein Platz frei wird. Ein Platz am Fenster neben einem Sitz dessen Rückenlehne kaputt ist. Sie ist nach vorn und ein bisschen zur Seite gekippt, an einem Scharnier ausgebrochen und macht die Benutzung des Sitzes unmöglich. Für mich heißt das, eng aber solo sitzen. Ich vertreibe mir die Zeit damit in die Tiefen der vorbeiziehenden Schluchten zu schauen, sehe kleine Buchten und weiße Segel und hin und wieder ein vorbeieilendes Mofa, das eigentlich kaum Platz hat.
Beim Aussteigen bin ich der Letzte.
Amalfi ist sonnenverwöhnt. In einer kleinen Terrassenbar vertreiben meine Herzdame und ich uns die Wartezeit bis zum Schiffstransfer. Von unserem Platz sehen wir die kleinen Boot an ihren Anlegestellen schaukeln. Unmittelbar vor den Booten wurde eine Bademöglichkeit eingerichtet, mit Sonnenliegen auf Holzstegen. Zum Schwimmen nicht geeignet, aber als Abkühlung bis zur Hüfte durchaus brauchbar. Das Wasser umspült einige umfangreiche Hüften in knapper Bademode.
Die Überfahrt von Amalfi nach Capri dauert nur eine dreiviertel Stunde. In dieser Zeit fährt das kleine Fährschiff dicht unter der malerischen Küste entlang, vorbei an einer kleinen spitzen Felsengruppe, die aus dem Meer ragt und mit den Reisen des Odysseus in Verbindung gebracht werden. Die drei Felsspitzen sollen der Sage nach einst die Sirenen beherbergt haben, die die Mannschaft an Bord des Schiffes von Odysseus in den Wahnsinn singen wollten. Da sich aber alle die Ohren verstopft hatten, kamen sie unbehelligt vorbei. Uns gelingt das ebenfalls gut, denn die Sirenen sind nicht vor Ort. Wahrscheinlich üben sie gerade für die Teilnahme am nächsten Eurovision Songcontest.
An Bord ist allerhand Volk, das dringend nach Capri muss. Die meisten sind Tagestouristen mit Handtaschen und bunten Rucksäcken, aber auch ein paar Rollkoffer größeren Ausmaßes stehen an Deck herum. Neben uns sitzen zwei artige englische Jungs in kurzen Hosen, aus denen bleiche Beinchen herausbaumeln. Die Ignoranz des Briten gegenüber Sonnencreme wird heute Abend sicher für Tränen sorgen. Zu den beiden Jungs gehört noch eine größere Schwester, ein Mädchen von etwa 11 oder 12 Jahren. Sie sitzt mit dem Rücken zur Reling, etwas schief in der Haltung, die Augen halb geschlossen und mit ein Gesicht versehen, in dem die Pubertät gerade große Veränderungen vornimmt. Sie wird voll von der Sonne getroffen, trotzdem rührt sie sich kaum, erträgt die Überfahrt in pubertärer Trance, ihr rosa Handy im Schoß. Der Vater der drei Kinder kommt alle zehn Minuten vorbei und fragt, ob alles ok ist. Die Kinder nicken stumm.

Neben dem jungen Mädchen lümmelt eine Frau im Sommerkleid herum, einen Strohhut auf dem Kopf befestigt. Die Lippen im Stile französischer Mädchen etwas schmollend. In regelmäßigen Abständen reißt sie den Mund auf und gähnt so massiv, wie ich es sonst nur von meiner Katze kenne. Ich könnte im Handumdrehen aus dieser Entfernung erkennen, welcher Zahn eine Krone hat und welcher nicht. Mir wurde früher immer ein "Hand vorm Mund" entgegengebrüllt, wenn ich Gähnen musste. Die Zeiten ändern sich.
In Positano nehmen wir weitere Gäste auf. Positano ist noch viel steiler gebaut, als Amalfi und serviert uns das absolute Motiv für eine Postkarte von der Amalfiküste. Bunt und etwas wirr klebt der Ort in den Felsen. In mehreren Etagen in den Stein gehauen, füllt Positano die Schlucht, in die es sich drängt mit Farbe, Stein und Leben.
Die Felsen hinter Positano werden karger und wilder. Die Küstenstraße hat sich ins Hinterland verzogen und schlängelt sich nach Sorrent auf der anderen Seite der Halbinsel.

Auf der hiesigen Seite finden sich noch vereinzelte kleine Burgen und Wetterstationen auf den höchsten Spitzen der Felsen.
Schließlich endet die Halbinsel von Sorrent und der Golf von Neapel öffnet sich. Im blauen Dunst erkenne ich den Vesuv, während sich vor uns die Felseninsel Capri immer höher aus dem Meer erhebt und bereits die ersten faszinierten »Aaaahs«, und »Ooohs« zu hören sind. Das ist der Moment, in dem auch das junge Mädchen für einen Moment zum Leben erwacht und die Fotolinse ihres Telefons auf den Stein der Insel richtet.
Marina Grande.
Der Pier ist gesäumt von Männern in weißen Uniformen. Sie sehen alle so aus, wie man sich einen Cocktail-Stewart auf der Hochseeyacht eines Multimillionärs vorstellt. Kapitänsmütze inklusive. Sie zeigen Schilder hoch, auf den so interessante Namen stehen, wie "Hotel Caesar Augustus". Wenn sich ein Hotel mit solch einem Namen nicht einmal den Zusatz "Palace" leisten kann, dürfte es sicher nur um eine mittelmäßige Absteige handeln.
Der Ort, der sich um den ehemaligen Fischerhafen und jetzigen Touristenumschlagplatz gebildet hat, heißt Marina Grande. Von seiner Lage her ist er eigentlich malerisch. Die Häuser ducken sich unter den großen Felsen, strahlen aber mit ihren Farben eine angenehme, freundliche Wärme aus. Gegenüber der zahlreichen Fahrgastschiffe, die die Tagesbesucher um die Insel und zu den berühmten Grotten schippern, liegen die berühmten bunten Fischerboote auf dem mit Mauersteinen befestigten Ufer. Von hier also “zogen sie aufs Meer hinaus und warfen in weiten Bogen die Netze aus. Bella Bella Marie.”

Der Charme des pittoresken Hafenortes verblasst, wenn man sich die Inhaber der Läden im Erdgeschoss betrachtet und das Treiben, das sie generieren. Hier findet sich eine Ansammlung von Trödelshops, Infomationsständen, Ticketverkaufsbuden und Bistros, wie man sie an jedem beliebigen Ort der Welt, der einen gewissen Schau- und Marktwert besitzt, sonst auch findet und in dem die Anwohner und die dazu gereisten Dienstleister nun ernten, was es zu ernten gibt. Es ist eine kommerzielle Vorhölle, wie sie sich normalerweise die Kreativabteilung der Disneystudios schön bunt ausdenkt. Alle zwanzig Meter soll man entweder ein Taxi mieten, ein Boot für eine Inselrundfahrt besteigen oder jemand will dringend etwas verkaufen "Brauchen sie vielleicht diesen Magnetanker auf dem Capri steht, ein Plastefernrohr für in Schrank zu stellen oder eine Rolle Seemannsgarn?"
Capri soll wunderschön sein und wenn ich die Felsen hinauf blicke, glaube ich das auch. Der Ort Capri liegt selbst einige Meter oberhalb unseres Standortes. Eine Zahnradbahn führt hinauf. Das muss da sein, wo die ganzen Menschen Schlange stehen. In so eine Transportkabine stopft man gewöhnlich so viele Leute rein, wie passen. Dann drängt man sich eng in einer kleinen, schlecht gelüfteten Glaskiste, atmet alle Formen von Ausdünstungen ein, die von Körpern ausgestoßen werden, in denen meterlange Schläuche die faszinierendsten biochemischen Prozesse stattfinden lassen und sieht nichts von der vorbeieilenden Welt, weil man bestenfalls in die Nasenhöhle eines neben ein Stehenden blickt. Man würde ja auch versuchen, sich umzudrehen, wenn das ginge und man dann nicht mit der eigenen Nase im Dekolletee einer besonders großen Frau stecken bleiben würde, was heute meist nicht ohne #aufschrei abginge. Ich kenne solche Transporte. Meist ist es so heiß und so eng in den Kammern, dass man beim Aussteigen nicht weiß, ob der Schweiß, der einem da den Rücken runter rinnt, der eigene ist.
Aufstieg nach Capri-Ort
Kurz hinter einem besonders dreisten Mittagsdieb, einer Pizzeria mit gleich drei Leuten, die auf der Straße auf Gäste lauern, weist ein Schild uns darauf hin, dass es hier entlang nach Capri Ort ginge, so man denn gewillt ist, Zeit und Kraft für den Aufstieg zu investieren. Wir sind gewillt und nach wenigen Schritten verschwinden wir in einer steil aufwärtsführenden Gasse, die von hohen Mauern gesäumt ist, von schmiedeeisernen Toren durchbrochen und von bunten Blumen und Sträuchern überwuchert. Namenschilder gibt es nur vereinzelt an den Pforten, die sich rechts und links immer wieder auftun und wenn bestehen sie aus stilvoll gestalteter Keramik. Vereinzelt kommt uns ein Wanderer entgegen und eine junge Frau mit einer vollen Einkaufstasche, die ihren Schlüssel in einem Torschloss versenkt und in einer kleinen Oase verschwindet, hinter der sich ein Dschungel mit Pool versteckt. Hier scheint es sich recht gut leben zu lassen. Es ist angenehm ruhig in den kleinen Gassen und nur selten streunt hier ein Tourist hinauf oder hinab.

Eine schmale Straße kreuzt. Breit genug für den kleinen Bus, der hier die Leute hinauf nach Capri fährt. Hinter der Kreuzung befindet sich auf einem Absatz ein Wasserspender, ein kleiner in einer Wand eingelassener Wasserhahn, für jedermann benutzbar. Nach den geleisteten Höhenmetern ein freudiger Grund für eine kurze Rast. Die Nische ist solide und mit einigem Kunstverständnis gemauert, das Wasser kalt und erfrischend. Wir löschen unseren Durst und können uns sicher sein, das der Schweiß, der uns nach diesem Anstieg vom Rücken läuft ehrlich erworben ist.
Wenige Meter später weckt ein Panoramarestaurant unserer Aufmerksamkeit. Mit einer angeberisch schönen Aussicht möchte sich der Wirt seine Pizza vergolden lassen. Die einfachste kostet knapp zwanzig Euro. Wir beschließen, dass für uns jetzt die Mittagszeit noch nicht angebrochen ist.
Eine Weile geht es noch weiter bergauf, bis der Weg durch einen Tunnel führt. Im Tunnel befindet sich ein öffentliches Klo. Der ganze, sehr große Raum ist in hellem Blau gefliest, das Licht dezent gedimmt und aus unsichtbaren Boxen plätschert leise Lullermusik. Es ist eine Wohlfühloase, in der sich der römische Kaiser Caracalla, der für seine Vorliebe für Wellnesstempel bekannt wurde, vermutlich stundenlang glückselig an ein Urinal gestellt hätte.
Capri-Ort
Direkt hinter dem Tunnel tauchen wir ein, in die einmalige Welt von Capri Ort. Piazza Umberto heißt der zentrale Platz. Hier treffen sich alle Touristenströme, die aus den Bussen, die aus den Zahnradkabinen, die, die hier eine Wohnung oder ein Hotel bewohnen und die wenigen, die sich zu Fuß herauf gewagt haben. Die Türen der zahllosen Boutiquen stehen weit offen und die kauffreudige Kundschaft aus aller Welt strömt hinein, wie es Wespen in ihrer Nester tun. Zwei kehren ein, zwei wieder hinaus. Die Frau, die Tüte mit der Beute glücklich schlenkernd, der zahlende Partner mit angespannten Gesichtsmuskeln hinterher - so der Idealfall. Aber auch die Variante: gelangweilte Upperclassziege stolziert aus dem Parfümladen, gefolgt von einem Partner, der ratlos aber laut fragt, was er denn noch tun soll, sehe ich unter dem Uhrenturm entlangeilen. Die Läden verbreiten hier den Chic und die Eleganz, die jenseits dessen liegt, was für den Campingfreund von Interesse ist. Kaschmirpullover und Strickwesten von Amina Rubinacci sind im Angebot. Parfums aus den Blüten Capris gibt es bei Carthusia. Selbst kreierter Schmuck stammt von Graziavozza. Ciro Furia residiert hier mit seiner exklusiven Schneiderarbeit. Klangvolle Namen haben sie sich hier ausgedacht. Man findet swatchähnliche Uhren zu Hauf, kunstvolle Keramikgefäße, jemanden der Spitzen- und Klöppelarbeiten für den gehobenen Bedarf anbietet, Galerien, in denen Maler Ansichten Capris zu Preisen anbietet, die höher aufsteigen, je gefragter der Künstler in Capris Kunstkreisen gerade ist. Natürlich ist auch der Rest der Läden von Welt vor Ort, die solche Flecken bevölkern: Bulgari, Dolce und Gabbana, Prada, der ganze Trödel halt. Die Insel der Dichter und Künstler, vollgestopft mit Shoppingqueens. Vor hundert Jahren moserte schon Rilke herum, dass er auf Grund der Mengen an Touristen, die hier ausgekippt werden, keinen poetischen Satz zu Stande bringe. Dabei stand ihm in einem Garten ein Stehpult mit Aussicht zur Verfügung. Aber ein bisschen nachvollziehen kann ich sein Genörgel.
Doch kaum trete ich aus dem Windkanal des Kommerzes hinaus in die Sonne, bin ich wieder versöhnt. An einem Gitter gelehnt bestaune ich erneut die Aussicht auf den Golf von Neapel. Das macht mich für einen Moment sprachlos und lässt mein Genörgel verstummen. Ich gucke verträumt hinüber zum Vesuv und werde dann freundlich aber bestimmt von einer kleinen Asiatin zur Seite gedrängt, die sich in verschiedenen Posen dem Dauerklicken der Kamera ihres Begleiters aussetzt.
Posen und Selfies vor Kulisse sind heute bei Reisenden von hoher Wichtigkeit. Man kann nicht mit einem Reiseort angeben, wenn man ihn nicht beweisen kann. Und nur ein Bild allein reicht nicht. Also postiert man sich vor das Postkartenmotiv, verdeckt es im besten Falle noch und stellt sich selbst in den Mittelpunkt. Viele dieser Schnappschüsse müssen wiederholt werden, weil sie dem Anspruch des Fotomodells nicht genügen. Wie viel digitaler Müll mittlerweile in den Netzen und Servern der Welt schwimmt, weiß kein Mensch. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob digitaler Müll ebenfalls irgendwo für Dreck sorgt und die Umwelt schädigt? Was machen all die unbeachteten Bits und Bites? Finden die sich auch mal irgendwo zusammen, so wie die republikgroßen Plastemüllinseln in den Weltmeeren? Oder reifen sie heimlich zu einer bedrohlichen Intelligenz heran, einem lebensbedrohenden digitalen Müllmonster? Wir sollten alle viel vorsichtiger sein.
Kurze Mittagspause
Wir verlieren uns erneut im Gewirr der Gassen und stehen in einem Treppenabgang plötzlich vor der offenen Tür eines Restaurants. Pfannenklappern und Geschirrklimpern hören wir aus dem Innern. Ohne lange zu überlegen, beschließen wir, dass es Zeit ist für einen kleinen Mund voll. Ein älterer Kellner, Ober oder Restaurantchef führt uns eine Holzstiege hinauf zu einer Galerie und dann in einen kleinen Gastraum, in dem wir an der offenen Tür eines Balkons Platz nehmen. Auf dem Balkon sitzt ein Pärchen und sortiert mit großer Ernsthaftigkeit seinen aktuellen Beziehungsstatus. Hinter dem Pärchen legt sich der spannende Blick auf die Gitter der Balkone des neben stehenden Wohnhauses, mit Sonnenliegen und Wäscheständern. Nach unten kann man die rotierenden Lüfter in den Klimaanlagen sehen, die auf dem Dach der Küche im Erdgeschoss angebracht sind. Wir sitzen im Innenraum und erfreuen uns an den Bildern an der Wand, Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit, als in Marina Grande noch mehr Fischerboote anlandeten, als Fahrgastschiffe und Fähren. Es sind sehr schöne Fotografien, stimmungsvolle Momentaufnahmen von einem Festumzug im Hafen. Bilder von der Schwere und von der Einfachheit des Lebens auf Capri, bevor massenhaft Leute wie wir auf der Insel einfielen, um eine Nase davon abzubekommen.
Ich bin gern Tourist, reise und schaue mir die Welt an. Ich weiß aber sehr wohl, dass der Tourismus einigen Orten nicht besonders gut tut. Und auch der Reisende selbst, erwartet oft mehr von dem Ort, den er besucht, als er am Ende bekommt. Man weiß nichts wirklich von der Schönheit des Paradieses, wenn man es nicht besucht hat. Man kennt nicht die tatsächlichen Farben, nicht die Düfte, spürt nicht die sanfte Brise, hört nicht die Natur atmen, genießt nicht die Ruhe und die Abgeschiedenheit, wenn man nur davon träumt. Um das zu spüren, muss man dorthin reisen. Und wenn man denn da ist, stören einen vor allen all die Leute, die eigentlich nur das Selbe möchten. Oft scheint der Traum, der bessere Ort.
Während ein älterer Kellner unsere Bestellung aufnimmt, serviert uns ein Lehrling die Getränke und das Essen. Er scheint noch ganz neu im Geschäft zu sein, denn er ist nervös und hat offensichtlich Angst vor dem Gast. Am Nachbartisch lässt er eine Gabel fallen. Aber er weiß, von welcher Seite man serviert und verschüttet nichts. Er hat eine leichte Ähnlichkeit mit dem Mann, der uns vorhin zu Tisch führte. Sicher ist dieses Restaurant ein Familienbetrieb. Der Junge wird das alles irgendwann perfekt lernen.
Ich esse Gnocchies mit Meeresfrüchten und die sind wirklich köstlich, was ich dem Kellner und auch dem Lehrling versuche wissen zu lassen. Zwar sind die relativ kleinen Portionen auch nicht gerade billig, aber wir verlassen das Restaurant mit dem Wissen gut bedient und dabei nicht offen übers Ohr gehauen worden zu sein. Man ist ja schon dankbar, wenn man wenigstens dabei an Profis gerät.
Ausblick mit Meerblick
Wieder verlieren wir uns in einem ruhigen Gewirr aus Gassen und kleinen Sträßchen, die uns schließlich zu einem der schönsten Orte der Insel führen. Wir befinden uns im Gardini di Augusto unterhalb der Villa Krupp und oberhalb der Via Krupp. Der Garten ist ein bunter Traum, voller Blütenduft, kleinen schön gestalteten Wiesen und Spazierwegen und an seinen Enden gespickt mit spektakulären Aussichten. Ich blicke von einem dieser Aussichtspunkte herab aufs Meer.

Die weißen Schiffchen schaukeln im grünblau schimmernden Wasser, ein paar kleinere Boote steuern auf den engen Eingang zu, der in eine der vielen Grotten, die man hier besuchen kann, führt. Zwei Felsen steigen steil aus dem Meer am Ausgang der kleinen Bucht. Auf der anderen Seite blicke ich hinab auf die Via Krupp. Diese Straße ist ein steiler serpentinenartiger Aufstieg, der vom Meer hinauf zur ehemaligen Lieblingsbehausung des deutschen Industriellen Friedrich Alfred Krupp führt. Krupp verbrachte von 1897 - 1902 die Wintermonate auf der Insel und widmete sich hier vor allem der Meeresbiologie.

Weil ihm der Weg vom kleinen Hafen Marina Piccollo zu seiner Residenz zu lange dauerte, ließ er diese eng gewundene Serpentinenstraße aus dem Berg hämmern. Heute zählt dieser kleine Weg zu den schönsten Straßen der Welt, obwohl es eigentlich nur ein Fußweg ist. Betreten kann man die Via Krupp nicht. Ein kürzlich erfolgter Steinschlag – gerade erst zwei Jahre her – lässt die Ortsaufsicht um die Sicherheit der Besucher fürchten und vielleicht auch deren Klagefreudigkeit. Am Ende des kleinen Parks, knapp neben dem versperrten Abgang, steht eine Erinnerungstafel an Lenin, der wie Maxim Gorki zu Anfang des letzten Jahrhunderts auf Capri Urlaub von der anstrengenden Revolutionsplanung machten.
Da wir noch mehr von der Insel sehen wollen, beschließen wir, uns durch das Gassengewirr zurück in die Einkaufshochburg von Capri-Ort zurück zu schleichen und uns einen Bus zu suchen, der uns in den kleineren, etwas abgelegenen Ort Anacapri bringen soll.
Von weiten Ausblicken, engen Gassen und beleidigten Navigationsgeräten
Anacapri
Von weiten Ausblicken, engen Gassen und beleidigten Navigationsgeräten
Am Rande des Trubels von Capri Stadt befindet sich ein winziger Busbahnhof - wenn man den denn so nennen darf. An einem Pavillon, der wirkt, wie ein Carport mit drei Parkbuchten, befindet sich ein kleiner Zugang, der aussieht, wie ein offengelassenes Gatter zu einem Ziegenstall. Einem Ziegenstall, der in drei Segmente aufgeteilt ist. Diese heißen Marina Grande, Capri (was gleich um die Ecke ist) und Anacapri. Man muss den richtigen Zugang in diesem kleinen Labyrinthspiel finden, um sich dem gewünschten Bus zuzuordnen. Das scheint schwerer, als es zunächst aussieht, denn fast jeder, der uns in dem Gang zum Bus nach Anacapri folgt, fragt, ob das hier richtig sei, nach Anacapri. Es gehört zu den unerklärlichen Phänomenen des Reisens, dass man sich unsicher fühlt, selbst wenn man den Hinweisen und Wegleitschildern folgt. Vielleicht meint es die Wegmarkierung ja anders, als man es selbst versteht. Oder jemand erlaubt sich einen Witz, über den nur er selbst lachen kann. Wir gehen zuerst durch dieses Gatter und weitere Reisende schließen sich uns an. Ich fühl mich, wie die Judasziege, den genau weiß ich auch nicht, was mich erwartet, erzähle den nach mir Folgenden aber hoffnungsvoll, dass alles gut wird. Wird es auch, denn schließlich schiebt sich der Greyhound in die Parklücke. Nun ja, wenn man Hunderassen als Vergleich bei Bustypen heranzieht, so ist dies hier eher ein behäbig er Mops. Nicht wesentlich größer als ein Werkstattwagen einer Klempnerfirma, besitzt der Bus eine Seitentür zum Ein- und Aussteigen. Über eine steile zweistufige Treppe, die in der Mitte mit einem Handlauf getrennt ist, gelangt man als sehr schneller Menschen zügig ins Innere des Busses, als normal gebauter Mensch mit moderater Geschwindigkeit und als stabilerer Mensch nur mit blauen Flecken. Ich drängle mich am Fahrer vorbei, der mir meine Fahrkarte abnimmt, sie in den Entwerter stopft und abstempelt, als wäre ich, da ich Tourist bin, zu blöd, für solch eine qualifizierte Tätigkeit. Ich schaffe es aber immerhin, mir einen der neun Sitzplätze mit Aussicht zu sichern.
Der Bus schleppt sich mit lautem Röhren Meter um Meter die steile, aber dafür schmale Straße hinauf, legt sich in die engen Kurven, wie ein von schwerer See getroffener Gaffelschoner. Auf einer Seite stützen Mauern und künstlich angelegte Baumbestände die Straße vor Steinschlag und Bergrutschen, auf der anderen fällt der Blick hinab zum Meer. Die Straße nach Anacapri ist, wie auch die Amalfitana, die Straße entlang der malerischen Amalfiküste, eine Meisterleistung der Ingenieurbaukunst des späten 19. Jahrhunderts. Sie windet sich hier um das Kalksteinmassiv des Monte Solaro.
Auf der ganzen Strecke bis hinein nach Anacapri gibt es nur einen Zwischenstopp: direkt an der Eingangspforte des Hotels »Caesar Augustus«. Das befindet sich auf einer Felsspitze und gibt mit einer der prächtigsten Aussichten ganz Süditaliens an. Von der Insel Ischia im Osten über Procida und der Bucht bei Pozzuoli, blickt man weiter bis nach Neapel, dessen abstoßende Gerüche von Müll und Urin man hier nicht mehr ertragen muss. Der Blick schweift hinüber zum friedlich schlummernden Vesuv, über den Golf von Neapel, der Halbinsel Sorrent, dann die Amalfiküpste entlang bis nach Salerno. Dann dreht man sich ein wenig nach rechts und überblickt den Golf unterhalb des Cilento, bis an die Spitze des gerade so erahnbaren Ortes Licosa. Die beiden Golfs oder Golfe oder Golfii - wie auch immer, geben zwei wunderbare schwungvolle Rundungen ab, die in ihrer Mitte von der Spitze der Halbinsel Sorrent getrennt werden. Irgendwo an dieser Küste ist Sophia Loren geboren worden. Vor mir liegt ein strahlend blaues Meer voller weißer Boote, Ausflugsschiffe und Yachten mit angeberischen Ausmaßen. All die kleinen und großen Dreckecken, an denen es dem Großraum Neapel nicht mangelt, sind hier weit weg und vergessen. Dieser Augenblick der Vollkommenheit einer Landschaft von überwältigender Schönheit ist vielleicht nur kurz, aber so einprägsam, wie sich sonst nur ein Gemälde zu einzuprägen vermag. Wer sich hier mit einer Staffelei hinstellt, benötigt sehr viele Blautöne.
Die Preise in diesem Luxushotel mit dem mondänen römischen Cäsarennamen sind nicht gerade für eilige Pauschalurlauber gemacht, wie ich später aus dem Internet erfahre. Wer es sich leisten kann, hier im Überlaufpool, in erstklassigen Restaurants und Suiten mit Übernachtungspreisen von bis zu 4500 Euro das Ambiente zu genießen, bekommt für sein Geld wirklich was geboten: Service, der Wünsche erfüllt, den er gar nicht hat, Betten, deren einzige Funktion es ist, im siebenten Himmel zu landen und Restaurants, in denen das Essen mehr Rätsel aufgibt, als ein Fernsehquiz. Und die Aussicht, diese traumhafte Aussicht übers Meer - die ist allerdings bei allem kaum bezahlbaren Luxus nichts, in das die Hoteleigner irgend eine Form von Eigenleistung gesteckt hätten. Nur dreißig Meter neben dem Hotel ist der An- und Ausblick derselbe, nur ohne Pagen und ohne finanziellen Ruin.

Anacapri erweist sich als die leisere Schwester von Capri-Stadt. Auch hier gibt es ein paar edle Boutiquen, ein paar schicke Hotels und ein paar Kunstgalerien. Doch alles wirkt viel gelassener und weitaus weniger wie ein Basar der Eitelkeiten. Wir laufen ein paar Meter die Promenade herunter und machen uns dann auf die Suche nach einem Hotel für die Nacht. Ich hatte mir auf Booking.com ein preiswertes, aber schickes Hotel ausgesucht, gebe das Ziel in mein Wandernavi ein und wir marschieren streng nach Vorgabe des Gerätes los. Ich verfolge den Pfeil, meine Herzdame die Straße. Wir gelangen an einen Platz vor einer Kirche. Vor dem kleinen Eingangstor gestalten Kinder und Jugendliche einen Teppich aus Blumen. Ein voller Blütenduft steht über dem Ort, den wir langsam durch eine Seitengasse verlassen. Wir passieren eine Straße und landen erneut in einer engen Gasse. Rechts und links erheben sich bis in zweieinhalb Meter Höhe weiß gekalkte Wände, die die Einwohner vor zudringlichen Blicken bewahren. Ich weiß nicht, ob hier gut verwahrt Prominente hausen und es ist mir auch wurscht, aber ob Promi oder Eingeborener, die ewigen Touristen, die hier entlang jagen, würden mir auch auf den Zünder gehen. Allerdings sind wir zu Zeit in dieser Gasse allein. Hier scheint sich kaum ein Tourist hin zu verirren. Und wenn doch, dann ist Verirren der richtige Begriff. Meine Navigationsapp zeigt mir längst nicht mehr an, dass wir uns auf dem Weg befinden, dem wir eigentlich folgen sollten. Eigentlich befinden wir uns laut Navi bereits hinter den Mauern und sollten längst auf dem Schoß irgend einer Filmzicke herumlümmeln. Aber irgendetwas ist hier falsch. Entweder macht das Navi oder die Realität schlapp. Die App saugt sich munter durch den Stromvorrat des Taschentelefons. Daran kanns also nicht liegen. Oder doch?
Der Mensch hat in der langen Geschichte verzweifelter Bemühungen, sich mit komplizierten Erfindungen, Dinge zu erleichtern, die man ohne den Einsatz dieser Erfindungen, schneller erledigen könnte, schon ein paar tolle Treffer gelandet. Das Navigationssystem gehört zweifelsohne dazu. Irgendwo im Nirgendwo befindet sich ein ratloser Mensch und möchte gern nach Haus oder wenigstens ans Ziel des Tages. Er greift zu einem kleinen Stück leblosen Verbundmaterial aus Glas, Aluminium und Silizium, das in der Lage ist, Informationen an ein weitaus größeres Stück leblosen Verbundmaterials aus ähnlicher Materialzusammenstellung zu schicken, das irgendwo hunderte Kilometer über seinem Kopf um die Erde kreist und das in diesem Moment den kleinen Menschen mit dem teuren Taschenspielzeug auf dem großen runden Planeten genau orten kann, während andererseits der geniale, aus Millionen intelligenter Zellen bestehende komplexe Organismus mit seinem enorm leistungsfähigen Gehirn und seinem brillanten in Jahrmillionen evolutionär geformten Orientierungssinn, nicht die leiseste Ahnung hast, wo er sich befindet. Das einzige Problem, das sich zwischen der Information des Satelliten, des Navigationssystems und dem persönlichen Gefühl der Sicherheit, tatsächlich zu wissen, wo man sich befindet, steht, ist die Komplexität der Software. Oder anders ausgedrückt, das eigentliche Problem besteht zwischen der Genialität der Technik, die sich findige, äußerst schlaue Köpfe ausgedacht haben und der eigenen Beschränktheit beim Umgang mit dieser, von findigen und äußerst schlauen Köpfen ausgedachten Technik. Ein Freund, dem nie wirklich was schief geht, wenn er mit technischem Spielzeug konfrontiert wird (oder der dies zumindest nie zugäbe), würde hier generös und augenverdrehend feststellen: “Muss man sich natürlich vorher schon mal ein bisschen mit beschäftigen.”
“Nein! Muss man nicht!” Technik, die hergestellt wird, um angeblich alltagstauglich in den Einsatz am lebendigen Menschen geschickt zu werden sollte funktionieren, ohne das man weiß, was man da überhaupt in der Hand hat. Der größte technische Depp und Handbuchignorant - mich eingeschlossen - sollte ein handflächengroßes Gerät intuitiv bedienen können, ohne einen Schrankkoffer mit Bedienungsanleitungen auswendig gelernt und in tagesfüllenden Workshops an sich selbst getestet zu haben. Und ein Navigationsgerät, dem ich nicht vertrauen kann, weil es sich beleidigt füllt, wenn ich einen Bedienfehler mache und ein bisschen ratlos darauf herum tatsche, ohne mir klar zu machen, was ich tun soll, hat am Ende nur ein wirklich entscheidendes Problem: Mich! Ich schalte es ab und werde es nicht mehr benutzen.

Wir orientieren uns am Straßenschild und folgen dem Gefühl. Nach einer Weile gelangen wir wieder auf dem Platz mit der kleinen Kirche und den Blumenteppich. Man kann sich in den Gassen und entlang der hohen Steinmauern der Grundstücke Anacapris sehr effektiv verlaufen. Genau das machen wir auch weiterhin, da ich nun trotzig weder Navi noch Karte vertraue, sondern nur noch leise vor mich hin seufze. Ich setze mich auf eine kaum kniehohe Steinmauer. Wenige Sekunden später streicht eine bunte Glückskatze um meine Beine. “Kraul mich, am besten zwischen den Ohren” schnurrt dieses kleine feline Flittchen, dem ich nicht widerstehen kann.
Das scheint zu helfen. Ich werde etwas ruhiger - beruhigen können Katzen richtig gut, wenn sie nicht heimlich den Wurstteller auf dem heimischen Küchentisch plündern. Wir brechen wieder auf und nach einigen energischen Schritten in die vermeintlich falsche Richtung, befinden wir uns vor einer recht großen Kirche an einem auch nicht sehr kleinen Platz. Wir fragen einen einheimisch wirkenden Einheimischen, der rauchend über den Platz schlendert. Der erklärt uns wage und kompliziert, wo wir uns befinden. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, so sind wir auf Capri.
Ich zeige auf eine Gasse und sage bestimmt: “Da lang”. Knapp zweihundert Meter weiter erblicken wir ein Hinweisschild, das uns den Weg zu unserem Hotel weist. Manchmal muss man einfach die Initiative an sich reißen.
Das Hotel il Girasole versöhnt uns nach all den Strapazen des Tages gründlich. Mit dem Mann am Empfangstresen kann man nicht nur ein Check-In Gespräch führen, sondern sogar ein bisschen albern Small-Talken. Das Zimmer, das wir bekommen ist zwar klein, besitzt aber einen Zugang zu einer großzügigen Gemeinschaftsterrasse mit rankenden Weinreben und einem grandiosen Gratisblick über das Meer bis hinüber nach Ischia. Ein paar Stufen oberhalb unseres Kämmerchens plätschert das Wasser kühl im blauen Pool und nichts kann uns nun davon abhalten, den Moment zu genießen, uns abzukühlen und zu wissen, dass wir tatsächlich auf Capri angekommen sind und heute auch nicht wieder weg müssen. Jetzt braucht nur noch die scheiß rote Sonne im blauen Meer zu versinken.
Pompeij
In den Ruinen des Altertums - Ein Besuch in Pompeij
Wir betreten eine andere Zeit, eine andere Welt, eine andere Kultur. Nun, vielleicht tun wir das auch nicht so richtig, denn letztlich spazieren wir in Pompeji durch einen touristisch zurecht gekneteten Arbeitsplatz von Archäologen und Geschichtswissenschaftlern, denen es viel lieber wäre, der Tourist würde einfach nur das Geld spenden, dass sie für ihre Arbeit benötigen und sich ansonsten von ihrer Spielwiese fernhalten. Wissenschaftler haben es gern ruhig und einsam, damit sie nachdenken und unbeobachtet vor sich hin murmeln können. Der Blick durch das Loch in einer Plane, hinter der ein junger Vollbartträger mit einer Lupe am Auge eine kleine Tonscherbe betrachtet und leise faselt, bestätigt das Klischee.
Über das Leben und die Einwohner in Pompeji und dem Untergang der Stadt ist erstaunlich viel überliefert. Die Explosion des Vesuv kam nach neueren Erkenntnissen nicht ganz plötzlich. Erdbeben beunruhigten die Einwohner nur bedingt, aber bereits Monate zuvor. Erst als aus dem Berg Wolken aufstiegen, war zumindest Plinius der Ältere etwas überrascht, denn bis zu diesem Zeitpunkt hat niemand den Berg für einen Vulkan gehalten.