Den Calanques kann man sich auf verschiedenen Wegen nähern. Bei unserem ersten Besuch 2009 bestiegen wir einen Ausflugskutter, der uns an der Küste entlang schipperte und uns alle möglichen Buchten von der Meerseite aus zeigte, aber nicht zugänglich machte. (Siehe Cassis 1).
Fünf Jahre später entdeckten wir die Calanques ebenfalls auf dem Seeweg, in dem wir ein Kajak mieteten und an der Küste entlang paddelten, bis wir den schönsten aller Calanques erreichten, den Calanque En Vau.
Diesmal sind wir zu Fuß unterwegs, um über Wanderwege, die gut ausgeschildert sind, ebenfalls bis zum En Vau zu gelangen.
Eine Straße endet an einem Parkplatz mit Getränkeverkäufer und Orientierungskarte. Die ist vor lauter Leuten kaum zu erkennen. Mit Sonnenschirmen und Kleinkinderausrüstung wandern Familiengruppen den steinigen sandigen Weg entlang, der mit dem Pfeil »Calanques – da lang« markiert ist. So kompliziert scheint dieser Weg also nicht zu sein. Wir reihen uns ein und bekommen den ersten Eindruck des Erstaunens aufs Gesicht. Links vom Weg fällt der Hang steil ab zur ersten der vielen Buchten. Eine Reihe von allerschönsten Segelbooten glänzt in einer blauen Badewanne in der Sonne. Nicht in Luxus schwelgende Yachten, wie sie vor St. Tropez angeberisch festgemacht haben, sondern geliebte Segelschiffe, die immer wieder gern aufs Meer gelassen werden, wenn es Zeit und Wetter zulassen. Auf einzelnen Schiffen herrscht regsamer Betrieb. Decks werden gereinigt, kleine Ausbesserungsarbeiten finden statt. An einem hat ein aufblasbares Boot festgemacht, an denen vier Taucher baumeln und sich mühsam ins Bootsinnere wuchten. Das scheint in sofern eine besondere Herausforderung zu sein, da sie gerade gemeinsam von einem Lachanfall heimgesucht werden. Alle vier lachen herzhaft, verschlucken sich dabei an Restwasser, lachen weiter und lauter und die ganze Bucht hallt vom ansteckenden Gelächter wieder. Der Grund bleibt uns verborgen.
Ganz im Gegensatz zum Grund der Bucht. Von unserem erhöhten Stand kann man an bis hinab auf den steinigen Boden der Calanque blicken. Die kalkhaltigen Steine lassen das Wasser hellblau bis türkis erscheinen. An manchen Stellen ist das Wasser so klar, das man seine Oberfläche nicht erkennt und glauben möchte, die Schiffe hängen einfach so in der Luft.
Der Weg führt weiter bergauf, eine sandige Steigung von bis zu 30 Prozent, die für den normalen Wanderer schon eine gewisse Herausforderung darstellt, zumal die Temperaturen ihrerseits die 30 Grad Grenze anpeilen. Ein junger Hund verirrt sich hinter eine Absperrung und kaspert den Abhang hinunter, wird aber vom Frauchen wieder auf den richtigen Weg zurück geschimpft.
Zwei Radfahrer mit Elektromountainbikes lassen die Steigung mit nonchalantem Grinsen hinter sich. “Pas de Problem” denken sie und lassen gleich darauf an der beginnenden Steinpiste ihr Grinsen fallen, denn hier wird das Weiterfahren eine echte Herausforderung, die man nicht allein mit Strom meistern kann.
Der Familienpilgerpfad führt nun über spitze Kiesel und Felsbrocken. Stufenartig angelegt, sind sie gut zu meistern, aber manchmal sind die Stufen und Abbrüche doch groß und rutschig, so dass der Fuß den sicheren Halt vorsichtig sucht. Das ist zumindest bei mir so. An uns vorbei huschen gemsenartig junge schnatternde Franzosen, die nur so über die spitzen Wege springen und hopsen, als wären sie auf dem Weg ins Kino. Oder an den Strand, was richtiger erscheint. Ihre Füße zieren locker oder festere Turnschuhe. Es geht jetzt noch ein paar steilere Passagen hinauf. Linkerhand sieht man immer wieder auf das Meer und auf die enge Einfahrt des Calanques mit dem Hafen hinter der Presqu’ile. Ein weiterer Aussichtspunkt zwingt zum Stopp und wir genießen den weiten Blick übers Meer.
Dann geht es steil bergab. Und steil ist hier nicht das falsche Wort. Hohe, spitze Abstiege mit zum Teil rutschigen Passagen, machen es schwer sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Von unten hört man bereits das Kreischen einer ausgelassenen und zahlreichen Badegesellschaft. Ich halte mich etwas mühsam an einem provisorischen Zaun fest, der den nicht markierten Abstieg vom restlichen Naturschutz abgrenzt, suche den richtigen Tritt nach unten und lasse die hüpfenden Muttis mit ihren Kindern und Buddeleimern lächelnd den Vortritt. Nach gefühlten zehn alpinen Abstiegsminuten erreichen wir den Calanque Port Pin, an dem bereits kaum noch ein Platz frei ist, um ein Handtuch auf die steinige Strandoberfläche auszubreiten. Ringsum wird gebadet, gepiqueniquet oder versucht unter den Steinen ein wenig Buddelsand zu finden. Das Wasser scheint kalt zu sein, denn nur Wenige wagen es weiter in das hellblaue Wasser zu steigen, als bis an den Rand der Badehosen.
Um zum Calanque En Vau zu kommen, gibt es nun zwei Möglichkeiten. Rechts entlang den ausgewiesenen Wanderweg, der mir aber gerade ein wenig zu voll erscheint. Oder links, einen kleinen, blau markierten Weg, den ich mir bereits vorher ausgeguckt hatte und der mehr nach einem Klettersteig aussieht. Da er kaum begangen wird und wir nun die vielen Tagesausflügler hinter uns lassen können, entscheide ich mich dafür. Außerdem sollen die Wanderschuhe auch gerechtfertigt sein.
Es geht wieder steil bergauf. Wir müssen Hände und vereinzelte Baumstämme zu Hilfe nehmen, um uns manch gewagte Kletterpassage hinaufzuquälen. Natürlich kommt uns prompt eine Familie mit Kind und Hund entgegen, die freundlich und keineswegs abgehechelt grüßt.
Der Weg bleibt atemberaubend. Denn immer wieder müssen wir stehen bleiben, um zu Luft zu kommen, teils auch, weil die Landschaft immer faszinierender wird, je höher wir steigen. Die Büsche aus knorrigen Krüppeleichen, Pinien und Kiefern und anderem niedrigen Gewächs, das sich im trockenen Boden halten kann, weißt Dornen auf. Hin und wieder huscht was durchs Geäst und verschiedene Sträucher sind von einem weißen Gespinst überzogen, das wohl auch hier für Ärger sorgt. Es riecht überall nach trockenem Wald. Ein Geruch, den ich aus den Brandenburger Wäldern meiner Kindheit kenne und noch immer liebe, auch wenn er meist dem verstörenden Geruch von Waldbrand vorausgeht.
Vor knapp zwanzig Jahren ist dieser Teil der Calanques, der heute als Naturreservat ausgewiesen ist, komplett einem verheerenden Großfeuer zum Opfer gefallen. Ein Großteil der Küste brannte damals lichterloh. Mittlerweile hat sich die Natur wieder regeneriert. Gefährdet bleibt sie dennoch. Trotzdem lässt man hier gerade in der Sommerzeit unzählige Touristen durchmarschieren. Was mir während dieser Wanderung auffällt, ist wie wenig Müll am Wegesrand liegen bleibt. Genau genommen sehe ich an diesem Tag auf der gesamten Wanderung nicht ein bisschen weggeworfene Plastik in der Gegend liegen, obwohl an den schönsten Aussichten des Pfades immer wieder Familien rasten und ein Picknick veranstalten.
Der Weg führt noch eine ganze Weile oberhalb des Calanques entlang, in dem wir eigentlich baden wollten. Den Abstieg haben wir bisher nicht gefunden und angesichts der Höhe die wir mittlerweile erreicht haben, wird mir die Idee, den Badespaß zu verpassen langsam sympathisch. Wir befinden uns nun auf mehr als 100 Metern über dem Meer und blicken vom Gouffre de Cadeiron, einem weiteren spektakulären Aussichtspunkt, durch einen Einschnitt im Massiv hinüber auf eine Felsinsel, die vor Marseille liegt. Unter uns plätschert der gesuchte Calanques seine Badegäste durcheinander, etwas seitlich und abwärts orientiert klammern sich behelmte Felsenkletterer an den Stein und auf der anderen Seite der Bucht, auf halber Höhe, wo eigentlich kein Mensch vernünftig hinkommt, spazieren Wanderer auf einem schmalen, nicht mit einem Geländer versehenen Grad am Abgrund entlang, einem schmalen Durchlass durch das Gebirgsmassiv entgegen. Ich glaube nicht, dass solch eine spektakuläre Landschaft in Deutschland für jemand anderen zugelassen wäre, als für den Parkranger, vereinzelte Vereinskletterer und Naturforscher mit wissenschaftlicher Lizenz zur Wald- und Wildbeschau.
Wir suchen uns einen gemäßigten Weg durch den Wald, den mir mein Wandernavi ausweist. Ich vertrau dem diesmal vorsichtig, denn ich weiß, dass Cassis nicht weit weg ist.
Irgendwo findet sich eine Kreuzung mit Wanderschild. Es weißt in eine Richtung zum Badestrand, dem gesuchten En Vau. Die andere Richtung schickt uns nach Cassis, das nur knappe 3,4 km entfernt sein soll. Irgendwo da muss es ein kaltes Bier geben. Die Richtung bekommt also Priorität.
Der Weg ist nicht gerade leer. Wieder sind junge und alte Wanderer, Badewillige und auch eine Gruppe Jungspunde unterwegs. Letzte haben sich als Getränk Weißwein und Bier mitgenommen. Ein junger Mann liegt mit einem blutenden Knie auf einer Felsplatte, umringt von johlenden jungen Menschen. Unsere Hilfe lehnt man ab. Es wäre alles ok, man ruhe sich nur aus, lallen die Leute in einem Sprachgemisch, aus Französisch und Italienisch. Es riecht nach Fusel und wir überlassen die Gruppe ihrem Schicksal. Ein japanisches Rentnerpaar überholt uns. Eine junge Dame in langem luftigen Kleid kommt uns entgegen. Ich rutsche auf dem kiesigen Schotterweg aus und sitze auf dem Hintern. Natürlich vor Publikum.
Schließlich erreichen wir auf diesem Weg den ersten Calanques, der nicht weniger Badelustige aufweist, wie vor drei Stunden. Nach kurzer Kraxelei hinauf, erreichen wir die Bucht mit den Segelschiffen. Am Wegesrand sucht ein junges Wildschwein nach Nahrhaften und lässt sich von den Wanderern und Touristen in allen möglichen Posen fotografieren.
Es steht am Eingang des Naturparks extra ein Schild, das ermahnt die Schweine nicht zu füttern. Fotografieren ist aber erlaubt.
Dann erreichen wir abgekämpft das Hotel und die davor befindliche kleine Bar, in der ein großes Bier leise vor mir verzischt.