Moorwanderung
Wenn man den Kahnhafen in Lübbenau hinter sich lässt und sich den wegweisenden Schildern Richtung Innerer Spreewald, also zu den Dörfern Lehde, Leipe und dem Kurort Burg/Spreewald anvertraut, kann man sich eigentlich nicht verlaufen. Da die meisten Wege rechts und links von Flussläufen und Fließen gesäumt sind, landen alle Wege irgendwann an einem neuen Wegweiser oder im Wasser. Es sei denn … . Nun gut.
Es soll ein kleiner Spaziergang werden. Bis Burg-Hafen sind es etwa 11 km. Dort gibt es ein kleines Café, das lecker Kuchen im Angebot hat. Als Fernziel klingt das machbar. Danach wieder zurück zulaufen, erschrickt kilometerorientierte Wanderer wie uns kaum. Als Jahreswandereinstieg im harmlos flachen Spreewald also keine Hürde. Aus Lübbenau führt ein sehr langer, sehr gerader und sehr schöner Weg bis Leipe. Hohe Bäume säumen ihn. Beidseitig begleiten den Weg Fließe, so dass er wie ein Damm zwischen den Wassern verläuft. Hin und wieder sorgt eine Brücke für einen kleinen Anstieg. Unter uns gurgeln die Wasserwege entlang, die wir im Sommer gern mit dem Kanu abfahren. Der Weg ist ein Lehrpfad. Es hängen immer wieder Schilder an den Bäumen, die auf die Tierwelt des Spreewaldes hinweisen. Mal erklären sie die heimischen Vögel, mal das Wild und welche Spuren sie hinterlassen und mal die Vielfalt des Baumbestandes. Wegweiser tauchen sporadisch auf. Eine der Tafeln weist einen interessanten Schreibfehler auf. Lübbenau wurde dort versehentlich verkürzt und wirkt in der Schreibweise „Lübbeau“ wie ein Dorf in einer hügeligen Gegend der Provence. Da es nicht sonnig ist und kleine angedeutete Schauer den Wanderweg schön feucht halten, hält sich die Schar der Waldbesucher in Grenzen. Eine Joggerin kommt uns mit ihrem Hund entgegen. Ein Radfahrer quietscht geschäftig Richtung Leipe. Das war es. Der Wald scheint nur für uns da zu sein. Alle 800 Meter steht eine Bank, ein Papierkorb und ein Schild mit dem Hinweis “Rettungspunkt”. Darunter steht die Standortnummer, die bis Leipe L1 – L19 heißen und, für die, die sie nicht auswendig kennen, die Nummer des Rettungsdienstes. Eine Luftpumpe liegt verloren am Wegesrand. Ich schleppe sie mit bis zum Ortsrand von Leipe. Sonst passiert hier nichts Aufregendes. In Leipe hat erwartungsgemäß alles zu. Die Saison beginnt im April, wenn die Boote rausgelassen werden, denn der bevorzugte Wanderweg ist die Spree. Die Gaststätte am Spreeknick kurz vor der Schleuse, die im Sommer vor Besuchern nur so brummt, liegt verlassen am Wasser. Kein Lübbenauer Babbenbier, keine rote Brause, kein Quark mit Leinöl. Nichts.
Wir betrachten am Straßenrand ein Wartehäuschen für den Schulbus. Das dient auch als zentraler Anschlagplatz für Ortsnews. Dankesschreiben für eine gelungene Geburtstagsfeier hängen da und der Plan für die kommenden Feierlichkeiten, wie Kinderfasching, Männerfastnacht, Frauentag, Zampern und Rudelübergabe. Mit der Rudelübergabe an die Fährleute durch den Bürgermeister eröffnet in jedem Jahr die Kahnfahrersaison. Inoffiziell fahren allerdings auch im Winter vereinzelt Kähne durch den Spreewald. Mit Decken zum Außen wärmen und Schnäpschen zur inneren Erwärmung. Das Zampern ist dann noch ein anderer Spaß, den wir einen Tag später in Lübbenau näher betrachten können. Heute ist hier jedoch rein gar nichts los und wir ziehen weiter, bis wir an ein Schild gelangen, das uns mehrere Wege weist. Nach Burg-Kuchen geht es geradeaus. Der Hunger ist nach dem reichhaltigen Frühstück allerdings klein, bis gar nicht vorhanden. Der andere Weg soll laut Wegweiser über einen Rundwanderweg zurück nach Lübbenau führen. Zwölf Kilometer steht dran. Klingt vernünftig. Dafür veranschlagen wir zweieinhalb Stunden. Kuchen gibt es auch in Lübbenau. Wir schreiten also beherzt aus und lassen eine Wassermühle hinter uns. Die Dubkaumühle samt Gasthaus ist ohnehin geschlossen. Im Sommer ist es ein beliebter Anlaufort für radfahrende Touristen. Kurz hinter der Mühle treten ein paar Gallowayrinder durch den Matsch. Diese schottische Rindersorte scheint sehr robust zu sein. Sie wird auch im Winter gern draußen gehalten. Die Viecher erinnern mich etwas an den Wookie aus Star Wars. Ein dickes Zottelfell hängt den Tieren vom Leib. Frieren dürften die damit nicht. Wir überqueren über eine der hübschen Spreewaldbrücken einen Wasserlauf, der den Namen Schweißfließ trägt. Ich erspare mir irgendwelche Gedankenspiele.
Der Weg führt uns an Feldern vorbei zur Radduscher Buschmühle. Diese liegt am Südumfluter, einem der drei Hauptarme der Spree, die den Spreewald umschließen bzw. durchziehen. Der Südumfluter bildet, wie es der Name schon verrät, den südlichen Rand des eigentlichen Spreewaldes. Die Buschmühle war bis in die dreißiger Jahre wie viele andere Orte in der Region nur mit dem Kahn zu erreichen. Sie diente als Öl- und Getreidemühle zugleich und die Bauern mussten manchmal länger mit ihrem Getreide ausharren, bis sie an der Reihe waren. Die Zeit vertrieben sie sich mit Schmalzstullen, Gurken und Bier. Das war hier möglich, denn die Buschmühle besaß ein Schankrecht. Von der Buschmühle halten wir uns rechts und wandern am Südumfluter entlang. Zwar stand am Wegweiser nicht mehr Lübbenau, sondern nur noch Rundwanderweg, aber der Hinweis stand ja an der letzten Kreuzung auch. Ein einsamer Angler hält seine Rute ins Wasser. Die Bäume sind hoch und mächtig, manche weisen Spuren von Biberfraß auf.
Auch hier laufen wir wieder wie über einen Damm, denn links zieht sich erneut ein schmaler Flutgraben am Weg entlang. Dieser Graben trägt, wie ich später herausfinde den seltsamen Namen A-Kamske-Graben. Warum der so heißt, verrät mir das Internet auch nicht spontan, aber ich könnte dem Leser nach meiner Recherche verraten, welche Postleitzahl der Graben hat. Falls mal jemand dem Biber vor Ort einen Brief schreiben möchte. Biber sehen wir nicht. Dafür leuchtet etwas Weißes auf der Wiese. Beim Näherkommen mache ich das weiße Tier als einen Silberreiher aus. Genau wie der Graureiher ziehen diese Vögel nicht mehr über den Winter davon und gehören zudem zu den wenigen Vögeln, die man nicht als gefährdet einstuft. Ist ja auch mal schön zu lesen. Der Reiher steigt auf und setzt sich einige Meter später wieder in die Wiese. An dem Ort, an dem er abhob, erkenne ich ein paar seltsam aufragende Grasbüschel. Ich schaue durch mein Okular und die Grasbüschel schauen mit rattigen Nasen und dunklen Augen zurück. Als Stadtmensch bin ich immer wieder entzückt Wildtiere zu beobachten. Leider kann ich das nicht leise. Ein freudiges “Oh, guck mal da. Nutrias”, lässt die vier Viecher schnell in den nächsten Bach flitzen. Es platscht kurz und die Naturbeobachtung beschränkt sich wieder auf Sträucher.
An einzelnen Stellen hat die Forstwirtschaft Bäume gefällt. Auffallend ist die Farbe des Holzes und der Sägespäne. Ein gelb-oranger Ton leuchtet an den Stellen, wo die Kettensäge wütete.
Wir laufen noch ein paar Kilometer weiter, bis wir wieder an eine Brücke gelangen. Der Wanderweg am Südumfluter endet hier und wir müssen ihn wieder überqueren. Laut meinem Navi ist Lübbenau nur noch zwei knappe Kilometer links von uns. Ein mit einer Wanderwegmarkierung versehener Pfad führt über eine Brücke. Als wir von der Brücke runterschauen, kann ich nur noch vermelden: “Da haben wir den Salat”. Der Weg verschwindet in einer überfluteten Wiese, die in wunderschönem leicht überfrorenen Weiß glänzt. Uns bleibt also nicht weiter übrig, als auf dem Forstweg auszuweichen, der uns parallel zum ersten langen Wanderweg wieder nach Leipe führt. Keine fünfhundert Meter links von uns führt er mit seinen netten Rettungsstellenhinweisen direkt nach Lübbenau, doch dazwischen liegen brückenlose Fließe, Wald und Moor.
Das erste Moor, das wir passieren heißt Sauenmoor. Das Sauenmoor ist eines von mehreren kleinen Moorgebieten auf dem Moorlehrpfad, der von Raddusch aus durch den Spreewald führt. Man sollte hier nicht an die gespenstischen Moore denken, die Edgar Wallace und ähnlich Kriminalgroteskenschreiber ersonnen haben, um Leute verschwinden zu lassen. Es ist auch nicht mit dem Dartmoor in Englands Süden zu vergleichen, wo man besser nicht vom Wege abkommen sollte. Da kann es schon mal passieren, dass einem ein überraschtes „Oh“ entfleucht, während man langsam vergluckert. Die Moorlandschaft im Spreewald hat unter der landwirtschaftlichen Nutzung und dem jahrelangen Torfstich sehr gelitten. Das Moor ist hier, wie im benachbarten Hirschmoor bestenfalls noch 100 cm tief. Dann stößt man auf eine wasserundurchlässige Tonschicht. Wer also auf eigene Gefahr ins Moor geht, darf je nach Körpergröße bis zum Bauch versinkend in Panik geraten, bevor seine Füße beim Strampeln festen Boden berühren. Ab da sollte er sich Gedanken machen, wie er aus der Grütze wieder rauskommt.
Moore sind interessante ökologische Beispiele dafür, auf welch vielfältige Weise die Natur ihren Kreislauf in Schuss hält. Während der bekannte Weg des Wasserkreislaufs aus Verdunstung und Niederschlag besteht und der des Vergehens von Leben sich in der Verwandlung eines Körpers zu Erde äußert, stellt sich das Moor diesem gängigen System gegenüber etwas bockig an. Niederschlag kann dort nicht in dem Maße verdunsten, wie anderen Ortes, wo das Land trocknet, weil der Boden entweder durch Grundwasserzufuhr ständig gesättigt ist oder die Gegend ohnehin von mehr Niederschlag verwöhnt wird, als sie wieder wegschicken kann. Pflanzen verrotten dort nicht vollständig. Dadurch speichern sie ihr angesammeltes CO2 und geben es nicht an die Umwelt ab. Die Feuchtigkeit bringt zudem mehr Pflanzen zu Tage, als sich zersetzen können. Die organischen Ablagerungen werden schließlich zu Torf. Die Torfschicht wächst sehr gemütlich. Von einem Millimeter pro Jahr redet die Wissenschaft. Lässt man dem ganzen etwas Zeit, so ein paar Milliönchen Jahre, entsteht Kohle. Die kann man dann verbrennen und das ganze gespeicherte CO2 wieder an die frische Luft setzen. Man kann aber auch einfach nichts machen und dem Moor beim Wachsen zuhören. Es ist ein wunderbar ruhiges Gebiet, da sich außer ein paar Wildvögel hier kaum jemand rumtreibt. Wenn es im Sommer etwas trockener ist, kommen noch Unke, Mücke, Reh und Fuchs dazu. Aber im Winter lässt sich bestenfalls mal ein Wildschwein sehen, um am Rande des Moores ein bisschen Rumzusauen.
Es sind ein paar Kilometer zu laufen, bis wir wieder an die Kreuzung des Rundwanderweges gelangen. Unterwegs können wir Wildgänse beobachten, die auf dem Rückflug aus den Winterquartieren über uns herumgackern. Klopfende Spechte gibt es viele. Bunt-, Grün- und Schwarzspecht lassen sich blicken. Hinter der Dubkowmühle mit seinen Gallowayrindern, die wir nun wie alte Bekannte begrüßen, kaspert ein Schwarm Schwanzmeisen durchs Gehölz. Am Ortsausgang von Leipe, dessen Kneipenschließzeiten ich jetzt weniger sympathisch finde, als auf dem Herweg, liegt noch immer die Luftpumpe, so wie ich sie abgelegt habe auf einem Gully am Wegesrand. Entlang des ewiglangen geraden Leiper Weggrabens führt uns die Wanderung zurück nach Lübbenau. Ein Graureiher begleitet uns ein Stück, fliegt auf und setzt sich dann alle fünfzig Meter wieder ans Ufer, bis wir nahe genug sind. Dann huscht er wieder ein Stück weiter. Jetzt beginnt es auch noch etwas zu regnen. Und endlich erscheint das Rettungsschild Nummer drei an der Brücke. Nun geht es über die beiden Brücken am Hafen und über die Hauptspree hinüber. Spontan beschließen wir, nicht mehr zum Kuchenessen in die Innenstadt zu laufen. Auch weil mir diese letzte Brücke, von der aus wir direkt zur Orangerie unseres Schlosses gelangen, jetzt arg hoch und steil erscheint. Im Schloss habe ich die vielen Holzstufen hinauf in den zweiten Stock in diesem Moment nicht mehr ganz so lieb, wie am Morgen. Im Hotelzimmer reiße ich die Schuhe von den Füßen und die Minibar auf. Egal was es kostet. Eins der beiden kleine Biere ist meins. Beim nächsten Mal sollten wir uns auch für so einen kleinen Spaziergang eine Flasche Wasser mitnehmen. Mein Wandernavi gibt allerdings nur enttäuschende 27 Kilometer aus. Gefühlt waren das viel mehr.