Falsterbo
Die meisten Zugvögel verlassen Schweden via Falsterbo. Die kleine Halbinsel nahe Malmö ist ein beliebter Ort für die südwärts ziehenden Tiere. Hier tanken sie noch einmal auf, nach der beschwerlichen Anreise, bevor sie das Meer überqueren.
Wir wollen Schweden ebenfalls verlassen. Die Fähre wartet in Trelleborg, aber erst um Mitternacht. Die Reise aus dem mittleren Norden des Landes über die schwedischen Autobahnen und Landstraßen war anstrengend. Wir halten am frühen Nachmittag in Falsterbo, das nicht weit von Trelleborg entfernt ist, um etwas Ruhe zu finden, bevor wir in der Nacht die Fähre übers Meer nutzen, um spätestens morgen Mittag wieder zu Hause zu sein.
Die Sonne spielt heute richtig Sommer. Wir lassen die Fenster des Autos runter und verlassen die Fernstraße. Malmö umfuhren wir weiträumig. Jetzt sehen wir links der Landstraße saftiges Marschland. Rechts zieht sich ein schmaler Waldstreifen entlang, durch den vereinzelt ein paar schmale Wege führen. Am Straßenrand erinnern mich Schilder mit abgebildeten Kameras daran, die Geschwindigkeit zu drosseln. An einem Kreisverkehr biegen wir nach Falsterbo ab, lassen die Einfahrt zum Campingressort hinter uns und halten schließlich auf einen langgezogenen sandigen Parkplatz, der gut frequentiert ist.

Um zum Strand zu gelangen, müssen wir einen schattigen Dünenwald durchqueren. Der mit Holzplatten belegte Weg führt uns zunächst am Fotografiemuseum vorbei. Das ist ein großer klotziger, schwarz gestrichenen Kasten mit reichlich Glas. Das Gebäude ist so hässlich, dass es sicher einen Architekturwettbewerb gewonnen hat.
Wir überlegen kurz, ob wir uns die Fotoausstellung sofort ansehen oder lieber direkt an den Strand gehen wollen. Wir folgen dem Rauschen des Meeres. Außerdem haben wir Decke und Badeutensilien bereits in der Hand. Die werden wir sicher nicht mit in die Ausstellung nehmen.
Den sandigen Dünenweg säumen langstämmige Kiefern. Die Hitze und der leichte Luftzug, der vom Meer her weht, lassen den Duft trockner Kiefernnadeln in meine Nase steigen. Hier verbreitet mein Lieblingsparfüm: “Eau de Waldbrandstufe Vier” sein Aroma. Ein paar sandige Meter weiter betreten wir die letzte der hohen Dünen und schauen hinab auf das Wasser, das sich nur von ein paar gelangweilten Wellen bewegt, weit und blau vor uns ausbreitet.
Es liegt Seetang am Ufer, nicht viel davon. Ein paar Strandbesucher liegen ebenfalls herum. Der Strand zieht sich in beide Richtungen endlos entlang. Er bietet genügend Platz für alle Anwesenden, um sich zu großzügig verteilen.
Unterhalb unseres Abgangs von der Düne entdecke ich eine kleine Senke, in der wir unsere Decke ausbreiten und unsere Sachen ablegen. Ich bin kein Freund von stundenlangen Strandaufenthalten. Ich habe nie begriffen, was so toll daran ist, sich mit klebrigem Sonnencreme voll zu schmaddern, sich auf einer Decke anzurichten und herumzuliegen, bis der Rücken Blasen schlägt. Mir ist das eigentlich zu langweilig.
Aber nun sind wir schon mal hier und haben viel Zeit. Ich verteile großzügig die Sonnencreme auf meinem Bauch, lege mich in die pralle Sonne und ziehe mir die Schirmmütze über die Augen. Ich nicke kurz weg. Nach einigen Minuten hat der leichte Wind eine veritable Sandschicht über die gecremten Stellen gehaucht und ich fühle mich wie ein frisch gebackenes Sesambrötchen.

Jetzt wäre ein Bad in der Ostsee eine gute Idee, denke ich und erhebe mich langsam. Ich stapfe zum Ufer. Rein rennen und beherzt reinspringen, war meine Idee. Aber das gestaltet sich schwerer als gedacht. Ich muss ein ganzes Stück durch die lauwarme Ostsee wandern, bevor auch nur die Badehosen nass werden. Wenn meine geografische Orientierung halbwegs was taugt, könnte ich jetzt geradewegs bis nach Rügen laufen. So weit weg ist das gar nicht. Und so wie der Untergrund hier aussieht, würde ich nicht mal richtig nass werden. Doch dann fällt der Sandboden doch tief genug ab, um ein paar Schwimmzüge zu versuchen. Ich bin weit, weit weg vom Strand und meiner Herzdame, die mir hochachtungsvoll nachschaut, zumindest glaube ich das, da ich nicht besonders häufig im Wasser zu sehen bin. Nach einer Weile trotte ich den ganzen langen Weg zurück.
Mit dem Sand habe ich mir bestimmt auch die Sonnencreme abgespült. Ich verteile noch einmal halbherzig ein paar Handvoll Glibber und lege mich wieder hin. Später kauen wir ein bisschen auf Nüssen und Rosinen rum, lesen etwas, betrachten Kinder und Erwachsene beim Rumtollen und Strandburgen bauen und Möwen beim Segeln. Wir gehen beide noch ein paar Kilometer im Meer spazieren. Meine Herzdame nennt es Baden. Dann haben wir genug.
Vom Auto, in dem wir die Badesachen verstaut haben, laufen wir noch einmal durch den Dünenpark. Der verwandelt sich hier in einen dicht bewachsen Wald. Kleine Pfade führen durchs Gelände. Hier und da steht ein Schild, das uns zur Kirche führen will. Es geht ein bisschen wild durchs Dickicht und dann stehen plötzlich kleine, bunte Holzhäuser vor uns. Alle schön in Reihe, rechts und links des Sandpfades. Sie sind kaum höher als zwei Meter, habe einen winzig kleinen überdachten Austritt mit einem Zaun drumrum vor der Tür und zwei schmale Bänke rechts und links des Eingangs. Die Tür führt in einen Raum, der lediglich ein kleines Fenster auf der Rückseite besitzt und ansonsten nicht länger ist als ein ausgestreckt liegender Mensch. Ob darin eine vierköpfige Familie vierzehn Tage lang Urlaub macht, wage ich zu bezweifeln. Die bunten Holzbuden sind hier typisch und haben die Funktion als Badehäuser. In den Hütten zieht man sich ungesehen um und lässt seine Sachen zurück. Und wenn es zu Regnen beginnt, kann man sich auch unterstellen.
Vor über hundert Jahren war dies einer der angesehensten Badeorte an der schwedischen Südküste. Der Bau der luxuriösen Meeresbadeanstalt Falsterbohus im Jahr 1908 und die Anbindung an die Bahn brachte Mengen an Badegästen in den Ort. Große Holzgerüste wurden in den Seesand gerammt, um steile Wasserrutschen zu bauen, von denen sich die todesmutigen Kaltbadegäste, wie man Meeresbadende damals nannte, in die für viele eisigen Fluten stürzen konnten. Zehn Meter hoch war die höchste der Rutschen. Am Strand trugen die Damen Sonnenhut, die Herren Kreissäge. Im Wasser trug man Badekappe und züchtige Sportbekleidung. Die Badehäuser sorgten für den nötigen Anstand beim getrennten Umkleiden.
Auch heute kommen im Sommer immer noch Leute einfach nur zum Baden hierher, aber der Trend geht eher dahin, sich mit dem Wohnwagen auf dem Campingplatz zustellen oder sich gleich am Rande des Ortes ein Häuschen zu kaufen.
Wir spazieren noch eine Weile am Strand entlang und dann steuern wir langsam über den Dünenpfad zum Fotografiemuseum.
Der Titel der aktuellen Hauptausstellung des Museums lautet „Dressed for Success – 100 Years of Fashion Photography“. Das Plakat verspricht gut ausgeleuchtete Promis fotografiert von Starfotografen, wie Helmut Newton, Richard Avedon, Peter Lindbergh, Ellen von Unwerth und noch ein paar anderen berühmten Leuteknipsern, deren Namen ich mir nicht merken kann. Wir schauen uns ganz gern Fotos an, am liebsten Schwarz-Weiß und sind nun gespannt, was uns erwartet.
Nachdem wir einen guten Wochenlohn für den Eintritt bezahlt haben, lassen wir uns durch die geräumigen Hallen treiben. Die einzelnen Säle sind gut ausgeleuchtet. Manchmal so gut, dass sich die Lampen im Bild widerspiegeln und manche Fotos nur unklar zu erkennen sind. Ein Problem, mit dem man in vielen Kunsthäusern und Galerien konfrontiert ist und für das es keine rechte Lösung zu geben scheint. Die ausgestellten Fotos sind durchgängig hervorragend inszenierte Kunstwerke der ungenierten Eitelkeit. Das ist der Sinn von Modefotografie. Modefotografie will angeben. Doch nicht immer ist auf den Fotos zu erkennen, worin hier die eigentliche Mode besteht.
Wenn Kate Moss nur im Schlüpfer, langen Strümpfen, einem dünnen BH und ein paar Handschuhen eine Treppe herab schreitet, weiß man zwar, dass das nicht ihre persönliche Unterhose ist, die sie da trägt, sondern Leihunterwäsche eines berühmten Unterwäschedesigners. Es ist also eine Form dezenter Reklame.
Inwiefern man allerdings noch von Modefotografie reden kann, die Bilder völlig unbekleideter Models zeigt, erschließt sich mir nicht. Nach drei Räumen darstellendem Posings glaube ich, dass die meisten Fotos im Studio “Mops und Muschi” entstanden sind. Und damit meine ich keinen Salon für Tierfotografie. Helmut Newton hat in seinem Leben brillante Fotos geschossen. Viele Momentaufnahmen, viele Porträts, viele Aufnahmen, die Zeitgeschichte schreiben. Allerdings sind es vor allem die Bilder unbekleideter Promis, bei denen die Fotoliebhaber der Welt hinten Überkippen vor Vergnügen. Es scheint eine besondere Anziehung darin zu bestehen, Menschen an den seltsamsten Orten der Welt in völliger Bekleidungslosigkeit posieren zu lassen und abzulichten. Was dann wohl Kunst ist, wenn man einen Namen hat, während man bei der Betrachtung ähnlicher Präsentationen völlig unbekannter Personen im Internet schon mal den Arbeitsplatz verlieren kann.
“Dressed for Success”, ist mit “Angezogen für den Erfolg” in vielen Teilen der Bilderfolge eher schlecht übersetzt. Die Ausstellung, die dann im folgenden Jahr folgen soll, heißt übrigens “Nude, Famous - Oysters and Champagne” und stellt Weltberühmtheiten unbekleidet inmitten von Luxus dar. Ich weiß, dass der Anspruch dahinter darin liegt, den Prominenten als einfachen Menschen hinter der Fassade zu zeigen. Doch leider schaffen das die meisten Fotos nicht. Sie zeigen nicht den starken oder den verletzlichen Charakter des jeweils abgelichteten Menschen, sondern bleiben kunstvoll ausgeleuchtete Eitelkeiten, fotografiert von Künstlern, deren Lebenswerke nicht ausschließlich in der Ablichtung von Nacktheit bestehen, die aber gern darauf reduziert werden.
Ein wenig übersättigt von so viel nacktem Fleisch verlassen wir die Ausstellung. Wir bemerken aber ein deutliches Hungergefühl.
Dem Museum angeschlossen ist ein Restaurant. Es befindet sich im unteren Segment des Ausstellungsbaukastens und verfügt nebenher über eine großzügige Terrasse. Bis auf einen Tisch, an dem vier älterer Personen sitzen, ist die Restaurantterrasse leer.
Wir schauen nicht sehr lange auf die Karte am Eingang, die wir ohnehin nicht verstehen, sondern suchen uns ein schattiges Plätzchen mit Blick auf die Dünenlandschaft. Wieder ein bisschen sitzen zu können, gefällt mir nach der langen Wanderung durch das Museums ganz gut. Es ist immer noch sehr warm und ich freue mich auf eine eiskalte Cola.
Die Kellnerin kommt und fragt, ob wir reserviert haben. Angesichts der Leere des Restaurants verneinen wir. Sie sagt, dass sie dann erstmal nachfragen muss, ob sie uns angesichts nicht erfolgter Reservierung überhaupt bewirten dürfe. Als sie wiederkommt, reicht sie uns die Speisekarte. Offensichtlich darf sie uns bewirten. Ich bin beruhigt und ordere sofort die Getränke.
Wir wollen auch etwas Essen, denn bis wir an Bord der Fähre kommen, vergeht noch ein langer Abend. Die Speisekarte des Bistros Perspektiv ist recht übersichtlich. Dafür sind die Preise gepfeffert. Wer in Schweden Essen gehen will, sollte über ein dickes Sparschwein verfügen. Unser Hunger schmilzt auf Imbissniveau und wir denken uns, eine Wurstplatte mit Brot und Oliven für 23 € pro Person sollte eigentlich auch reichen. Es ist ohnehin zu warm für ein heißes gegrilltes Steak für 40 Euro.
Die Wurstplatte ist eine ziemliche Überraschung. Auf jedem der beiden Teller befindet sich Salami, Chorizo und mehrere Scheiben Schinken. Verschiedene Sorten. Eine Sorte ist mager, eine durchwachsen, eine weitere sehr durchwachsen und eine besteht nur aus dem Durchwachsenen. Sie ist fast ausschließlich aus dem fettigen Teil einer Schinkenschwarte hergestellt. Das ganze Wurstarrangement schwimmt in Öl. Die Kellnerin klärt uns kurz über das kulinarische Ensemble auf. Wir begreifen nichts und nicken verstehend. Während wir vorsichtig kosten, bemerken wir, dass es gar nicht mal so übel schmeckt. Nur die fettige Sorte Schinken, die würde ich nicht einmal meiner Katze anbieten. Insgesamt besteht die Wurstplatte, so überschlage ich, aus ungefähr 200 Prozent Cholesterin. Aber die Cola ist gut, die enthält ja nur gesunden Zucker.
Irgendwie sind wir nicht satt geworden, aber mir ist trotzdem schlecht. Wir stoßen und brechen auf und begeben uns zum Auto. Es ist immer noch genügend Zeit, bis wir in Trelleborg einchecken müssen. Ich weiß nicht, ob die Fährbetriebe noch einen aktuellen Coronatest benötigen, also fahren wir vorsichtshalber rechtzeitig Richtung Fähre. Dort stehen wir mit zahlreichen anderen Autos ein paar Stunden auf dem zugigen Parkplatz und beobachten die Rangierarbeiten auf dem Gelände. Drei reifere Herren aus Zittau stehen in ihren selbstbestickten Motorradjacken vor uns und betrachten eine Harley aus Holland. Ein Radfahrer steht mit seinem vollgepackten Rad in kurzem Fahrradoutfit an einem Zaun und bewegt sich lange nicht, bis er irgendwann zu zittern anfängt und eine Jacke aus dem Gepäck wühlt. Als unsere Fähre offiziell ablegen soll, sind wir immer noch nicht an Bord. Und nachdem wir schließlich doch unser Auto im Bauch des Schiffes verpackt haben, finden wir lange unsere Kabine nicht. Es ist eine Stirnkabine und damit die einzige, die sich nicht in direkter Nummerierungsfolge finden lässt. Nach mehreren Runden durch die Gänge werden wir aber doch noch fündig. Ich besorge uns noch zwei Bier aus der Bordversorgung. Essen will ich nach der reichhaltigen Wurstplatte immer noch nichts. Die Biere zischen schnell weg. Wir sind kaum unterwegs, da sind wir auch schon müde genug, um einen Versuch zu machen, beim beständigen Brummen des Schiffsmotors Schlaf zu finden. Ich lege meine Wäsche ab und will mir gerade den Schlafanzug anziehen, da beginnt meine Herzdame plötzlich laut zu lachen. Ich verstehe nicht, was los ist. Erst als ich mich vor den Kabinenspiegel stelle, sehe ich das Dilemma. Ich hatte mich wohl nur unzureichend mit Sonnencreme eingerieben, bevor ich am Strand kurz einschlief. Die Sonnenschutzmaßnahme war nicht wirklich flächendeckend. Bauch und Brust sind partiell knallrot, andere Stellen weiß. Meine aktuelle Körpermusterung erinnert an eine Tafel Kuhfleckenschokolade.
“Toll” denke ich. “Da bin ich im Freibad der Hingucker”. Ich gehe noch mal kurz unter die Dusche und bemerke erst jetzt, dass der Sonnenbrand Sonnenbrand heißt, weil er brennt.