Im Schwarzwald ticken die Uhren auch nicht anders, als in Berlin. Ihr Gong klingt nur schöner. Statt einem preußischen Blechscheppern, sind es hier die Kuckuckse, die aus den Uhrenhöhlen tönen. Das klingt so lieb wie die Sprache der Badener Leute. Und die sollte man nicht mit dem Schwäbisch der Württemberger verwechseln. Der Badener Sprachschatz fußt auf dem Alemannischen. Der Südwestdeutsche Raum, der Elsass und einige Gebiete der Nordschweiz sind sprachgeschichtlich wesensverwandt. Auch das Schwäbische gehört dazu, doch die Badener geben sich gern etwas abgegrenzt gegenüber ihren Nachbarn im Ländle.
Der aktuelle deutsche Zufriedenheitsatlas – auch als Glücksatlas der Deutschen Post bekannt – behauptet, dass die Badener nach den Leuten in Schleswig-Holstein die glücklichsten Deutschen sind. Wie so oft, ist der Mensch nicht immer besonders gut in der Lage, Glück auch deutlich zum Ausdruck zu bringen, geschweige denn, andere daran teilhaben zu lassen. In Freiburg behalten sie diese innere Glückseligkeit jedenfalls hervorragend für sich.
Es ist Montagmorgen. Der Kühlschrank in unserem Ferienhaus sieht recht leer aus. Frische Brötchen fehlen ebenso, wie brauchbarer Belag. Warum nicht irgendwo nett frühstücken, schlage ich vor. Freiburg böte sich an. Das ist nicht besonders weit weg und ist immerhin eine Universitäts- und Studentenstadt. Da wird sicher oft genug vormittags manch junger Mensch die Wahl zwischen Vorlesung und Frühstück zu Gunsten eines vollen Magens ausfallen lassen. Und wo ein Bedürfnis herrscht, wächst auch schnell ein Geschäft.

Wir schlendern also am Münster der Stadt vorbei. Auf dem Platz vor der großen Kirche ist Wochenmarkt mit allerhand regionalen Angeboten. Doch eigentlich wollen wir nur Kaffee, Brötchen und ein hart gekochtes Ei.
“Restaurant & Café – Zum Bunten Onkel” lese ich über einer offenen Tür. Klingt erstmal gut. Ich trete in ein noch etwas schummriges und weitgehend leeres Ambiente. Ein recht stabiler junger Mann deckt einen Tisch. “Guten Morgen”, sage ich. “Kriegt man bei Ihnen ein Frühstück?” Er mustert mich kurz und antwortet: “Nur Kuchen!”. “Schade” entgegne ich bedauernd. “Können Sie mir sagen, wo man hier am Platz vernünftig frühstücken kann?” Er richtet sich auf und lächelt, bevor er antwortet: “Ihnen auch noch einen schönen Tag”.
Ich nicke kurz verstehend. “Oh, danke vielmals” reagiere ich. “Und schönen Dank auch für die freundliche Auskunft!”
“Gerne”.
Ich verlasse den Laden und denke mir: “In Punkto Kaltschnäuzigkeit kann der Berliner aber noch eine Menge vom Freiburger lernen. Darin sind wir in der Hauptstadt zwar ziemliche Meister. Nur die verlogene Freundlichkeit kriegen wir nicht so hin.”
Etwas beleidigt lasse ich den Bunten Onkel hinter mir und umkreise das riesige, gerade mit Gerüsten versehene Münster. Auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes geben sich mehrere Läden mit davor aufgestellten Tischen und Stühlen zu erkennen. Vor einer Tür steht: “Frühstück bis 12 Uhr.” Geht doch.
Die Kellnerin des Bistros stirbt zwar auch nicht vor Zuvorkommenheit, aber ich merke schnell, dass sie eher auf Grund ihrer mäßigen Sprachkenntnisse etwas unsicher ist, was in jedem Fall verzeihbarer scheint, als die verlogene Arroganz des Bunten Onkels. Sie serviert, was wir von der Karte vorlesen und das auch nicht erst zum Mittag.
Das eben noch fast leere Bistro füllt sich schnell. Touristen, Einheimische, Geschäftsleute platzieren sich hier nebeneinander. Ein Rentner mit roter Baskenmütze betritt den Raum, nimmt sich eine Zeitung vom Tresen und setzt sich an den Nachbartisch. Kaum hat er Platz genommen, bekommt er wortlos ein Espresso und ein Glas Wasser gereicht. Ruhig beginnt er das Kreuzworträtsel zu lösen. Hinter mir diskutiert ein Pärchen mit Kleinkind. Die Unterhaltung geht mich nichts an, trotzdem höre ich immer wieder die Frage: “Hescht de da jämanden zum Putze”. Ja, der Schwabe/Badener und die Kehrwoche, ein Thema, das überregional immer wieder für gute Laune sorgt. Gründlich sind sie. Zumindest bis vor die Haustür. Wenn sie nicht so verflucht teuer wären, würde ich mir jederzeit eine schwäbische Putzkraft suchen. Allerdings bekäme man dann im eigenen Haus die Hausschuhe in sterilen Plastetüten serviert.
Die gemütliche Frühstücksszenerie wird nur kurz von einem Mann gestört, der mit einem Teleskop, an dessen Ende sich ein Messgerät befindet, sämtliche Feuermelder im Bistro durchmisst. Wir rücken beiseite, frühstücken ruhig weiter.

Nach dem reichhaltigen Frühstück schleppen wir uns etwas matt durch die Fußgängerzone. Die unterscheidet sich nun nicht sonderlich deutlich von jeder anderen westdeutschen Einkaufsmeile. Die ewig gleichen Discounter, Technikanbieter, Kaufhäuser und Fastfoodkonzerne stehen friedlich nebeneinander. Auf einem Platz sitzen mehrere ältere Touristinnen mit gleichfarbigen Strickjacken in Magenta und lassen sich Wissenswertes über den Ort erzählen. Gleich daneben, auf Bänken, die um einen Brunnen angeordnet sind, pausieren Arbeiter in einheitlichem Engelbert-Strauß Uniformen. Passanten wechseln die Straße, verschwinden in Kaufhauspassagen und anhaltenden Straßenbahnen. Bis auf ein paar schnatternde Touristen, die Lachen können, sind die Gesichter auf den Straßen eher ernst bis missmutig. Dabei beginnt gerade der Frühling. Irgendwie traue ich dem Zufriedenheitsatlas nicht über den Weg.
Um uns nicht anzustecken, suchen wir uns im Untergrund der Stadt unser parkendes Auto und versuchen es wieder in der freien Natur des landschaftlich zumindest reizvollen Schwarzwaldes. Doch der chaotisch geregelte Verkehr Freiburgs entlässt uns nicht so schnell in die Freiheit. An einer Ampelkreuzung stehen wir eine Weile im Stau. Direkt an der Straße befindet sich ein medizinisches Fachgeschäft mit den Namen “Pinoccio-Apotheke”. Da es auf der Straße nicht weitergeht, bleibt mir Zeit zu überlegen, wie sich in dieser Apotheke wohl das Verkaufsgespräch anhört:
“Helfen ihre Medikamente dann auch wirklich?”
“Selbstverständlich! Alle! Gegen Alles! Immer! Sofort!”
“Fantastisch. Aber hören Sie bitte sofort auf, mit ihrer Nase in mein Auge zu pieken!”
»Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie dieser Dialog auf Badisch klingt«, sage ich und kann endlich Gas geben.