"Die Schildkröte lebt auf dem Boden. Man kann dem Boden kaum näher sein, ohne sich darunter zu befinden. Der Horizont ist nur wenige Zentimeter entfernt. Die Höchstgeschwindigkeit eines solchen Geschöpfs reicht gerade aus, um einen Kopfsalat zu jagen. Es hat überlebt, während der Rest der Evolution vorbeihastete. Der Grund dafür: Es stellt für niemanden eine Gefahr dar, und es lässt sich nur mit Mühe verspeisen."
------------Terry Pratchett "Lords and Ladies"
Achtung Schildkröten
Auf Korsika steht die Schildkröte unter Naturschutz. Besonders angetan hat es den Korsen die griechische Landschildkröte, nach ihrem lateinischen Namen Testudo hermanni auch Hermannschildkröte genannt. Da sie so überaus selten sein soll, fahren wir nach unserem Ausflug ins Ascotal zur im Flyer angepriesen Schildkrötenfarm „Le Village des Tortues“.
Schildkröten sind bemerkenswerte Tiere. Nun, diese Aussage kann man auf nahezu jedes Tier anwenden, denn in der Tat gibt es kaum Tiere, die ich einfach nur als langweilig bezeichnen möchte. Die Evolution hat sich in ihrer Vielfalt eine Menge einfallen lassen. Manchmal fragt man sich, wieso. Vielleicht hat die Evolution einfach Spaß an kreativer Gestaltung, probiert aus, färbt nach Geschmack, konstruiert aus dem Bauch heraus? Doch genau das tut sie nicht, denn jede Entwicklung in der Biodiversität ist ein knallharter Kampf ums Überleben. Trotzdem fragt man sich, warum Eichhörnchen so süß sind und Nacktmulle nicht.
Aber zurück zu den Schildkröten. Sie sind bereits so lange auf der Erde, dass ihre frühen Vorfahren noch mit Sauriern spielten. Wissenschaftlich gesehen, sind sie selbst welche. Man ist sich unter professionellen Auskennern nur nicht einig, wie. Erbitterte Stellungskämpfe finden seit Jahrzehnten in den einschlägigen Forschungsinstituten statt, in denen ein Professor behauptet, Schildkröten gehören zu den Leptiosauriern und sind also unbestritten Reptilien, während sich ein anderer Professor wissend den Bart zwirbelt, seinen Blutdruck auf Touren bringt und erbost klarstellt: „... dass sich die Schildkröten die DNA mit den Archosauriern teilen und somit ganz selbstverständlich mit den Dinosauriern gleichzustellen sind. Das ist vollkommen unstrittig erwiesen, sie Wissenschaftswurm.“
Auf jeden Fall sind sie alt genug, damit auch die Weltreligionen ein Wörtchen mitreden möchten. In der asiatischen Mythologie ist die Schildkröte Träger der Erdscheibe. Klingt einleuchtend. Und wegen ihres langen Lebens, hält man sie auch für fähig, Wahrsagern erhellende Botschaften in den Mund zu legen.
Der Schildkröte selbst dürften all diese Kinkerlitzchen relativ Wurst sein. Alles, was sie benötigt, um ein ausgefülltes, langes Schildkrötenleben führen zu können, ist ausreichendes Fressen, ein bisschen Fortbewegung und ein erfülltes Liebesleben. Und die Möglichkeit, alles zu vermeiden, was dazu führen könnte, in einer Suppe zu landen. Am Mittelmeer zu leben, ist da bereits ein vernünftigerer Schritt, als beispielsweise in Südostasien.
Wir erreichen die Farm, zahlen Eintritt und betreten ein wenig spektakuläres Gehege aus Holz- und Gitterumfriedungen, die mit blanker Erde und geschreddertem Holz gefüllt sind. Hier und da versucht sich etwas Gras zu etablieren. Aber die Pflanzenfresser sehen das eher als kulinarisches Angebot, statt als designerische Niveauregulierung. Ein paar Hügel sind aufgeschüttet und zu Unterschlupfhöhlen umgestaltet worden, manche mit Holzbalken verstärkt. Es sieht aus, wie in Hobbingen, nur nicht so grün. Hier und dort bewegen sich ein paar Steine. Ach nee, das sind ja die kleinen Scheißer.
Schildkröten gibt es hier in verschiedenen Größen und Farben. Ausschließlich Landschildkröten. Ein paar sind wirklich riesig. Andere sind klein und für ihre Verhältnisse ziemlich flink. In einer der staubigen Umfriedungen liegen die Hermannschildkröten faul herum. Es ist heiß und obwohl die Tiere es gern warm mögen, vermeiden sie die direkte Hitze. Die hohen Bäume werfen wohltuende Schatten und Hermann hält sich lieber dort auf, wo die Sonne verdeckt ist. Bei der Populationsdichte im Gehege sind die Höhlen alle besetzt. Die meisten Hermänner dösen träge im Halbschatten. Ein paar der aktiveren Exemplare albern herum, indem sie versuchen, auf dem Weg zu einem attraktiven Schattenplatz über herumlümmelnde Artgenossen zu klettern. Das sieht unbeholfen aus, zumal rechts und links genug Platz wäre, um die Kumpels großräumig zu umrunden. Sonderlich helle sind die Viecher offensichtlich nicht.
Trotzdem muss ich sie bewundern, wie sie so einklemmt zwischen zwei Knochenplatten, mit vier Stummeln als Beine und einem eigenwilligen Kopf mit einem zahnlosen Maul, mühsam über den Erdboden schrubben. Man kommt unwillkürlich in die Versuchung, diese Tiere wegen ihrer Unbeholfenheit zu bedauern und sich zu fragen, warum die Evolution sie dermaßen benachteiligt hat.
Schildkröte und Evolution sehen das anders. Diese Spezies hat sich seit Jahrtausenden kaum verändert, kaum an die sich wandelnden Verhältnisse angepasst. Warum auch. Die Schildkröte kommt gut zurecht. Sie muss bereits sehr zeitig in der Entwicklung fast fehlerfrei konstruiert worden sein. Der Mensch hingegen, mit seiner kurzen Entwicklungsphase, seit der Zeit, als er sich vorsichtig von den Bäumen herunter wagte, hat sich immer wieder angepasst, gewandelt und versucht sich auf komplizierteste Weise zu vervollkommnen. Und nun, wo er sich als die Krone der Schöpfung, als Meisterwerk der Evolution brüstet, stolpert er über ein unscheinbares Virus, das das Bestehen einer angeberisch makellos designten Lebensform wie der des Menschen, deutlich in Frage stellt.
Ein Herrmann wuselt gemächlich zum Zaun, an dem ich stehe. Das Tier besitzt einen hübschen Panzer. Hellbraun gescheckt und glänzend, wie eine polierte Wurzelholzplatte. Es hebt den Kopf. Ich habe den Eindruck, die Schildkröte hypnotisiert mich, mit ihren weisen Augen, aus denen uraltes Wissen zu sprechen scheint. Vielleicht spricht aus dem Blick ja auch Verachtung, wegen meiner Arroganz und der Dämlichkeit, zu versuchen, mich auf lediglich zwei Beinen zu bewegen. So was geht doch nicht lange gut. Vermutlich will sie mir zu verstehen geben, dass nicht sie das bedauernswerteste Geschöpf auf dieser Welt ist. Viel wahrscheinlicher scheint es, dass der Mensch, in seinem eitlen Streben nach Perfektion, der eigentliche Witz ist, über den sich die Evolution schlapp lacht.