Heute werde ich Elche sehen.
Was mich da so sicher macht?
Ich besuche einen Zoo.
Egal welches Land der Welt man betrachtet, überall gibt es Orte in denen Tiere als Namensgeber eine besondere Rolle spielen. Meist liegt es an der Häufigkeit, mit der sie in der Gegend auftauchen oder man bezieht sich auf eine Geschichte, die die Entstehung des Ortes begründet. Mir fallen da Orte ein, wie Eberswalde, Heringsdorf oder Bärlin. In vielen Fällen, sitzt das namensgebende Tier im Wappen. So auch in Järvsö, in Mittelschweden.
Der Järv ist ein großer Marderhund oder auch Marderbär. Warum das Tier im deutschen den Namen Vielfraß bekommen hat, kann ich nicht erklären. Meist lebt das Tier in den nördlichen Gefilden von Alaska, Sibirien bis nach Skandinavien. Der Bursche wurde auch schon in Südnorwegen gesichtet. Der Vielfraß wirkt etwas gedrungen, hat beeindruckende Krallen, einen Backenbart und erscheint insgesamt etwas mürrisch, so als hätte er schlechte Laune oder Kopfschmerzen oder beides. Der englische Name lautet Wolverine. Wer Hugh Jackman in der Verfilmung des Marvel-Comics “X-Men” gesehen hat, wo er sich als Mutant Wolverine durchs Filmgeschen metzelt, dürfte sich den Gesichtsausdruck eines Järvs etwa vorstellen können.
Järvso ist wie die meisten Städte auf dem Land größenmäßig eher überschaubar. Knapp 1500 Leute leben in dem Ort. Wenn der Tourismus richtig zuschlägt, werden es einige mehr. Aber der Ort besitzt auch ein paar herausragende Attraktionen.

Ein Heimatmuseum zum Beispiel, in dem örtliche Handwerkskultur ebenso ausgestellt und zum Verkauf steht, wie Gegenwartskunst junger Objektkünstler. In einer Ausstellung sah ich seltsame Bilder mit nicht sehr fröhlich aussehenden Menschen, die mit Zitaten überdeckt waren – auf Schwedisch natürlich. Ein anderer Raum zeigte eine Installation. Auf einer Matratze unter dem Fenster war ein Reinigungsmopp zu sehen, der unter einer Zudecke hervorlugte. Rings um die Matratze lagen verstreut Bierdosen. Ich weiß nicht, wie der Künstler das Ensemble genannt hat. Passend wäre aber: “Meine erste Wohnung im Friedrichshain” oder so ähnlich.
Auffallend in Järvsö ist die große Kirche. Auf einer Insel im Fluss Ljusnan gelegen, bietet sie 1800 Besuchern Platz. Es gibt sicher größere Kirchen, räumlich, wie platzmäßig, aber mit dieser Besuchermengenangabe avanciert dieses Gotteshaus zur größten Landkirche Schwedens.

Wie so oft sind derartige Superlative meist mathematischer Natur. Tatsächlich ist die Kirche groß, aber da sie in einem weitläufigen grünen, von Bergen und hohen Bäumen bestimmten Gelände steht, auf einer Insel in einem Fluss, dessen Breite der Elbe bei Dresden entspricht, ist die empfundene Größe relativ. Mit ihrer hell weiß gestrichenen Fassade, leuchtet sie freundlich unter einem sonnigen Himmel.
Der Berg, der sich hinter der Kirche abhebt, heißt Öjeberg und ist die Heimat von gleich drei Attraktionen. So läuft eine beeindruckende Skipiste den Hang herab. Das erst seit den 30ger Jahren des letzten Jahrhunderts bestehende Skigebiet Järvsöbacken gehört heute zu den am schnellsten wachsenden Skiressorts Schwedens. Es ist schneesicher, auch wenn Schneekanonen zur Vorsicht immer einsatzbereit sind. Mit knapp vierhundert Kilometern ist es auch für den Stockholmer immer noch in moderater Entfernung für den Wochenendtrip. Wenn im Sommer alles grünt und der Skitourismus schläft, kann man am selben Berg ersatzweise auf einer anspruchsvollen Mountainbikepiste versuchen, sich den Hals zu brechen.
Für die, die es weniger actionlastiger bevorzugen, bleibt immer noch eine dritte Möglichkeit, sich den Tag zu veredeln: der Järvzoo, Järvsös eigenwillig gestalteter, aber sehr unterhaltsamer Wildpark, der sich ebenfalls an den Hängen des Berges angesiedelt hat, an dem man sich als Pistensau zu Tale stürzen kann.
Wir stellen das Auto am Parkplatz ab. Unsere Tochter erklärt uns den Sinn eines Elektrokastens an jedem Parkplatz. Da kann man im Winter einen Stecker anschließen, der während des Parkens Motorraum und Auto vorheizt. An jedem in Skandinavien verkauftem Auto befindet sich wohl eine Steckdose und die entsprechende Vorrichtung im Auto, die das möglich macht. Sie sucht vergeblich an unserem alten Auto nach solchem Teil und gibt dann die Idee auf, uns die alte Kiste abzunehmen, sollten wir uns mal was neues kaufen. Da beim ersten Frost bei unserem Auto die Beifahrertür nicht auf und die Fahrertür nicht mehr zu geht, ist es kein Auto für den hohen Norden.
Neben dem Parkplatz ist eine Art Hundemotel eingerichtet. Dort können die Besucher ihre Hunde in Pflege geben, solange sie ihm Zoo weilen. Dann müssen diese nicht im Auto hocken und hyperventilieren. Einen Kinderspielplatz gibt es auch. Da müssen die Eltern aber selbst aufpassen.
Der Järvzoo ist als Waldwildpark angelegt und beheimatet ausschließlich Tiere, die in der Region auch in der Natur vorkommen. Die Tiere finden also natürliche Lebensbedingungen vor, sind nur in ihrer flächenmäßigen Beweglichkeit etwas eingeschränkt. Trotzdem lässt man ihnen in den Gehegen so viel Raum, dass man als Besucher das eine oder andere größere Tier auch verpassen kann. Dafür zahlt man dann etwa 220 schwedische Kronen pro Erwachsener, also 22 € für den hypothetischen Fall einen Elch oder Luchs sehen zu können, wenn er denn geneigt ist, sich zeigen zu wollen. Also 22 € für ein Vielleicht.
Wir starten im Besucherzentrum am Eingang. Hier kann man schon mal mit dem Elch knuddeln. In herdenstärke findet man ihn in groß und klein in den Regalen des Plüschtierhandels. Das gildet nicht, denke ich und gehe weiter. Eine kleine Naturkundeausstellung zeigt Exponate aus den rückwertigen Bereichen der Wildtiere mit der Frage: “Wissen sie, wer hier auf den Weg gemacht hat?” Immerhin habe ich hier drei von fünf Punkten erreicht. Bei einem Haufen habe ich einfach geraten. Einer von den fünf musste ja schließlich vom Elch sein, es sei denn, vermute ich allmählich, das Tier ist nur eine nordische Sagengestalt. Die Box daneben ist schon spannender. Fünf Holzkästchen mit runder Öffnung an der Frontseite und einem Deckel oben drauf sind an einer Schautafel angebracht. Man muss in die Öffnung fassen und schiebt seine Hand somit in das Gebiss eines der einheimischen Wildtiere. Bär, Wolf, Elch, Reh und … Mensch sind die fünf Kandidaten. Ein leicht grenzwertiger Spaß.

Der Wanderweg durch den Park zieht sich über einen Holzplattenweg, der in ca. vier Metern über dem Boden in die Bäume eingepasst wurde knapp vier Kilometer serpentinenartig den Berg hinauf und wieder hinab. Von dem erhöhten Baumpfad hat man eine gute Aussicht auf die großzügigen Gehege und mit etwas Glück auch auf die Tiere.
Das erste recht kleine Gehege ist für den wildlebenden gefährlichen Stachelelch reserviert. Der Igel ist aber gerade am Pennen und hockt in der Hütte. Lediglich sein Wohngemeinschaftsspezie, der Uhu glotzt so verwirrt zu mir herunter, wie ich zu ihm hinauf. Als nächstes gibt es ein Streichelgehege mit Schafen zu begucken. Das Streichelgehege ist ein Eckgrundstück und wird von zweieinhalb Seiten eingeschlossen von einem baumreichen und steilen Gelände, auf dem zwei Wölfe leben sollen. Ich weiß nicht, warum man sich diese Nachbarschaft ausgedacht hat. Während dem einen Zoobewohner ständig der Zahn tropft, macht der andere Nachts keine Auge zu. Aber vielleicht stehen die Wölfe auch unter Drogen und nähern sich den Schafen freundlich und ohne besondere Fressabsicht, während sie ihr Mantra singen: “Schafe sind Freunde – kein Fressen”. Die Wölfe liegen faul neben einem abgenagten Brustkorb, an dem sich noch eine Krähe bedient. Einer lehnt mit dem Hinterteil an einer Holzwand, die zu einem recht großen Gebäude gehört. Darin befindet sich das so genannte Wolfshotel, keine Herberge für herumziehende Grimmbärte, zumindest keine tierischen, sondern ein Hotel im Zoo für Reisende und Konferierende, das große Panoramasicht aufs Wolfsgehege anpreist, sowie ein Restaurant mit Blick auf den gefährlichen Wolf (Speisekarte selbstverständlich auch mit vegetarischen Angeboten). Den Weg weiter hinauf liegen im hohen Gras angeblich zwei Elche. Ich sehe weit entfernt zwei braune Felsen liegen, die sich nicht bewegen. Ich werde es als Quotenelch durchgehen lassen und ziehe enttäuscht weiter. Rentiere gibt es dafür als Herde zu erleben. Die sind publikumserfahren und grinsen breit zum Besucher hinauf. Vom Moschusoschen, den man ja nun wirklich nicht übersehen kann, fehlt allerdings jede Spur. Dessen Gehege ist so groß und bewachsen, dass man auch einen ausgewachsenen Brontosaurier drin verstecken könnte, ohne ihn zu bemerken.

Ein paar hundert Meter weiter und etliche Meter weiter hinauf, gelangt man an einen Rastplatz mit Gastronomie. Die ist heute geschlossen. Aber ich sehe etwas, dass mir den Zooeintrittspreis etwas versüßt. Auf einem Tisch hockt, eine Nuss in der Hand ein süßes kleines Elchhörnchen.
Der Eintrittspreis ist in jedem Fall gerechtfertigt. Ich habe selten eine so schöne Anlage gesehen, die dem Begriff der artgerechten Haltung so Nahe kommt, wie hier im Zoo in Järvsö. Das wird schon hinter der nächsten Steigung deutlich, als sich vor meinen Augen ein großes baumbestandenes Gelände öffnet, in dem eine Bärenmutter und drei kleinen Bärenkindern einen gemütlichen Nachmittag haben. Die kleinen kullern durchs Gras, klettern auf Bäume, tollen herum und prügeln sich, während die Bärenmutter ein bisschen rumstreift und ihrer Nägel manikürt, in dem sie darauf herum beißt. Zwanzig Minuten folgen wir verzückt dem Spiel, ehe wir weiter ziehen und unter einem Baum einen weißen Polarfuchs schlafen sehen.
Der Järv, lässt sich jedoch nicht blicken. Zwar können wir sein Gelände begutachten, ein wirklich schöner Spielplatz mit vielen Felsen und Bäumen und alles was der Järv so toll findet, aber er selbst ist nicht da. Vielleicht will er sich nicht öffentlich als Vielfraß beleidigen lassen. Auch der Luchs tut das, was er immer macht, wenn ich ihn, egal in welchem Wildpark Europas besuchen will. Durch Abwesenheit glänzen. Sicher sitzt er in einer Höhle und grinst sein feines, hintersinniges Grinsen.
An Raubvogelvolieren schlängelt sich der Holzweg nun langsam zu Tal. Käuzchen, Schneeeulen, Bartkauze sitzen an den Bäumen und gucken schlau. An einer Aussichtsplattform kann man einen abschätzigen Blick auf das Mountainbikergehege werfen. Da ist aber auch gerade keiner am Spielen. Nach einem Spaziergang unterhalb der Baumkronen, ist bald der Ausgang in Sicht. Der Zoo ist schon geschlossen, aber raus darf man immer. Am Ausgang hoppelt noch einmal munter ein Elchhörnchen durchs Kamerabild. Die Hunde im Hundemotel sind bereits abgereist. Gaststätte und Spielplatz sind verwaist.
Wir steigen ins Auto und hoffen auf eine schöne Pizza im Café und Grill von Lil Babs.
Lil Babs – die Schlagersängerin aus Järvsö, die in den fünfziger und sechziger Jahren gern schmachtende Liebeslieder sang und auch im Duett mit Peter Kraus auftrat und 1961 beim Schlager-Grand-Prix einen sensationellen vorletzten Platz erreichte, hat ihr Showbizgeld gut angelegt. In ihrem Heimatort baute sie ein Restaurant auf, das mit ihren Namen wirbt. Die inzwischen fast 80jährige hat sich selbst längst zurück gezogen und den Laden ihrem Sohn vermacht. Aber wie Luchs, Järv und Elch, lässt sich auch an diesem Ort heute keiner blicken. Nach 16:00 Uhr beginnt man hier aufzuräumen und nur am Freitag gibt es bei Lil Babs Abends was Warmes.

Gesehene Elche: 2 Quotenelche im Zoo
Elchhörnchen : ebenfalls 2
und zwei Mümmelelche