"„Holleri du dödl di, diri diri dudl dö.“"
------------Loriot
Zwanzig Kilometer können eine weite Strecke sein. Fußgänger wissen das. In Schweden können sogar zwanzig Kilometer mit dem Auto eine unzumutbare Strecke darstellen. Sofern der Straßenbau seine Finger im Spiel hat.
Die Entfernung zur Alm Sverdbovallen, auf der unsere Tochter im Sommer saisonal für einige Wochen arbeitet, ist für schwedische Verhältnisse ein Klacks. Von unserem Ferienhaus am Dellensee bis hinauf auf die Alm sind das knapp 50 Kilometer. Die meisten der Kilometer kennen wir schon. Da kommt man voran in landschaftlich reizvollem Umfeld. Seen liegen faul am Straßenrand herum. Wälder wirken dicht und geheimnisvoll, die letzten 20 Kilometer hinauf zur Alm sind angenehm mit Bäumen versehen und über den blauen Sommerhimmel mit seinen Schäfchenwolken gibt es ebenfalls keinerlei Worte zu verlieren, die den Anschein von Ironie aufweisen könnten. Lediglich die Straße fehlt.
Der schwedische Straßenbau glaubt an die Allmacht großer Maschinen. Er denkt nicht kleinkariert, sondern an das Gesamtkunstwerk. Und so schreddern enorme straßenfressende Saurier mit riesigen Mäulern den Asphalt auf und kacken hinter sich Schotter auf den Weg, der gleichmäßig oder ungleichmäßig verteilt für eine Weile den Weg markiert. Dies gilt als Behelfsstraßenbelag. Immer wieder muss ich bei meinem alten Auto auf die Bremse treten und Schlaglöchern oder stur auf meiner Spur fahrenden LKWs ausweichen. Die Strecke steigt langsam an und mein Tacho zeigt mir eine relative Geschwindigkeit vom 20 km/h an. Nach einer knappen Stunde weist uns ein unscheinbares Schild, das nur von meiner Tochter gesehen wird, an, nach rechts in den Wald abzubiegen. Ein fester, ausgefahrener Waldweg lässt in mir das Gefühl von freier Fahrt aufkeimen.
Unvermittelt treten die Bäume auseinander. Ich muss schon wieder scharf bremsen. Dieses Mal wegen einer Kuh, die gelangweilt im Gras liegt, glotzt und kaut. Sie liegt dort, wo ein angedeuteter Parkplatz beginnt. Ich stelle meinen arg gebeutelten Oldtimer neben der Kuh ab, steige aus und schüttele meine Knochen und andere zerrüttelte Körperteile heftig aus, greife nach den festen Wanderschuhen und folge der Tochter auf die Alm.
Die Sennerei liegt auf etwa 500 Metern Höhe.
Es ist relativ früh am Morgen, kurz vor acht. Die Wiesen sind feucht. Ich setze mich auf eine Holzbank und ziehe mir die festen Wanderschuhe an, die ausreichend vor Nässe schützen und, so wurde mir erklärt, sicher angenehmer am Fuß sind, als Sandalen, wenn man in Kuhkacke tritt. "Und das wirst du" weissagt die Tochter. Die alten Häuser stehen am Hang. Ein paar Gatter sind mit schräg in den Boden gerammten Ästen zusammengebaut, die miteinander verflochten sind; eine traditionelle Bauweise hier im Norden, simpel und effektiv.
Christina, eine Schwedin, die hier im Moment das Sagen hat, begrüßt uns freundlich und bietet uns schonmal Kaffee an. Sie redet mit einer weiteren jungen Frau, einer freundlichen, fülligen Person, die sich in dem Zustand befindet, in dem man nicht einsieht, dass man die Hosengröße an Hand der tatsächlichen Körpergröße aussucht und nicht nach der gewünschten. Unsere Tochter ergänzt das Trio, das heute den Hof am Laufen hält. Gemeinsam zwitschern sie auf Schwedisch die Arbeitsaufgaben für den Tag durch. Es scheint ein langer Tag zu werden.
Bewirtschaftet wird sie von insgesamt vier bis fünf Frauen, die sich über den Sommer verteilt auf der Alm aufhalten. Der alte Bauernhof steht schon seit vierhundert Jahren an diesem Ort. Er gehört zum kulturellen Erbe der Region Helsingland und wird als Museumshof bewirtschaftet. Das heißt, alle Häuser, Hütten und Wirtschaftsräume befinden sich in etwa in dem Zustand, wie vor knapp einhundert Jahren. Lediglich in der Handhabung einiger Tätigkeiten ist man modern eingerichtet. Die kleine Käserei besitzt modernen hygienischen Standard, es gibt Kühlschränke und Kaffeemaschinen. Ohne ausreichend Kaffeepausen läuft in Schweden das gesellschaftliche Leben nicht geradeaus. Die Kühe werden mit einer mobilen Vakuumpumpe gemolken. Auch hier wird nicht mehr direkt Hand angelegt. Teils weil es enorm anstrengend ist, aber vor allem wohl aus hygienischen Gründen.
Während es sich meine Herzdame auf einer schmalen Bank in der Nähe einer der Museeumshütten in der Sonne bequem macht, streune ich etwas über die Anlage. Es gibt Hühner, die gackernd in einem Gehege stolzieren. Dazu muss ich an der örtlichen Örtlichkeit vorbei, einem Holzverschlag, der als “Hemlighuset” bezeichnet wird. Das Heimlichhaus also.
Hinter dem Hühnergatter gelange ich ohne Umwege hinter einen Verschlag, der als Küche dient.
Hier werde ich meiner vorläufigen Bestimmung zugeführt. Ich darf Holz hacken, denn der alte Ofen, in dem später ein besonderer Käse zubereitet werden soll, benötigt einiges an Brennholz.
Holz habe ich schon lange nicht mehr hacken müssen. Seit der Modernisierung unserer Wohnung fehlen die Öfen und ein Kamin wurde leider auch nicht genehmigt. Lediglich im Urlaub gibt es mal Gelegenheit, dieser Tätigkeit nachzukommen, bei der man mittels kontrolliert angewendeter, aber deutlich roher Gewalt, Nützliches tun kann. Wo sonst darf man heute noch etwas gezielt und brutal zerstören und wird dafür mit Dank überschüttet. Die drei anwesenden Frauen des Hofes, sind froh darüber, nicht selbst zur Axt greifen zu müssen.
Ich bin gerade richtig am Schwitzen, als von oberhalb meiner Wirkungsstätte gemächlich eine Kuh angetrabt kommt. Sie schaut mich mit ihren großen treuen Augen an, scheint dann kurz zu überlegen und kommt auf mich zu. Man nimmt Kühe auf einer Weide, eigentlich nur am Rande war. Sie sind meist mehrere Meter weit entfernt und wirken nicht besonders aufregend. Jetzt wo die Kuh direkt neben mir steht, stelle ich fest, dass sie doch eine Größe hat, die ich als beeindruckend bezeichnen möchte. Sie schaut glupschäugig auf meinen Hauklotz und steht dabei so dicht daneben, dass ich es nicht wage, weiterhin die Axt zu schwingen. Außerdem kam die Kuh nicht allein. Ihre Freundinnen zotteln nun ebenfalls auf mich zu und ich sehe mich umringt von einer Gruppe, mir bis dahin nicht vorgestellter stattlicher Damen, die mich mit großen runden dunklen Augen mustern. Sie scheinen mir recht freundlich gesinnt. Ich versuche, mein Holzhackerwerkzeug einzusammeln. In diesem Moment dreht sich eine besonders dicke Kuh um und scheißt mir aufs frisch geschlagenen Holz.
Ich glaube, es reicht jetzt mit der anständigen Arbeit.
Ich sammle das saubere Holz zusammen und schleppe es in den Schuppen. Als ich zurückkehre und Axt und Säge aufheben will, gleite ich fast im neuesten Fladen aus, der geschickt direkt vor der Tür drapiert wurde. Ich muss gelegentlich mal bei Google nachschauen, ob das vor die Tür Scheißen von Kühen, eine besondere Wertschätzung darstellt. Die dicke Kuh glupscht mich immer noch mit Kuhaugen an. Ich glaub, bei der hab ich ein Stein im Brett.
Oberhalb der Alm führt ein Weg in den Wald. Die Schafe der Sennerei blöken fröhlich hinter einem Leitschaf den Hügel hinauf. Eigentlich soll es hier ein paar Ziegen geben. Doch die sind ebenfalls den Hügel rauf. Vor ein paar Tagen. Das Leitziegentier besaß keine Glocke. Sie waren erst seit einer oder zwei Wochen auf dem Berg und hatten sich noch nicht eingewöhnt. Trotzdem waren sie der Meinung, schon mal einen längeren Ausflug zu machen. Hier oben, wo die Wildnis bis an die Haustür kommt leben ein paar Tiere, die Ziegen durchaus zu schätzen wissen. Bären zum Beispiel, aber die sind zu faul, um sich Ziegen zu jagen, die noch halbwegs flink durchs Gehölz hopsen. Wölfe soll es ebenfalls geben, einige Luchse und den berüchtigten Vielfraß. Alles keine besonders wohlwollend eingestellten Tiere, wenn es um fünf alberne Ziegen geht, die meckernd einen Wochenendausflug ins Gebüsch machen. Dass die Ziegen nochmal wiederkommen, glaubt hier kaum einer. Der Besitzer, der die Tiere in die Obhut der Alm gegeben hat, wird sicher nicht beschwichtigend abwinken, wenn er die Nachricht hört.
Ich folge den Schafen ein paar Meter in den Wald. Teils, um mich zu bewegen, teils um beim Laufen durch das hohe Gras die Kuhkacke von den teuren Wanderschuhen gewischt zu bekommen. Die Schafe drehen ab durchs Beerenkraut. Ich laufe weiter. Der Pfad gehört zum europäischen Fernwanderweg von Dings nach Dingens. Also ein ziemlich langes Stück. Mir wird schon nach wenigen Metern, als ich das Bimmeln der Schafe nicht mehr hören kann, klar, dass ich mich jetzt auf feindlichem Terrain befinde. Jeden Augenblick kann ein Bär hinter den Bäumen rausgetappelt kommen. Dort neben der Baumwurzel bleckt bereits der Luchs die Zähne und setzt zum Sprung an. Und hat einem nicht die Natur am Wickel, so weiß man doch, dass hinter jedem finsteren Loch ein Mankel hockt, der sich Böses ausdenkt, um dann seine Opfer an seinen Wallander zu verfüttern. Ich beschließe der Einsamkeit des Waldes zu fliehen und lieber mal zu gucken, was meine Lieblingskuh so treibt.
Doch ehe ich dazu komme, mit ein bisschen Muh und Mäh Konversation zu treiben, werde ich schon wieder zum Arbeiten herangezogen. Auf ‘nem Bauernhof hat man keine Minute Ruhe. Ich soll bei der Käseherstellung helfen. Genauer, ich soll mich mit dem Rest beschäftigen, der nach der Käseherstellung übrigbleibt und damit solange herumspielen, bis ein Käserestprodukt entsteht. Das nennt sich Messmör und ist im Original ein brauner Ziegenkäse. Hier wird der Messmör allerdings eher “inspired by …” hergestellt. Die Molke kommt in einen großen Topf. Der besitzt die Ausmaße, wie ich sie von den Erzählungen kenne, in denen Hexen in einem riesigen Bottich voller Bäh herumrühren und aus der Suppe die Zukunft vorhersagen. Der Topf befindet sich in den Überresten eines alten Badeofens. Unten ist eine Klappe mit der Feuerstelle, in die ich fleißig mein selbstgeschlachtetes Holz verfeuern darf. Im Topf beginnt die Brühe zu brodeln. Damit sie nicht anbrennt, darf ich rühren, was das Zeug hält, und nebenbei immer schön Holz nachlegen. Das geht so lange, bis die flüssigen Anteile der Brühe weitgehend verdampft sind. Aus dem Topf mit seinen vielen Litern flüssigen Zeugs ergibt sich am Ende eine krümelige Pampe zweifelhaften Geschmacks, die in Plastebechern gefüllt wird. Kann man essen - muss man aber nicht.
Nachdem auch der letzte Krümel aus dem Bottich gefischt und der Bottich mit reichlich fließendem Wasser für den nächsten Gang präpariert wurde, darf ich mich eine Weile ausruhen. Ich setze mich ins Kunstgewerbemuseum, in dem sich bereits meine Herzdame an einen alten Webstuhl versucht.
Eine halbe Stunde später stehen die Kühe vor dem Tor und wollen was. Die Chefin öffnet einen Stahl und die Kühe wackeln wie selbstverständlich in den Holzschuppen und stellen sich in ihre Boxen. Während Christina die Milchpumpe vorbereitet, werden auch die beiden Kälber hereingeführt und ihren Müttern zugeordnet.
Eine der Kühe, die dicke mit den Glupschaugen, legt sich hin, den Hintern zum Publikum gereckt. Die Vagina der Kuh steht offen und legt rot frei, was sich da so alles darunter befindet. Ich mache Christina darauf aufmerksam, dass da gleich ein neues Kalb zur Welt kommt. Sie sieht ratlos aus und sagt, die Kuh sei gar nicht schwanger. Dann greift sie zum Telefon und unterhält sich mit dem Tierarzt. Nach fünf Minuten schwedischem Fachgesprächs, schaltet sie das Handy wieder ab.
“Und” frag ich?
“Ist nicht schwanger. Ist nur geil.” Soweit ihre ausführlich erklärende Antwort.
Aus den Tieren kommt eine ganze Menge Milch. Die Kannen müssen wir ab- und umfüllen. Erstaunlich wie schwer so eine große Milchkanne sein kann.
Nach dem Melken gehen die Kühe ein bisschen Spazieren, bevor sie für die Nacht hinter sichere Zäune gesperrt werden, die Wolf und Luchs trotzen sollen.
Als es schließlich Zeit wird, die Damen und die Kälber heimzuholen, geht allerdings niemand los, um ihnen mit dem Blick auf die Uhr ihren Tagesplan zu erklären. Stattdessen stellt sich meine Tochter auf einen Hügel und beginnt zu jodeln. Es ist ein schwedisches Jodeln, das hier Kulning heißt. Es unterscheidet sich vom Alpenjodler darin, dass es nicht den Geliebten auf der Nachbaralm heimlich zum Abendbrot einlädt, sondern Kühe, die von Natur aus neugierig sind, etwas zum Wundern zu geben und in Richtung Jodler zu marschieren lassen. Es ist ein melodiöser Singsang, verziert und verspielt, weithin zu hören. Ein Nebeneffekt ist, dass dieser Gesang die Raubtiere abschreckt. Die Glocken an den Kuhhälsen klappern sich allmählich näher und die Tiere verschwinden hinter dem Zaun. Lediglich eine Kuhmutter und ihr Kalb wollen nicht so recht einsehen, warum sie erlebbare Freiheit für so etwas Vages, wie ein nächtliches Sicherheitsversprechen opfern sollen. Ich stehe tatenlos herum. Die stämmigere der Almdamen benötigt meine Mithilfe, um die beiden einzusperren. Sie winkt mich mit der Hand zu sich, wie Trinity in der Matrix und sagt “Kommscht!” Ich weiß nicht, ob das jetzt schwedisch oder schwäbisch ist. Klingt irgendwie gleich. Am Ende ist auch die letzte Kuh eingezäunt. Gute Nacht ihr Viecher.
Damit ist für uns die Farmarbeit vorbei. Hier wird noch ein bisschen geräumt und abgewaschen. Dort wird das alte Museumshaus abgesperrt.
Ein letzter hoffnungsloser Blick in den Wald, um eventuell eine zurückkehrende Ziege zu orten. Dann ist hier Schluss. Die Frauen, die den Sommer über auf der Alm leben, ziehen sich in ihre Wohnhütte zurück. Wir fahren den langen holprigen Weg über die Schotter bestreute Baustelle zurück zu unserem Häuschen am Dellensee, wo wir gegen Mitternacht müde in die Betten fallen. Und zumindest ich wie ein Stein schlafe, bis die Sonne aufgeht. Was hier im sommerlichen schwedischen Norden gegen halb drei ist.