Da ich noch nie in Norwegen war, musste ich mir eine Menge Dinge anlesen. Ich habe in mehreren Reiseführern geblättert und dabei an eine winzige, aber entscheidende Kleinigkeit nicht gedacht: Wenn jeder Reiseführer eine besonders attraktive Angelegenheit in höchsten Tönen anpreist, kann es passieren, dass sich außer mir noch ein paar mehr Leute diesem “Geheimtipp” nähern.
Und damit Willkommen in Flåm, einem kleinen einstmals authentischen Dorf mit 400 Seelen am hintersten Ende des wunderschönen Aurlandsfjords.
Der Aurlandsfjord zählt zum Weltnaturerbe der Unesco. Dieser Titel wird Gegenden auf Grund ihrer Einzigartigkeit verliehen. Dieser schöne Fjord ist einer der schmalsten der Welt. Steil fallen die Berge ins Wasser, wild schäumend die Wasserfälle an den Hängen herab. Das Grün der Bäume spiegelt sich bei gutem Licht im Wasser wieder. Das Wasser des Fjords liebt jedoch Farbenspiele, gibt sich mal boshaft stahlgrau, mal strahlend blau oder geheimnisvoll grün. Es ist, als wäre man in Bruchtal, der Zufluchtstätte der Elben in Tolkiens Mittelerde. Im Unesco Naturerbe soll die Natur besonders geschützt werden, weil sie einmalig und besonders schön und erhaltenswert ist. Allerdings, wenn man schon so was besonders Schönes besitzt, wäre es ja auch schön, wenn ganz viel Leute staunen kommen und schön viel Geld da lassen.
Um nach Flåm, dem letzten Dorf am hintersten Ende des Aurlandfjords zu gelangen, muss man wie hier in der Region häufig, ein paar Tunnel passieren. Der letzte Tunnel vor dem Ort verschwindet im Berg direkt neben einem Wasserfall, der sich tief in einer Felsspalte versteckt. Nur das Stauben des Wassers verrät, wie groß und gewaltig er sein muss. Dem Durchreisenden wird er immer ein verborgenes Kleinod bleiben, rätselhaft und versteckt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Ort Flåm. Auch dieser Ort ist verborgen, selbst wenn man mitten drin steht. Kaum das man aus dem Tunnel taucht, sieht man Gebäude und Menschen. Hier muss irgendwo Flåm liegen oder das, was davon übrig ist. Erdrosselt unter Einkaufscentern, Touristenbüros, Schnellimbissen, einer Brauerei, Unmengen an Ständen für original norwegische Reiseandenken und Reisebussen. Und dann ankert da noch das fetteste Kreuzfahrtschiff, das ich je gesehen habe. Die Berge sind riesig, der Fjord ist schmal, das Dorf ist so klein, das man es nicht findet und liegt, wenn es denn überhaupt existiert, im Schatten dieses schwimmenden Hochhauses.

Fassungslos parke ich auf einem kleinen überraschend kostenlosen Parkplatz an einem Fleck, den man Ortseingang nennen könnte. Direkt vor meinem Auto spielen, von einem Drahtzaun umgeben, mehrere Männer ausgelassen Fußball. Fünfzig Prozent der Spieler sehen aus wie Pakistaner, die andere Hälfte ist irgendwie gemischt. Manche tragen Sportwäsche, andere einteilige Arbeitskombis. Neben dem Fussballplatz krakeelen ähnliche gekleidete Männer auf einem Volleyballplatz. Landgang der Crew der MSC “Fantasia”, dem 12 geschossigem Stahlsaurier, der hier die Landschaft verstellt und so unpassend geparkt ist, wie die Enterprise auf einem Segelflughafen. Das Schiff hat Platz für knapp 4000 Passagiere und ist das neunt-größte Passagierschiff der Welt. Es ist nicht nur enorm groß, sondern zu dem auch noch enorm hässlich. Wie ein hässlicher Troll ragt es vor mir in einen Himmel, der im schönsten Rauch verbrennenden Schweröls blassblau und neblich glänzt und vor den grünen Bergen die Form eines schwebenden Totenkopfes annimmt. Wer die Website des Schiffes besucht, findet ganz oben den Slogan “MSC-Fantasia – Stilvoll und ökologisch”. Ich hatte meiner Herzdame gegenüber einstmals aus einer Laune heraus von mir gegeben, dass wir, wenn wir mal älter sind, vielleicht auch solch eine Kreuzfahrt machen könnten. Jetzt, wo ich dieses schwimmende Mickey-Mausien in seinem ganzen verstörenden Ausmaß sehe, weiß ich – so alt können wir gar nicht werden.


In großen Lettern hat man auf die Schiffseite MSC for UNICEF gemalt. Die MSC-Kreuzfahrten rühmen sich im Bereich der Spendensammlung für UNICEF recht erfolgreich zu sein. Auf einem Kreuzfahrtschiff scheint eine Menge zusammen zu kommen. Diese schwimmende Stadt verfügt über eine aus Stein gebaute Piazza, über ein Showtheater mit 1600 Plätzen, einem Formel1-Simulator, Bars, Casinos, Shoppingcenter, Fitnesscenter und über all die abwechslungsreichen Angebote eines quirligen Urlaubsparadieses. Ob da die Leitung des Kreuzfahrtunternehmens tatsächlich ihren Passagieren den Gedanken zumuten will, dass es auf der Welt Kinder gibt, denen es gerade nicht ganz so gut geht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass an Bord der für UNICEF fahrenden “MSC-Fantasia” in den Fluren und Kabinen neben Werbeplakaten für zollfreien Schnaps und Bordamüsement, am Eingang zum Schiffseigenen Casino ein Plakat hängt, auf dem ein rußbeschmiertes Mädchens mit großen schwarzen Augen vor einer brennenden Hütte eine weiße Katze schützend im Arm hält.
Wenn man von einer weitgehend gut gebuchten Passage ausgehen kann, so müssen sich neben der ausgelassenen Crew auf dem Sportplatz derzeit etwas über 3000 Menschen in Flåm und Umgebung befinden. Sicher werden ein paar das Schiff nicht verlassen. Schließlich liegt hier eine funktionierende Kleinstadt mit allen Annehmlichkeiten vor Anker und für irgend jemanden muss die Schwerölmaschinerie ja den Pool heizen.
Warum soll man sich da ein Dorf ansehen? Aber viele Schiffsgäste sind bestimmt auf Ausflug. Manche mit einem Reisebus in der Umgebung. Andere machen mit einem Fjordrundfahrtschiff eine Fjordrundfahrt auf dem Fjord, durch den sie kürzlich mit dem Kreuzfahrtschiff geschwommen sind. Wieder andere tummeln sich in der Einkaufsmeile des Dorfes und der Rest besucht eine der schönsten Attraktionen der Umgebung, den Wasserfall von Myrdalen, 20 Kilometer entfernt und 800 Meter weiter oben. Dorthin gelangt man nur mit der Flåm-Bahn.

45 Minuten dauert der steile Aufstieg zum Wasserfall. Dort bleibt der überfüllte Zug für ein paar Minuten stehen, damit man kurz Aussteigen kann, um ein paar Fotos vom Wasserfall zu schießen. Neben dem Wasserfall tanzen und singen nordische Elfen in Folklorekleidern folkloristische Weisen. Dann erfolgt der Rücktransport. Hin- und Rückfahrt kann man schon für knapp 100 Euro pro Person haben.
In meinem Reiseführer steht: „Das sollte man sich nicht entgehen lassen!“ Da ich sehe, was sich bereits im Ort Flåm abspielt oder besser in der Farce, die man als Flåm verkauft, lasse ich mir mit Freuden entgehen, mich in einer zuckelnden Bahn, eingepfercht mit unzähligen Leuten aus aller Welt, durch ein paar Tunnel zu einer Riesenspülung kutschen zu lassen, die man dann nicht mal fotografieren kann, ohne die Köpfe von wildfremden Leuten abzulichten.

Da uns zunächst nichts Besseres einfällt, schlendern meine Herzdame und ich durch die extra für die Touristen aus norwegischem Holz zurecht gezimmerte Shopping-Siedlung. Eine Handcraft-Brauerei bietet original selbstgebrautes Bier aus Flåm an. Verschiedenste Sorten in Dosen von Nullkommadrei Liter. Eine Dose kostet etwas mehr als 12 Euro. An solchen Preise kann man erkennen, ob man ein Trunkenbold oder ein ernst zunehmender Alkoholiker ist. Ein Trunkenbold, kann sich das nicht leisten. Ein Alkoholiker vielleicht auch nicht, aber er kauft es trotzdem. Ich gehöre zur dritten Spezies. Ich bin einfach nur knickrig. Die Kneipe, die zur Brauerei gehört, ist allerdings rechts schön eingerichtet und ich könnte mir einen netten Abend hier drin vorstellen, sollte ich mal, wie Phileas Fogg mit einer Reisetasche voller Geld unterwegs sein. Die Stühle sind aus poliertem Wurzelholz. Ein Platz für ein offenes Feuer befindet sich im Zentrum des Gastraumes. Das Holz der Wände schimmert in hellem Rot. Auf den Plätzen sitzen fast nur Männer. Manche benehmen sich wie Cowboys.
Draußen, auf der Shoppingmeile sind kleine Souvenirstände aufgebaut. Hier verkauft man dem Kreuzfahrer alles, was ihn an Norwegen erinnern soll. Norwegische Fahnen, Strickware, wie Mützen und Handschuhe. Elche aus Holz, Elche aus Plüsch, Elchgeweihe zum Aufsetzen. Trolle natürlich und original norwegische Brockenhexen. Ein Stand fällt mir besonders auf. An diesem verkauft ein findiger peruanischer Andenbewohner bunte Strickmützen, die den norwegischen Mützen zum Verwcheseln ähnlich sind. Außerdem gibt es Plüsch-Llamas in allen Größen. Von handtaschengroß bis kurz vor beinahe lebendig. Vermutlich wird manch einer das Andentier aus dem Urlaub mit nach Hause bringen und den Lieben daheim als Elch präsentieren. Ich jedenfalls spiele kurz mit diesem Gedanken.
Uns locken die Verlockungen der Mall of Norway nicht und auch den Ort Flåm können wir nicht finden, obwohl er sich laut Karte hier irgendwo befinden soll. Zwischen Anleger und Fußballplatz ist ein kleiner grüner Park. Eher eine Wiese mit Bänken, als ein richtiger Park. Hier tummelt sich viel Publikum, das zur Hälfte aus Kreuzfahrtteilnehmern und zur anderen Hälfte aus aus Reisebussen gequollenen Busreisenden besteht. Ein paar Menschen versuchen Kajaks zu mieten. Sie stehen bereits mit Rettungswesten im Arm an einer Holzhütte, vor der mehrere Seekajaks im Sand liegen. Es sind alles junge und dynamisch aussehende Amerikaner. Ältere, etwas aus dem Leim gehende Menschen, die sich ebenfalls als Amerikaner, Australier oder Neuseeländer entpuppen, spazieren gemütlich durch die kleine Anlage. Zwei stämmige, aber sportliche Männer ziehen sich gegenseitig auf. Ich erwarte, dass sie gleich mit ihren Brustkörben zusammenkrachen. Schließlich zieht einer seine Wäsche bis auf die Badehose aus und springt in den Fjord. Er kommt kurze Zeit später prustend wieder heraus und klatscht sich mit seinem Kumpel, viel russische Worte verlierend, ab. Deutsch ist auch zu hören, Französisch ebenfalls.
Meine Herzdame hält den Fuß ins Fjordwasser. Schnell und mit einem kleinen Quietscher zieht sie ihn wieder heraus. Es ist so kalt, dass sie Angst hat, er könne im Wasser Blau anlaufen.
Ich schaue auf das wunderbar klare Wasser des Fjords im Weltnaturerbe. Es wirft nur kleine Wellen auf, in dem ein einsamer Kartoffelchip auf der zitternden Spiegelung der Berge schaukelt.
