Wer immer den Satz “Neapel, sehen und sterben” geprägt hat, er muss einen guten Grund gehabt haben. Nur welchen? Die Klassiker, Romantiker, Dichter und Romanciers schwärmten von der Schönen am Golf. Das muss ein völlig anderes Neapel gewesen sein, als das, was sich uns heute präsentiert.
Das gut ausgebaute Nahverkehrsnetz in der Großraumregion Neapel, bringt uns von Vietri sul Mare innerhalb einer knappen Stunde in die Metropole. Es gibt verschiedene Züge, die hier eingesetzt werden. Eine moderne, gut klimatisierte S-Bahn, in der ein junges Mädchen in der Uniform der Firma Dussmann-Reinigungsservice von einem Ende des Zuges zum anderen schreitet und bei alle freien Sitzbänken mit Sprühflasche und Tuch die Armlehnen putzt, ist die eine Form. Die lernten wir bei der Fahrt nach Pompeji kennen. Die andere Sorte ist eher die dritte Klasse. Wagons mit spärlich aufgestellten Blechsitzen, die verschiedene Stufen der Farbgebung offerieren, sind dabei im Einsatz. Die Klimatisierung erfolgt hier in der Regel in der Kombination von übersteuertem Kühlsystem und weit aufgerissenen Fenstern. Ich bin nicht der einzige im Zug, der hustet.
Ein französisch sprechendes Pärchen setzt sich uns gegenüber. In Pompeji steigen sie aus. Die Welt will Ruinen sehen. Wir fahren weiter nach Neapel. So wie sich die Stadt von der Bahnstrecke her präsentiert, gibt es auch dort genug davon. Die Vororte wirken so trist, wie viele Orte, in denen die Balkone direkt auf die Bahn zeigen. Das Gleisbett ist ein einziges Müllsammellager, da die Bewohner ihren Müll offensichtlich direkt aus dem Fenster werfen. An den Bahnstationen flattern in Müllständern unbenutzte Mülltüten im Wind, als wüsste niemand etwas damit anzufangen. Die Häuserfronten sind nur zum Teil verputzt, Kabel führen wahllos zwischen den Fassaden entlang und von Dach zu Dach. Wir fahren durch Torre del Grecco, eines der berüchtigten Problemgebiete der Stadt, wo die größten Clans Neapels das Leben der Menschen kontrollieren, Drogenlabore ungestört arbeiten können. Die Polizei Neapels wird in diesem Ort als eine Art Mythos angesehen, von dem jeder schon mal gehört hat. Trotzdem wagt sie sich manchmal in den neapolitaninschen Vorort und nahm vor einiger Zeit hier einen der berüchtigsten Camorrachafs fest: Adriano Manca – im Schlafanzug.
Wende ich den Blick nach links durch das andere Fenster des Zuges, kann ich über den ganzen Golf von Neapel sehen, nach Sorrento und nach Capri. Das Meer schimmert blau und sauber, nur die Uferregion wirkt ungepflegt. Neben einer Ansammlung von blauen Fässern, in denen man gern Altöl lagert, spielen Kinder auf einem kleinen Felsen. Ein Mann versucht, ein Sonnensegel aufzustellen. Ein anderer angelt.
Der Zug wird voller. Ein dicker Herr liest Zeitung, ein drahtiger Südländer korrigiert Zeichnungen. Junge Frauen kommen geschminkt und hochhackig durch den Wagon gestelzt. Das Telefonini, die hiesige Bezeichnung des Taschentelefons blinkt in beinahe jeder Hand. Schnatternde Gespräche, Selfies, soziale Kontakte mit Daumen und Zeigefinger.
Allmählich nähern wir uns der Innenstadt. Links der Bahnstrecke jonglieren Kräne mit großen Verladecontainern. Rechts ragt der Vesuv still und friedlich in die Höhe, bebaut mit Häusern bis auf die halbe Höhe des Kegels. Bauland ist hier billig und wer hier wohnt, hat einen wunderschönen unverbauten Blick über den Golf. Das Risiko eines Vulkanausbruches ist hier so hoch wie sonst nirgends in Europa. Zwar schläft der Bursche seit 1944, doch ist er nicht tot. Vulkanologen rechnen jedes Jahr mit seinem Erwachen und warnen zu gleich vor dem gewaltigen, nicht eben ruhigen Supervulkan, auf dem sich der halbe Golf von Neapel befindet.
Der Zug endet an der Station Neapel-Garibaldi. Dem umtriebigen Revolutionär und Kriegshelden hat man in Italien an vielen Orten ein Denkmal gesetzt. In Neapel schmückt eine riesige Statue den nach ihm benannten Platz. Die Piazza Garibaldi ist eine enorm große gepflasterte Freifläche, unter der sich der Bahnhof und ein Einkaufszentrum befinden. Auf dem Platz selbst befindet sich nichts, außer ein paar Werbeaufstellern, ein paar Bauzäune und ein paar in den Boden eingelassene Gitterroste, durch die man die Lüftungsanlagen der Einkaufspassage bewundern kann. Der Platz, der viel Raum für frische Luft bieten könnte, weil der Wind freie Bahn hat, stinkt nach Urin. Kleine Seen aus Pisse dampfen in der brütenden Sonne. Dicht an ihren Ufern liegen Obdachlose reglos auf dem Pflaster, hoffnungslos genug, um nicht mal den Versuch zu unternehmen, zu betteln. Mehr als einmal lässt der Geruch in mir Würgereize aufkommen. Es vergeht eine ganze Weile, bis wir schließlich den Platz überschritten und unter den Augen Garibaldis versuchen, unbeschadet eine Straße zu überqueren. Es gibt Ampeln. Grün für Fußgänger bedeutet nur, dass bei einem Unfall der Fußgänger nicht schuld ist. Autos halten nur kurz oder verringern die Geschwindigkeit, Mopeds brettern einfach weiter, die Fußgänger umkurvend.
Noch nie hegte ich den Wunsch, eine Stadt in dem Moment zu verlassen, in dem ich sie betrat.
Wir tauchen in ein Gewirr aus Gassen ein, in der Hoffnung in einer Fußgängerzone vom Verkehr wegzukommen. Motorroller kreisen auch hier herum. Am Rand der Gasse befindet sich ein Taschenverkäufer neben dem nächsten. Der Bedarf an Ersatz scheint hier größer zu sein, als anderswo. Wir halten unsere Handtaschen fest. Hinter einer weiteren Gasse öffnet sich ein Markt. Obst, Gemüse, Telefone, Software, Taschen und Gürtel. Ein Obsthändler kippt sich einen Kaffee aus einem Plastebecher in den Hals. Dann zerknüllt er den Becher und schmeißt ihn unter den Verkaufsstand des Nachbarn. Gleich daneben bietet ein Verkäufer frische Fische an. Die sind noch feucht und liegen auf dem Holz des Tisches. Gerade gefangen, verderben sie hier ungekühlt in der Sonne, die kaum erstarrten Augen bereits voller Fliegen. Wir verlassen den Markt und gehen eine schattige Gasse hinab. Die Häuser haben fünf bis sechs Stockwerke. Rostige Balkone sind mit trocknender Wäsche behängt. Vor den Häuserfassaden drängt sich Müll in die Nischen. Das alte Pflaster aus großen schwarzen Quadern gibt bei jedem Schritt mit einem klebrigen Geräusch die Schuhsohlen frei.
Von der Gasse aus gelangen wir auf eine breite Straße, die am Hafengelände entlang führt. Ich müsste mal dringend aufs Klo und überlege ernsthaft, ob es hier irgend wen stört, an die Häuserwand zu pinkeln. Kleine Bäume stehen am Straßenrand. Wäre auch eine Lösung und doch auch wieder keine, denn unter jedem Baum hat ein Obdachloser ein Lager aufgeschlagen und fleckige Matratzen liegen im dürftigen Schatten.
Ein kleiner Einkaufsmarkt bietet Rettung. Ich sehe ein Schild mit dem WC-Hinweis. Das Klo soll sich im ersten Stock dieser Einkaufspassage befinden. Sofort werde ich von einer Verkäuferin angehalten. Sie versucht, mir den Rucksack abzunehmen. Ich händige ihn ihr widerwillig aus. Sie befördert ihn in einen Sack aus Netzmaterial, den sie elektrisch versiegelt. Dann kann ich mit meinem Rucksack ins Einkaufszentrum, ohne an den Inhalt meiner Tasche zu kommen. Fürs Klo händigt sie mir einen Metallcoin aus. Ich muss durch die Wein- und die Süßwarenabteilung, bevor ich endlich am hintersten Ende das WC finde. Eine Weile rätsele ich, wie ich die Tür aufbekommen soll. Mittels des Coins gelingt es mir schließlich und ich kann mich befreien. Das war ja jetzt keine große Hürde für mich als Mann, aber was, wenn man in seiner Tasche einen wichtigen Hygieneartikel zu stecken hat, den man als Frau in diesem Moment benötigt? Kann sein, dass das Konzept nicht besonders gut durchdacht ist?
Die Tasche muss ich an der Information selbstständig elektronisch entkorken. Die anwesende Mitarbeiterin telefoniert gerade und hat für mich keinen Blick übrig.
Wieder in der Mittagshitze fällt mir erneut der viele Müll auf. Es heißt ja, die italienische Mafia hat hier in Neapel die Müllsituation fest im Griff. Schuld haben dabei wohl vor allem die städtischen Behörden. Aber was ich hier sehe, lässt mich zweifeln. Es stehen an dieser Straße eine ganze Anzahl sehr großer Müllbehälter, die nur gering befüllt sind. Der Müll türmt sich um diese Behälter herum. Wieder scheint niemand den Leuten die Benutzung erklärt zu haben oder die Benutzung steht unter Strafe. Man kann der Camorra ja vieles vorwerfen. Aber bestimmt nicht, dass die Mafia dran Schuld ist, wenn die Leute selbst zu blöd sind, ihren Müll in die vorgesehenen Behälter zu tun.
Unsere Idee, mit einer Stadtrundfahrt zu sehen wo Neapel am schönsten ist, löst sich allmählich auf. Wir ahnen auch schon, wo Neapel Spaß machen kann: auf einer Fähre, mit der man der Stadt den Rücken kehren kann.
Auf der anderen Straßenseite sehe ich das Büro einer Fährgesellschaft. Die scheint für größere Fährtransporte nach Sardinien, Capri und Ischia zuständig zu sein. Wir wollen aber nach Sorrento, auf der anderen Seite des Golfes. Auf meiner Karte ist ein Fährableger im Hafenbecken eingezeichnet, das sich irgendwo hinter diesem Büro versteckt hält. Ich trete in den kühlen Raum und grüße höflich. Zunächst nimmt keiner der beiden Angestellten von mir Notiz. Ein junger Mann telefoniert. Eine nicht mehr ganz so junge Frau schaut abwesend auf ihren Schreibtisch und tut … nichts. Ich hüstele verlegen. Mit genervtem Ausdruck blickt sie auf und bellt “Prego”. Da mein italienisch hier versagt und ich mich in den Räumen einer international tätigen Fährgesellschaft befinde, in einer der größten Metropolen Italiens, denke ich, dass ich ohne weiteres Englisch reden kann und frage immer noch höflich, ob sie mir wohl sagen kann, wo sich der Fähranleger in Richtung Sorrento befindet.
“I dont know” gibt sie höchst zickig und barsch wieder. “There is no Ferry to Sorrent. I dont know from Ferry to Sorrent”. Jetzt platzt mir doch ein bisschen der Kragen. Und ich frage sie, ob sie noch nie von Sorrent gehört habe? Sie arbeite schließlich in Neapel und in einer Fährgesellschaft und der Ort liege nur knapp vierzig Minuten mit dem Boot entfernt an der Küste und ich habe doch nur eine Frage gestellt. “Go out and look left, Arrividerci” blökt sie und fixiert wieder ihre Schreibtischplatte. »Vielen Dank, Teuerste«, denke ich. »Es war mir ein inneres Blumenpflücken«. Meine allgemein gültige Lebensmethode: »Benimm dich nicht wie ein Arschloch, dann wirst du auch nicht wie eins behandelt« scheint hier wieder einmal ins Leere zu laufen.
Ich gehe raus und weiß genauso viel, wie zuvor, nur weiß ich auch, dass ich gerade von links gekommen bin und sich der Fähranleger irgendwo rechts befinden muss. Tatsächlich findet sich einige Meter weiter ein Ticketpoint für Fähren zu allen Orten der näheren Küste. Capri, Ischia und auch Sorrent. Der junge Mann im Ticketshop verkauft mir auch sofort zwei Tickets, gibt mir Uhrzeit und Ort der Abfahrt bekannt und bedankt sich dafür, dass ich bei ihm ein Ticket gekauft habe. Und viel Spaß in Sorrento. Ich verabschiede mich mit allen drei italienischen Vokabeln, die ich für solche Zwecke gelernt habe: Mille grazie und Arrivederci. Höchst nett und zuvorkommend, der junge Mann, ganz im Gegensatz zu der Erfahrung fünf Minuten zuvor. Was haben diese italienischen Frauen bloß für ein Problem?
Da noch etwas Zeit bleibt, spazieren wir die belebte Straße unterhalb des Kastells entlang. Die Wände der Trutzburg haben Schimmelflecken. Der Fußweg ist schmal und wird von großen Blumenhecken beansprucht. Man muss ständig auf die Straße ausweichen und wieder auf den Weg hochspringen, bevor der nächste Laster einen erwischt. Am Rande wächst ein Affenbrotbaum aus einem umgekippten und zerstörten Blumenkasten aus Beton.
Ein kleiner grüner Park befindet sich hinter einer Segelmarina. Eine junge Frau müht sich auf den Rand eines Brunnes, um sich fotografieren zu lasse. Ich fotografiere den Inhalt des trockenen Brunnens: Neapels Lieblingszierden – jede erdenkliche Sorte von Müll. An der Marina befindet sich ein Restaurant. Wir kommen aber leider nicht bis hin, denn an einem Tor steht, dass das Betreten für Nichtmitglieder des dänischen Segelvereins verboten ist.
Zurück am Fähranleger warten wir auf das Schiff nach Sorrento, dass dann auch endlich ablegt. Die italienische Fahne am Heck flattert in Fetzen hängend im Wind. Langsam verschwindet Neapel hinter uns. Mit jedem Meter Wasser zwischen uns und dem Ufer, wird die Stadt schöner. Aber das ist nur eine Illusion. Neapel sehen und Sterben? Neapel nicht sehen und gemütlich weiterleben, ist da die bessere Empfehlung. Neapel ist mit Abstand die schäbigste und unhöflichste Stadt, in die ich je ein Fuß gesetzt habe. Stinkend, dreckig und all dem gegenüber gleichgültig. Und über dem ganzen Chaos thront friedlich der Vesuv und schaut milde herab. Wie kann der Bursche nur so ruhig bleiben.
Neapel sehen und …
