
Vom Kloster St.Peter im Schwarzwald führt ein Wanderweg hinauf zur Wallfahrtstätte Maria Lindenberg. Nach wenigen hundert Metern an einem grünen Feld entlang, beginnt ein Pilgerpfad hinauf zu einem Hügel mit einer bemerkenswerten Aussicht. Am Wegesrand sind mit geringem Abstand kleine Bildstöcke aufgestellt, die den Leidensweg von Christus nachstellen. Von seiner Verurteilung bis zur Auferstehung finden sich auf diesen kleinen, bereits recht verwitterten Bildtafeln alle Stationen seines letzten Ganges in geschriebenen Wort und gemalten Bild aufgereiht. Der Weg ist an diesem sonnigen Sonntag nach Ostern gut frequentiert. Der Weiße Sonntag gehört wohl noch zur eigentlichen Osterzeit. Zahlreiche Spaziergänger nutzen die Gelegenheit, um zur Wallfahrtskirche Maria Lindenberg zu pilgern.

Zwischendurch am Hochgericht, einem Rastplatz mit Kreuz und komfortabler Sitzgelegenheit, kann man stoppen und den Blick auf den Feldberg zur Linken richten oder nach rechts hinab ins bereits üppig grün erscheinende Dreisamtal. Mit dieser oppulenten Aussicht im Blick taten bis ins 18. Jahrhundert hinein einige arme Hälse ihren letzten Gurgler. Hier stand der St.Petermer Galgen und eine Vielzahl Gerichtsurteile, die mit dem Tode endeten wurden an dieser grandiosen Aussicht umgesetzt.
Die Wallfahrtskirche steht auf der Kuppe eines Berges, den man sich nach einem kleinen Abstieg erwandern muss. Sie ist mit ihrem hellen Anstrich weithin zu sehen. Etwas unterhalb der Kirche befindet sich ein großes protzig wirkendes Hotel- und Tagungszentrum. Dunkles Holz bedeckt die Fassade. Es ist an den Hang des Hügels gebaut und sieht beinahe etwas geduckt aus, als würde es sich nun doch etwas schämen, angesichts der Idee des enthaltsamen Pilgerns luxuriös ausgestattet das Ende des Leidensweges zu schmücken.
Das Wallfahrtszentrum Maria Lindenberg besitzt alles, was der katholische Wallfahrer so benötigt. Gaststätte, Übernachtungsmöglichkeiten, Konferenzsäle, Besinnungsräume, Spiritualitätskurse etc., und eine Aussicht, für die manche Hotelkette kriminellen Neigungen nachgehen würden. Hier jedoch hatte die katholische Kirche als Platzhirsch die Nase vorn. (Und ich weise hier den Gedanken von mir, zu behaupten, die katholische Kirche hätte jemals auch nur mit dem Ansatz krimineller Neigungen kokettiert. Schließlich repräsentierte die Inquisition das einst geltende Recht.)

In der kleinen Wallfahrtskirche befindet sich eine noch kleinere Dankeskapelle, in der vorbereitete Dankeskarten und -anhänger an einem Altar hängen. Eine Karte mit dem Satz: “Maria hat geholfen” fällt auf, weil an dieser ein einzelnes Puppenbein hängt. Wobei hat die Gottesmutter hier wohl geholfen? Bei einer Rehabilitation nach einem Unfall, vielleicht? Bei einer Krampfaderoperation? Bei einer erfolgreichen Wadenspende? Das bleibt, wie in vielen anderen Fällen eine Angelegenheit zwischen der dank sagenden Person und Maria. Unterhalb des Altars brennen zahlreiche Kerzen, die ihr gewidmet sind. Ebenso zahlreich ist die Menschenmenge, die sich in dieses kleine Eckkapellchen drängen, um weitere Kerzen anzuzünden. Sauerstoff fehlt fast vollständig und ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der sich an diesem Ort etwas zu lange aufhält, zu Visionen neigt.
Neben dieser kleinen engen Sehenswürdigkeit öffnet sich zaghaft eine Tür. Gemurmel dringt heraus. Ich werfe verstohlen einen Blick hinein. Der kleine Kirchensaal ist gefüllt von Leuten, die in sich gekehrt Gebete murmeln. Die Tür schließt sich wieder und das Gemurmel verstummt. Kurze Zeit später öffnet sie sich wieder, worauf das Murmeln erneut anschwillt. Das Murmeln des katholischen Wallfahrers wirkt wie ein eigener Soundtrack.
Wenn wir Menschen unsere Hoffnungen an etwas oder jemanden binden und sei es an eine längst verstorbene Figur der Geschichte, so hilft es uns über Krisen, stärkt und schützt. Jeder glaubt an irgendetwas oder gibt sich zumindest Hoffnungen hin. Wir tragen Talismane, treten nur mit einem bestimmten Fuß aus dem Bett oder betreten niemals Türschwellen. Theaterleute reagieren auf ein “Viel Glück” niemals mit ”Danke”. Andere wiederum glauben an Homöopathie oder das fliegende Spagettimonster. Ärgerlich wird es immer dann, wenn sich eine Instituition anmaßt, mit ultimativen Lösungsvorschlägen Handel zu treiben. Die Hoffnung auf eine Hilfe von außen ist genau genommen eine Art Urinstinkt. Die verschiedenen Religionen kamen erst später dazu und haben diese Hoffnungen genormt, geformt und institutionalisiert. Ich weiß bis heute nicht, was besser ist, wenn man in Bedrängnis ist. In den Himmel gucken, nachdenken, heulen, mit Freunden reden und nach Lösungen suchen oder Geld zu zahlen und andere für sich denken zu lassen, die dann mit Worten und Vordrucken für Trost sorgen. Wahrscheinlich hat beides seinen gerechten Platz in der Welt, auch wenn ich persönlich der Scheinheiligkeit als Geschäftsmodell nicht viel abgewinnen kann. Aber die ist ja auch außerhalb von Kirche und Versicherung ziemlich weit verbreitet.
Am Fuße der Kirche befindet sich ein großräumiger Parkplatz, wo die Pilgerer ihre Pilgerfahrzeuge abstellen können. Er ist gut gefüllt mit SUVs, Mercedesesse und anderen Wagen aus gehobener Mittel- und Oberklasse. Irgendwie hatte ich die Idee des Pilgerns anders in Erinnerung.
Von der Murmelkirche weg, führen wieder zahlreiche Wanderwege hinab ins Tal oder auch hinüber zum Feldberg. Wegen der fehlenden Winterausrüstung beschließen wir, den schneebedeckten Feldberg da liegen zu lassen, wo er sich befindet und spazieren derweil hinab durch einen Wald und an einem Bergbauernhof vorbei hinunter ins Tal. Ziegen meckern freundlich. Katzen flüchten verängstigt, wenn ich sie anmauze. Im Tal befindet sich ein als Rasthof ausgewiesener Rasthof. Leider geschlossen. Von hier erwartet uns noch ein drei Kilometer langer Anstieg hinauf zu unserem Ferienhaus auf dem Klausenhof, kurz unterhalb des Brombeerkopfes.
Rast an einem offiziellen Grillplatz. Wir trinken Wasser und verputzen weichgewordene Schokoriegel. Als wir wieder aufbrechen wollen, hält ein schwerer BMW-SUV neben der Holzhütte, dem ein Mann mit einer Axt entsteigt. Die platziert er mit Schwung in dem Baumstumpf und macht damit sein Platzrecht deutlich. Dann holt er eine Kiste Bier aus dem Auto, die er in einen hölzernen Waschzuber stellt, der mit frischem Quellwasser aus dem Berg gespült wird. Das wird er unmöglich alles allein trinken wollen. Zwei Frauen und ein kleines Kind krabbeln ebenfalls aus dem Innern der Hausfrauenpanzers, ein Kett-Car wird dem Kofferraum entnommen, Grillkohle und Fleisch folgen. Nach einem einfachen Familiennachmittag sieht mir das nicht aus. Wir grüßen freundlich und machen uns vom Acker.
Der Weg geht weiter steil bergauf. Auf einer Bergkuppe bleiben wir stehen und schauen hinab in die Landschaft. Felder wechseln sich mit kleinen Waldstücken ab. Drüben auf der anderen Seite des Berges grüßt die Murmelkirche.
Der Wald, den wir wenige Minuten früher durchschritten hatten und der nun einige Meter unter uns liegt, ist erfüllt von Unruhe. Waidmanns Büchse knallt durch die Stille des sonnigen Sonntagnachmittags. Drei Schüsse pfeffern mit Knall und Hall, die in den Tälern weit schallen. Stille. Wieder drei Schüsse. Das Tier entzieht sich offenbar erfolgreich der waidgerechten Ermordung. Weitere Schüsse fallen dicht auf einander. Erst nach einiger Zeit kehrt wieder Ruhe ein. Der Jäger hat sein Opfer erlegt. Nun liegt der Hase wohl danieder, durchlöchert von 72 Kugeln.