Capri
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt ..."
------------Ralph Maria Siegel

Es gibt ein Wort, dass man bei der Nennung des Inselnamens Capri sofort im Kopf hat: Sonne. Nicht nur das süße Getränk in der Aluverpackung erscheint vor dem inneren Auge, auch das Lied von den Caprifischern schaukelt gemächlich am inneren Ohr vorbei.
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…"
Um das zu erleben, darf man kein Tagestourist sein, denn die letzten Fähren laufen häufig noch bei Tageslicht in Richtung Festland aus.
Also nehmen wir uns fest vor, nach Capri zu schippern und dort mindestens eine Nacht zu bleiben.
Es ist der 13. Juni. Antonius-Tag.
Anreise
Von Amalfi aus legt ein Fähre gegen 11:00 Uhr ab. Wir müssen also einigermaßen zeitig aus unserem Bergdorf herab, den richtigen Bus bekommen und rechtzeitig vor Ort sein. Der Bus nach Amalfi fährt wieder im höllischen Tempo von knapp 20 km/h die Zick-Zack-Linien der Amalfitana ab. Auch diesmal ist der Bus voll. Ich muss eine Weile stehen, bevor ein Platz frei wird. Ein Platz am Fenster neben einem Sitz dessen Rückenlehne kaputt ist. Sie ist nach vorn und ein bisschen zur Seite gekippt, an einem Scharnier ausgebrochen und macht die Benutzung des Sitzes unmöglich. Für mich heißt das, eng aber solo sitzen. Ich vertreibe mir die Zeit damit in die Tiefen der vorbeiziehenden Schluchten zu schauen, sehe kleine Buchten und weiße Segel und hin und wieder ein vorbeieilendes Mofa, das eigentlich kaum Platz hat.
Beim Aussteigen bin ich der Letzte.
Amalfi ist sonnenverwöhnt. In einer kleinen Terrassenbar vertreiben meine Herzdame und ich uns die Wartezeit bis zum Schiffstransfer. Von unserem Platz sehen wir die kleinen Boot an ihren Anlegestellen schaukeln. Unmittelbar vor den Booten wurde eine Bademöglichkeit eingerichtet, mit Sonnenliegen auf Holzstegen. Zum Schwimmen nicht geeignet, aber als Abkühlung bis zur Hüfte durchaus brauchbar. Das Wasser umspült einige umfangreiche Hüften in knapper Bademode.
Die Überfahrt von Amalfi nach Capri dauert nur eine dreiviertel Stunde. In dieser Zeit fährt das kleine Fährschiff dicht unter der malerischen Küste entlang, vorbei an einer kleinen spitzen Felsengruppe, die aus dem Meer ragt und mit den Reisen des Odysseus in Verbindung gebracht werden. Die drei Felsspitzen sollen der Sage nach einst die Sirenen beherbergt haben, die die Mannschaft an Bord des Schiffes von Odysseus in den Wahnsinn singen wollten. Da sich aber alle die Ohren verstopft hatten, kamen sie unbehelligt vorbei. Uns gelingt das ebenfalls gut, denn die Sirenen sind nicht vor Ort. Wahrscheinlich üben sie gerade für die Teilnahme am nächsten Eurovision Songcontest.
An Bord ist allerhand Volk, das dringend nach Capri muss. Die meisten sind Tagestouristen mit Handtaschen und bunten Rucksäcken, aber auch ein paar Rollkoffer größeren Ausmaßes stehen an Deck herum. Neben uns sitzen zwei artige englische Jungs in kurzen Hosen, aus denen bleiche Beinchen herausbaumeln. Die Ignoranz des Briten gegenüber Sonnencreme wird heute Abend sicher für Tränen sorgen. Zu den beiden Jungs gehört noch eine größere Schwester, ein Mädchen von etwa 11 oder 12 Jahren. Sie sitzt mit dem Rücken zur Reling, etwas schief in der Haltung, die Augen halb geschlossen und mit ein Gesicht versehen, in dem die Pubertät gerade große Veränderungen vornimmt. Sie wird voll von der Sonne getroffen, trotzdem rührt sie sich kaum, erträgt die Überfahrt in pubertärer Trance, ihr rosa Handy im Schoß. Der Vater der drei Kinder kommt alle zehn Minuten vorbei und fragt, ob alles ok ist. Die Kinder nicken stumm.

Neben dem jungen Mädchen lümmelt eine Frau im Sommerkleid herum, einen Strohhut auf dem Kopf befestigt. Die Lippen im Stile französischer Mädchen etwas schmollend. In regelmäßigen Abständen reißt sie den Mund auf und gähnt so massiv, wie ich es sonst nur von meiner Katze kenne. Ich könnte im Handumdrehen aus dieser Entfernung erkennen, welcher Zahn eine Krone hat und welcher nicht. Mir wurde früher immer ein "Hand vorm Mund" entgegengebrüllt, wenn ich Gähnen musste. Die Zeiten ändern sich.
In Positano nehmen wir weitere Gäste auf. Positano ist noch viel steiler gebaut, als Amalfi und serviert uns das absolute Motiv für eine Postkarte von der Amalfiküste. Bunt und etwas wirr klebt der Ort in den Felsen. In mehreren Etagen in den Stein gehauen, füllt Positano die Schlucht, in die es sich drängt mit Farbe, Stein und Leben.
Die Felsen hinter Positano werden karger und wilder. Die Küstenstraße hat sich ins Hinterland verzogen und schlängelt sich nach Sorrent auf der anderen Seite der Halbinsel.

Auf der hiesigen Seite finden sich noch vereinzelte kleine Burgen und Wetterstationen auf den höchsten Spitzen der Felsen.
Schließlich endet die Halbinsel von Sorrent und der Golf von Neapel öffnet sich. Im blauen Dunst erkenne ich den Vesuv, während sich vor uns die Felseninsel Capri immer höher aus dem Meer erhebt und bereits die ersten faszinierten »Aaaahs«, und »Ooohs« zu hören sind. Das ist der Moment, in dem auch das junge Mädchen für einen Moment zum Leben erwacht und die Fotolinse ihres Telefons auf den Stein der Insel richtet.
Marina Grande.
Der Pier ist gesäumt von Männern in weißen Uniformen. Sie sehen alle so aus, wie man sich einen Cocktail-Stewart auf der Hochseeyacht eines Multimillionärs vorstellt. Kapitänsmütze inklusive. Sie zeigen Schilder hoch, auf den so interessante Namen stehen, wie "Hotel Caesar Augustus". Wenn sich ein Hotel mit solch einem Namen nicht einmal den Zusatz "Palace" leisten kann, dürfte es sicher nur um eine mittelmäßige Absteige handeln.
Der Ort, der sich um den ehemaligen Fischerhafen und jetzigen Touristenumschlagplatz gebildet hat, heißt Marina Grande. Von seiner Lage her ist er eigentlich malerisch. Die Häuser ducken sich unter den großen Felsen, strahlen aber mit ihren Farben eine angenehme, freundliche Wärme aus. Gegenüber der zahlreichen Fahrgastschiffe, die die Tagesbesucher um die Insel und zu den berühmten Grotten schippern, liegen die berühmten bunten Fischerboote auf dem mit Mauersteinen befestigten Ufer. Von hier also “zogen sie aufs Meer hinaus und warfen in weiten Bogen die Netze aus. Bella Bella Marie.”

Der Charme des pittoresken Hafenortes verblasst, wenn man sich die Inhaber der Läden im Erdgeschoss betrachtet und das Treiben, das sie generieren. Hier findet sich eine Ansammlung von Trödelshops, Infomationsständen, Ticketverkaufsbuden und Bistros, wie man sie an jedem beliebigen Ort der Welt, der einen gewissen Schau- und Marktwert besitzt, sonst auch findet und in dem die Anwohner und die dazu gereisten Dienstleister nun ernten, was es zu ernten gibt. Es ist eine kommerzielle Vorhölle, wie sie sich normalerweise die Kreativabteilung der Disneystudios schön bunt ausdenkt. Alle zwanzig Meter soll man entweder ein Taxi mieten, ein Boot für eine Inselrundfahrt besteigen oder jemand will dringend etwas verkaufen "Brauchen sie vielleicht diesen Magnetanker auf dem Capri steht, ein Plastefernrohr für in Schrank zu stellen oder eine Rolle Seemannsgarn?"
Capri soll wunderschön sein und wenn ich die Felsen hinauf blicke, glaube ich das auch. Der Ort Capri liegt selbst einige Meter oberhalb unseres Standortes. Eine Zahnradbahn führt hinauf. Das muss da sein, wo die ganzen Menschen Schlange stehen. In so eine Transportkabine stopft man gewöhnlich so viele Leute rein, wie passen. Dann drängt man sich eng in einer kleinen, schlecht gelüfteten Glaskiste, atmet alle Formen von Ausdünstungen ein, die von Körpern ausgestoßen werden, in denen meterlange Schläuche die faszinierendsten biochemischen Prozesse stattfinden lassen und sieht nichts von der vorbeieilenden Welt, weil man bestenfalls in die Nasenhöhle eines neben ein Stehenden blickt. Man würde ja auch versuchen, sich umzudrehen, wenn das ginge und man dann nicht mit der eigenen Nase im Dekolletee einer besonders großen Frau stecken bleiben würde, was heute meist nicht ohne #aufschrei abginge. Ich kenne solche Transporte. Meist ist es so heiß und so eng in den Kammern, dass man beim Aussteigen nicht weiß, ob der Schweiß, der einem da den Rücken runter rinnt, der eigene ist.
Aufstieg nach Capri-Ort
Kurz hinter einem besonders dreisten Mittagsdieb, einer Pizzeria mit gleich drei Leuten, die auf der Straße auf Gäste lauern, weist ein Schild uns darauf hin, dass es hier entlang nach Capri Ort ginge, so man denn gewillt ist, Zeit und Kraft für den Aufstieg zu investieren. Wir sind gewillt und nach wenigen Schritten verschwinden wir in einer steil aufwärtsführenden Gasse, die von hohen Mauern gesäumt ist, von schmiedeeisernen Toren durchbrochen und von bunten Blumen und Sträuchern überwuchert. Namenschilder gibt es nur vereinzelt an den Pforten, die sich rechts und links immer wieder auftun und wenn bestehen sie aus stilvoll gestalteter Keramik. Vereinzelt kommt uns ein Wanderer entgegen und eine junge Frau mit einer vollen Einkaufstasche, die ihren Schlüssel in einem Torschloss versenkt und in einer kleinen Oase verschwindet, hinter der sich ein Dschungel mit Pool versteckt. Hier scheint es sich recht gut leben zu lassen. Es ist angenehm ruhig in den kleinen Gassen und nur selten streunt hier ein Tourist hinauf oder hinab.

Eine schmale Straße kreuzt. Breit genug für den kleinen Bus, der hier die Leute hinauf nach Capri fährt. Hinter der Kreuzung befindet sich auf einem Absatz ein Wasserspender, ein kleiner in einer Wand eingelassener Wasserhahn, für jedermann benutzbar. Nach den geleisteten Höhenmetern ein freudiger Grund für eine kurze Rast. Die Nische ist solide und mit einigem Kunstverständnis gemauert, das Wasser kalt und erfrischend. Wir löschen unseren Durst und können uns sicher sein, das der Schweiß, der uns nach diesem Anstieg vom Rücken läuft ehrlich erworben ist.
Wenige Meter später weckt ein Panoramarestaurant unserer Aufmerksamkeit. Mit einer angeberisch schönen Aussicht möchte sich der Wirt seine Pizza vergolden lassen. Die einfachste kostet knapp zwanzig Euro. Wir beschließen, dass für uns jetzt die Mittagszeit noch nicht angebrochen ist.
Eine Weile geht es noch weiter bergauf, bis der Weg durch einen Tunnel führt. Im Tunnel befindet sich ein öffentliches Klo. Der ganze, sehr große Raum ist in hellem Blau gefliest, das Licht dezent gedimmt und aus unsichtbaren Boxen plätschert leise Lullermusik. Es ist eine Wohlfühloase, in der sich der römische Kaiser Caracalla, der für seine Vorliebe für Wellnesstempel bekannt wurde, vermutlich stundenlang glückselig an ein Urinal gestellt hätte.
Capri-Ort
Direkt hinter dem Tunnel tauchen wir ein, in die einmalige Welt von Capri Ort. Piazza Umberto heißt der zentrale Platz. Hier treffen sich alle Touristenströme, die aus den Bussen, die aus den Zahnradkabinen, die, die hier eine Wohnung oder ein Hotel bewohnen und die wenigen, die sich zu Fuß herauf gewagt haben. Die Türen der zahllosen Boutiquen stehen weit offen und die kauffreudige Kundschaft aus aller Welt strömt hinein, wie es Wespen in ihrer Nester tun. Zwei kehren ein, zwei wieder hinaus. Die Frau, die Tüte mit der Beute glücklich schlenkernd, der zahlende Partner mit angespannten Gesichtsmuskeln hinterher - so der Idealfall. Aber auch die Variante: gelangweilte Upperclassziege stolziert aus dem Parfümladen, gefolgt von einem Partner, der ratlos aber laut fragt, was er denn noch tun soll, sehe ich unter dem Uhrenturm entlangeilen. Die Läden verbreiten hier den Chic und die Eleganz, die jenseits dessen liegt, was für den Campingfreund von Interesse ist. Kaschmirpullover und Strickwesten von Amina Rubinacci sind im Angebot. Parfums aus den Blüten Capris gibt es bei Carthusia. Selbst kreierter Schmuck stammt von Graziavozza. Ciro Furia residiert hier mit seiner exklusiven Schneiderarbeit. Klangvolle Namen haben sie sich hier ausgedacht. Man findet swatchähnliche Uhren zu Hauf, kunstvolle Keramikgefäße, jemanden der Spitzen- und Klöppelarbeiten für den gehobenen Bedarf anbietet, Galerien, in denen Maler Ansichten Capris zu Preisen anbietet, die höher aufsteigen, je gefragter der Künstler in Capris Kunstkreisen gerade ist. Natürlich ist auch der Rest der Läden von Welt vor Ort, die solche Flecken bevölkern: Bulgari, Dolce und Gabbana, Prada, der ganze Trödel halt. Die Insel der Dichter und Künstler, vollgestopft mit Shoppingqueens. Vor hundert Jahren moserte schon Rilke herum, dass er auf Grund der Mengen an Touristen, die hier ausgekippt werden, keinen poetischen Satz zu Stande bringe. Dabei stand ihm in einem Garten ein Stehpult mit Aussicht zur Verfügung. Aber ein bisschen nachvollziehen kann ich sein Genörgel.
Doch kaum trete ich aus dem Windkanal des Kommerzes hinaus in die Sonne, bin ich wieder versöhnt. An einem Gitter gelehnt bestaune ich erneut die Aussicht auf den Golf von Neapel. Das macht mich für einen Moment sprachlos und lässt mein Genörgel verstummen. Ich gucke verträumt hinüber zum Vesuv und werde dann freundlich aber bestimmt von einer kleinen Asiatin zur Seite gedrängt, die sich in verschiedenen Posen dem Dauerklicken der Kamera ihres Begleiters aussetzt.
Posen und Selfies vor Kulisse sind heute bei Reisenden von hoher Wichtigkeit. Man kann nicht mit einem Reiseort angeben, wenn man ihn nicht beweisen kann. Und nur ein Bild allein reicht nicht. Also postiert man sich vor das Postkartenmotiv, verdeckt es im besten Falle noch und stellt sich selbst in den Mittelpunkt. Viele dieser Schnappschüsse müssen wiederholt werden, weil sie dem Anspruch des Fotomodells nicht genügen. Wie viel digitaler Müll mittlerweile in den Netzen und Servern der Welt schwimmt, weiß kein Mensch. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob digitaler Müll ebenfalls irgendwo für Dreck sorgt und die Umwelt schädigt? Was machen all die unbeachteten Bits und Bites? Finden die sich auch mal irgendwo zusammen, so wie die republikgroßen Plastemüllinseln in den Weltmeeren? Oder reifen sie heimlich zu einer bedrohlichen Intelligenz heran, einem lebensbedrohenden digitalen Müllmonster? Wir sollten alle viel vorsichtiger sein.
Kurze Mittagspause
Wir verlieren uns erneut im Gewirr der Gassen und stehen in einem Treppenabgang plötzlich vor der offenen Tür eines Restaurants. Pfannenklappern und Geschirrklimpern hören wir aus dem Innern. Ohne lange zu überlegen, beschließen wir, dass es Zeit ist für einen kleinen Mund voll. Ein älterer Kellner, Ober oder Restaurantchef führt uns eine Holzstiege hinauf zu einer Galerie und dann in einen kleinen Gastraum, in dem wir an der offenen Tür eines Balkons Platz nehmen. Auf dem Balkon sitzt ein Pärchen und sortiert mit großer Ernsthaftigkeit seinen aktuellen Beziehungsstatus. Hinter dem Pärchen legt sich der spannende Blick auf die Gitter der Balkone des neben stehenden Wohnhauses, mit Sonnenliegen und Wäscheständern. Nach unten kann man die rotierenden Lüfter in den Klimaanlagen sehen, die auf dem Dach der Küche im Erdgeschoss angebracht sind. Wir sitzen im Innenraum und erfreuen uns an den Bildern an der Wand, Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit, als in Marina Grande noch mehr Fischerboote anlandeten, als Fahrgastschiffe und Fähren. Es sind sehr schöne Fotografien, stimmungsvolle Momentaufnahmen von einem Festumzug im Hafen. Bilder von der Schwere und von der Einfachheit des Lebens auf Capri, bevor massenhaft Leute wie wir auf der Insel einfielen, um eine Nase davon abzubekommen.
Ich bin gern Tourist, reise und schaue mir die Welt an. Ich weiß aber sehr wohl, dass der Tourismus einigen Orten nicht besonders gut tut. Und auch der Reisende selbst, erwartet oft mehr von dem Ort, den er besucht, als er am Ende bekommt. Man weiß nichts wirklich von der Schönheit des Paradieses, wenn man es nicht besucht hat. Man kennt nicht die tatsächlichen Farben, nicht die Düfte, spürt nicht die sanfte Brise, hört nicht die Natur atmen, genießt nicht die Ruhe und die Abgeschiedenheit, wenn man nur davon träumt. Um das zu spüren, muss man dorthin reisen. Und wenn man denn da ist, stören einen vor allen all die Leute, die eigentlich nur das Selbe möchten. Oft scheint der Traum, der bessere Ort.
Während ein älterer Kellner unsere Bestellung aufnimmt, serviert uns ein Lehrling die Getränke und das Essen. Er scheint noch ganz neu im Geschäft zu sein, denn er ist nervös und hat offensichtlich Angst vor dem Gast. Am Nachbartisch lässt er eine Gabel fallen. Aber er weiß, von welcher Seite man serviert und verschüttet nichts. Er hat eine leichte Ähnlichkeit mit dem Mann, der uns vorhin zu Tisch führte. Sicher ist dieses Restaurant ein Familienbetrieb. Der Junge wird das alles irgendwann perfekt lernen.
Ich esse Gnocchies mit Meeresfrüchten und die sind wirklich köstlich, was ich dem Kellner und auch dem Lehrling versuche wissen zu lassen. Zwar sind die relativ kleinen Portionen auch nicht gerade billig, aber wir verlassen das Restaurant mit dem Wissen gut bedient und dabei nicht offen übers Ohr gehauen worden zu sein. Man ist ja schon dankbar, wenn man wenigstens dabei an Profis gerät.
Ausblick mit Meerblick
Wieder verlieren wir uns in einem ruhigen Gewirr aus Gassen und kleinen Sträßchen, die uns schließlich zu einem der schönsten Orte der Insel führen. Wir befinden uns im Gardini di Augusto unterhalb der Villa Krupp und oberhalb der Via Krupp. Der Garten ist ein bunter Traum, voller Blütenduft, kleinen schön gestalteten Wiesen und Spazierwegen und an seinen Enden gespickt mit spektakulären Aussichten. Ich blicke von einem dieser Aussichtspunkte herab aufs Meer.

Die weißen Schiffchen schaukeln im grünblau schimmernden Wasser, ein paar kleinere Boote steuern auf den engen Eingang zu, der in eine der vielen Grotten, die man hier besuchen kann, führt. Zwei Felsen steigen steil aus dem Meer am Ausgang der kleinen Bucht. Auf der anderen Seite blicke ich hinab auf die Via Krupp. Diese Straße ist ein steiler serpentinenartiger Aufstieg, der vom Meer hinauf zur ehemaligen Lieblingsbehausung des deutschen Industriellen Friedrich Alfred Krupp führt. Krupp verbrachte von 1897 - 1902 die Wintermonate auf der Insel und widmete sich hier vor allem der Meeresbiologie.

Weil ihm der Weg vom kleinen Hafen Marina Piccollo zu seiner Residenz zu lange dauerte, ließ er diese eng gewundene Serpentinenstraße aus dem Berg hämmern. Heute zählt dieser kleine Weg zu den schönsten Straßen der Welt, obwohl es eigentlich nur ein Fußweg ist. Betreten kann man die Via Krupp nicht. Ein kürzlich erfolgter Steinschlag – gerade erst zwei Jahre her – lässt die Ortsaufsicht um die Sicherheit der Besucher fürchten und vielleicht auch deren Klagefreudigkeit. Am Ende des kleinen Parks, knapp neben dem versperrten Abgang, steht eine Erinnerungstafel an Lenin, der wie Maxim Gorki zu Anfang des letzten Jahrhunderts auf Capri Urlaub von der anstrengenden Revolutionsplanung machten.
Da wir noch mehr von der Insel sehen wollen, beschließen wir, uns durch das Gassengewirr zurück in die Einkaufshochburg von Capri-Ort zurück zu schleichen und uns einen Bus zu suchen, der uns in den kleineren, etwas abgelegenen Ort Anacapri bringen soll.
Von weiten Ausblicken, engen Gassen und beleidigten Navigationsgeräten
Anacapri
Von weiten Ausblicken, engen Gassen und beleidigten Navigationsgeräten
Am Rande des Trubels von Capri Stadt befindet sich ein winziger Busbahnhof - wenn man den denn so nennen darf. An einem Pavillon, der wirkt, wie ein Carport mit drei Parkbuchten, befindet sich ein kleiner Zugang, der aussieht, wie ein offengelassenes Gatter zu einem Ziegenstall. Einem Ziegenstall, der in drei Segmente aufgeteilt ist. Diese heißen Marina Grande, Capri (was gleich um die Ecke ist) und Anacapri. Man muss den richtigen Zugang in diesem kleinen Labyrinthspiel finden, um sich dem gewünschten Bus zuzuordnen. Das scheint schwerer, als es zunächst aussieht, denn fast jeder, der uns in dem Gang zum Bus nach Anacapri folgt, fragt, ob das hier richtig sei, nach Anacapri. Es gehört zu den unerklärlichen Phänomenen des Reisens, dass man sich unsicher fühlt, selbst wenn man den Hinweisen und Wegleitschildern folgt. Vielleicht meint es die Wegmarkierung ja anders, als man es selbst versteht. Oder jemand erlaubt sich einen Witz, über den nur er selbst lachen kann. Wir gehen zuerst durch dieses Gatter und weitere Reisende schließen sich uns an. Ich fühl mich, wie die Judasziege, den genau weiß ich auch nicht, was mich erwartet, erzähle den nach mir Folgenden aber hoffnungsvoll, dass alles gut wird. Wird es auch, denn schließlich schiebt sich der Greyhound in die Parklücke. Nun ja, wenn man Hunderassen als Vergleich bei Bustypen heranzieht, so ist dies hier eher ein behäbig er Mops. Nicht wesentlich größer als ein Werkstattwagen einer Klempnerfirma, besitzt der Bus eine Seitentür zum Ein- und Aussteigen. Über eine steile zweistufige Treppe, die in der Mitte mit einem Handlauf getrennt ist, gelangt man als sehr schneller Menschen zügig ins Innere des Busses, als normal gebauter Mensch mit moderater Geschwindigkeit und als stabilerer Mensch nur mit blauen Flecken. Ich drängle mich am Fahrer vorbei, der mir meine Fahrkarte abnimmt, sie in den Entwerter stopft und abstempelt, als wäre ich, da ich Tourist bin, zu blöd, für solch eine qualifizierte Tätigkeit. Ich schaffe es aber immerhin, mir einen der neun Sitzplätze mit Aussicht zu sichern.
Der Bus schleppt sich mit lautem Röhren Meter um Meter die steile, aber dafür schmale Straße hinauf, legt sich in die engen Kurven, wie ein von schwerer See getroffener Gaffelschoner. Auf einer Seite stützen Mauern und künstlich angelegte Baumbestände die Straße vor Steinschlag und Bergrutschen, auf der anderen fällt der Blick hinab zum Meer. Die Straße nach Anacapri ist, wie auch die Amalfitana, die Straße entlang der malerischen Amalfiküste, eine Meisterleistung der Ingenieurbaukunst des späten 19. Jahrhunderts. Sie windet sich hier um das Kalksteinmassiv des Monte Solaro.
Auf der ganzen Strecke bis hinein nach Anacapri gibt es nur einen Zwischenstopp: direkt an der Eingangspforte des Hotels »Caesar Augustus«. Das befindet sich auf einer Felsspitze und gibt mit einer der prächtigsten Aussichten ganz Süditaliens an. Von der Insel Ischia im Osten über Procida und der Bucht bei Pozzuoli, blickt man weiter bis nach Neapel, dessen abstoßende Gerüche von Müll und Urin man hier nicht mehr ertragen muss. Der Blick schweift hinüber zum friedlich schlummernden Vesuv, über den Golf von Neapel, der Halbinsel Sorrent, dann die Amalfiküpste entlang bis nach Salerno. Dann dreht man sich ein wenig nach rechts und überblickt den Golf unterhalb des Cilento, bis an die Spitze des gerade so erahnbaren Ortes Licosa. Die beiden Golfs oder Golfe oder Golfii - wie auch immer, geben zwei wunderbare schwungvolle Rundungen ab, die in ihrer Mitte von der Spitze der Halbinsel Sorrent getrennt werden. Irgendwo an dieser Küste ist Sophia Loren geboren worden. Vor mir liegt ein strahlend blaues Meer voller weißer Boote, Ausflugsschiffe und Yachten mit angeberischen Ausmaßen. All die kleinen und großen Dreckecken, an denen es dem Großraum Neapel nicht mangelt, sind hier weit weg und vergessen. Dieser Augenblick der Vollkommenheit einer Landschaft von überwältigender Schönheit ist vielleicht nur kurz, aber so einprägsam, wie sich sonst nur ein Gemälde zu einzuprägen vermag. Wer sich hier mit einer Staffelei hinstellt, benötigt sehr viele Blautöne.
Die Preise in diesem Luxushotel mit dem mondänen römischen Cäsarennamen sind nicht gerade für eilige Pauschalurlauber gemacht, wie ich später aus dem Internet erfahre. Wer es sich leisten kann, hier im Überlaufpool, in erstklassigen Restaurants und Suiten mit Übernachtungspreisen von bis zu 4500 Euro das Ambiente zu genießen, bekommt für sein Geld wirklich was geboten: Service, der Wünsche erfüllt, den er gar nicht hat, Betten, deren einzige Funktion es ist, im siebenten Himmel zu landen und Restaurants, in denen das Essen mehr Rätsel aufgibt, als ein Fernsehquiz. Und die Aussicht, diese traumhafte Aussicht übers Meer - die ist allerdings bei allem kaum bezahlbaren Luxus nichts, in das die Hoteleigner irgend eine Form von Eigenleistung gesteckt hätten. Nur dreißig Meter neben dem Hotel ist der An- und Ausblick derselbe, nur ohne Pagen und ohne finanziellen Ruin.

Anacapri erweist sich als die leisere Schwester von Capri-Stadt. Auch hier gibt es ein paar edle Boutiquen, ein paar schicke Hotels und ein paar Kunstgalerien. Doch alles wirkt viel gelassener und weitaus weniger wie ein Basar der Eitelkeiten. Wir laufen ein paar Meter die Promenade herunter und machen uns dann auf die Suche nach einem Hotel für die Nacht. Ich hatte mir auf Booking.com ein preiswertes, aber schickes Hotel ausgesucht, gebe das Ziel in mein Wandernavi ein und wir marschieren streng nach Vorgabe des Gerätes los. Ich verfolge den Pfeil, meine Herzdame die Straße. Wir gelangen an einen Platz vor einer Kirche. Vor dem kleinen Eingangstor gestalten Kinder und Jugendliche einen Teppich aus Blumen. Ein voller Blütenduft steht über dem Ort, den wir langsam durch eine Seitengasse verlassen. Wir passieren eine Straße und landen erneut in einer engen Gasse. Rechts und links erheben sich bis in zweieinhalb Meter Höhe weiß gekalkte Wände, die die Einwohner vor zudringlichen Blicken bewahren. Ich weiß nicht, ob hier gut verwahrt Prominente hausen und es ist mir auch wurscht, aber ob Promi oder Eingeborener, die ewigen Touristen, die hier entlang jagen, würden mir auch auf den Zünder gehen. Allerdings sind wir zu Zeit in dieser Gasse allein. Hier scheint sich kaum ein Tourist hin zu verirren. Und wenn doch, dann ist Verirren der richtige Begriff. Meine Navigationsapp zeigt mir längst nicht mehr an, dass wir uns auf dem Weg befinden, dem wir eigentlich folgen sollten. Eigentlich befinden wir uns laut Navi bereits hinter den Mauern und sollten längst auf dem Schoß irgend einer Filmzicke herumlümmeln. Aber irgendetwas ist hier falsch. Entweder macht das Navi oder die Realität schlapp. Die App saugt sich munter durch den Stromvorrat des Taschentelefons. Daran kanns also nicht liegen. Oder doch?
Der Mensch hat in der langen Geschichte verzweifelter Bemühungen, sich mit komplizierten Erfindungen, Dinge zu erleichtern, die man ohne den Einsatz dieser Erfindungen, schneller erledigen könnte, schon ein paar tolle Treffer gelandet. Das Navigationssystem gehört zweifelsohne dazu. Irgendwo im Nirgendwo befindet sich ein ratloser Mensch und möchte gern nach Haus oder wenigstens ans Ziel des Tages. Er greift zu einem kleinen Stück leblosen Verbundmaterial aus Glas, Aluminium und Silizium, das in der Lage ist, Informationen an ein weitaus größeres Stück leblosen Verbundmaterials aus ähnlicher Materialzusammenstellung zu schicken, das irgendwo hunderte Kilometer über seinem Kopf um die Erde kreist und das in diesem Moment den kleinen Menschen mit dem teuren Taschenspielzeug auf dem großen runden Planeten genau orten kann, während andererseits der geniale, aus Millionen intelligenter Zellen bestehende komplexe Organismus mit seinem enorm leistungsfähigen Gehirn und seinem brillanten in Jahrmillionen evolutionär geformten Orientierungssinn, nicht die leiseste Ahnung hast, wo er sich befindet. Das einzige Problem, das sich zwischen der Information des Satelliten, des Navigationssystems und dem persönlichen Gefühl der Sicherheit, tatsächlich zu wissen, wo man sich befindet, steht, ist die Komplexität der Software. Oder anders ausgedrückt, das eigentliche Problem besteht zwischen der Genialität der Technik, die sich findige, äußerst schlaue Köpfe ausgedacht haben und der eigenen Beschränktheit beim Umgang mit dieser, von findigen und äußerst schlauen Köpfen ausgedachten Technik. Ein Freund, dem nie wirklich was schief geht, wenn er mit technischem Spielzeug konfrontiert wird (oder der dies zumindest nie zugäbe), würde hier generös und augenverdrehend feststellen: “Muss man sich natürlich vorher schon mal ein bisschen mit beschäftigen.”
“Nein! Muss man nicht!” Technik, die hergestellt wird, um angeblich alltagstauglich in den Einsatz am lebendigen Menschen geschickt zu werden sollte funktionieren, ohne das man weiß, was man da überhaupt in der Hand hat. Der größte technische Depp und Handbuchignorant - mich eingeschlossen - sollte ein handflächengroßes Gerät intuitiv bedienen können, ohne einen Schrankkoffer mit Bedienungsanleitungen auswendig gelernt und in tagesfüllenden Workshops an sich selbst getestet zu haben. Und ein Navigationsgerät, dem ich nicht vertrauen kann, weil es sich beleidigt füllt, wenn ich einen Bedienfehler mache und ein bisschen ratlos darauf herum tatsche, ohne mir klar zu machen, was ich tun soll, hat am Ende nur ein wirklich entscheidendes Problem: Mich! Ich schalte es ab und werde es nicht mehr benutzen.

Wir orientieren uns am Straßenschild und folgen dem Gefühl. Nach einer Weile gelangen wir wieder auf dem Platz mit der kleinen Kirche und den Blumenteppich. Man kann sich in den Gassen und entlang der hohen Steinmauern der Grundstücke Anacapris sehr effektiv verlaufen. Genau das machen wir auch weiterhin, da ich nun trotzig weder Navi noch Karte vertraue, sondern nur noch leise vor mich hin seufze. Ich setze mich auf eine kaum kniehohe Steinmauer. Wenige Sekunden später streicht eine bunte Glückskatze um meine Beine. “Kraul mich, am besten zwischen den Ohren” schnurrt dieses kleine feline Flittchen, dem ich nicht widerstehen kann.
Das scheint zu helfen. Ich werde etwas ruhiger - beruhigen können Katzen richtig gut, wenn sie nicht heimlich den Wurstteller auf dem heimischen Küchentisch plündern. Wir brechen wieder auf und nach einigen energischen Schritten in die vermeintlich falsche Richtung, befinden wir uns vor einer recht großen Kirche an einem auch nicht sehr kleinen Platz. Wir fragen einen einheimisch wirkenden Einheimischen, der rauchend über den Platz schlendert. Der erklärt uns wage und kompliziert, wo wir uns befinden. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, so sind wir auf Capri.
Ich zeige auf eine Gasse und sage bestimmt: “Da lang”. Knapp zweihundert Meter weiter erblicken wir ein Hinweisschild, das uns den Weg zu unserem Hotel weist. Manchmal muss man einfach die Initiative an sich reißen.
Das Hotel il Girasole versöhnt uns nach all den Strapazen des Tages gründlich. Mit dem Mann am Empfangstresen kann man nicht nur ein Check-In Gespräch führen, sondern sogar ein bisschen albern Small-Talken. Das Zimmer, das wir bekommen ist zwar klein, besitzt aber einen Zugang zu einer großzügigen Gemeinschaftsterrasse mit rankenden Weinreben und einem grandiosen Gratisblick über das Meer bis hinüber nach Ischia. Ein paar Stufen oberhalb unseres Kämmerchens plätschert das Wasser kühl im blauen Pool und nichts kann uns nun davon abhalten, den Moment zu genießen, uns abzukühlen und zu wissen, dass wir tatsächlich auf Capri angekommen sind und heute auch nicht wieder weg müssen. Jetzt braucht nur noch die scheiß rote Sonne im blauen Meer zu versinken.