Juni 2016
Diesen Sommer geht es in die Bretagne. Genauer an die Côtes du Granit Rose im Norden der Bretagne. Der kleine Hafenort Treguier ist der Anlaufort und von dort sind es noch ein paar Kilometer nach Norden bis an einen äußersten Zipfel, der den Namen Plougrescant trägt. Erstmal müssen wir aber ankommen und da in Frankreich mal wieder Arbeitskampf angesagt ist, hoffen wir darauf, hin und wieder eine Tankstelle zu finden, an der man auch Benzin bekommt. Wie das alles ausgeht erfahrt ihr hier im Fahrtenschreiber. (Immer vorausgesetzt, dass Netzstabilität besteht.)
Vorausschau
Mehr über zwei Wochen an der Cote du Granit Rose lesen Sie hier:
In der Picardie
Ankunft in der Bretagne
Küstenwanderung
Granitküste
Île de Bréhat
Markttag
Land und Hundezunge
Vorausschau
Mehr über zwei Wochen an der Cote du Granit Rose lesen Sie hier:
Mont St. Michel
St. Malo
Fest Noz in Tregastell
Halbinselalltag in Plougrescant
Roscoff
Von Papageientauchern und Basstölpeln
Abgesang
In der Picardie
Das ist wieder typisch mit diesem Franzosenurlaub. Wir sind den ersten Tag unterwegs und ich bin am ersten Abend schon wieder sowas von pappesatt. Das Restaurant , das zu dem kleinen Hotel gehört, in dem wir absteigen, macht alles richtig, auch wenn es auf dem ersten Blick gar nicht so aussieht und entschädigt auf eigenwillige Weise für einen langen 12 Stunden-Tag auf den Reifen unseres Autos.
Aber der Reihe nach.
Dass der Weg nach Frankreich nicht kurz ist, wissen wir. Haben wir schon mehrfach getestet. Als die Kinder noch ganz klein waren und wir uns mit einem gemieteten Auto für eine Woche auf den Weg in die Bretagne aufmachten, lies der Junior immer wieder die Worte durchs Mobil schallen: “Lange, lange Häuschen fahren”. Heute fahren wir ohne Kinder (also weniger Pullerstopps) und im Gegensatz zu vor zwanzig Jahren, schneller, sicher und respektloser. Die Franzosen fahren auch nur Auto. Der Weg führt über Aachen nach Belgien. Belgien ist für uns immer ein Durchfahrtsland. Mittlerweile haben die Nachbarn große Teile der Autobahn in Schuß gebracht und selbst die Raststätten sind nicht mehr klebrig. Die Belgier müssen irgendwann festgestellt haben, dass es doch angenehmer ist, auch auf Autobahnraststätten nicht im eigenen Urin oder dem der Nachbarvölker zu stehen. Auch Schlaglöcher - und davon besaßen die Autobahnen in Belgien immer mehr als das Land Einwohner - lassen sich mit den Geldern der Europäischen Union gut überarbeiten. Dann kann man selber schneller fahren und die ganzen Durchreisenden sind ebenfalls ganz schnell wieder weg.
So wie wir. Zwei Stunden Fahrt und Belgien ist abgehakt. Nichts gegen die Belgier. Aber mein Lieblingsreiseland wird das nicht.

In der Normandie ist es nebelig. Die Temperatur ist auf 13 Grad gesunken. Wir fahren in die Gegend entlang der Somme. Die Landschaft ist eigenwillig. Eine Mischung aus Grundmoräne und zerrissener Weltkriegslandschaft. Einige der fürchterlichsten Schlachten des 1. Weltkrieges haben hier getobt. Zehntausende Soldaten aus verschiedensten Ländern ließen hier in den Grabenkämpfen sinnloserweise ihr Leben. Das Kanonen- und Granatenfeuer konnte man als dumpfes Grollen noch im entfernten London spüren. Beim Durchqueren der Straßen ziehen sich die Felder rechts und links der Route entlang. Viele geschwungene Hügel, manche zerrissen, schartig und voller Abbrüche. Kriegswunden, die bis heute nicht endgültig geheilt sind. Immer wieder weisen Schilder auf am Straßenrand angelegte Soldatenfriedhöfe. Kein Dorf, ohne Kriegerdenkmal. Was vor allem wir Deutschen diesem Land angetan haben, ist nur schwer nachvollziehbar. Ich bin jetzt Fünfzig und habe mit alledem nichts zu tun. Ich bin geboren worden, als Deutschland und Frankreich bereits einige entschiedene Schritte in Richtung Versöhnung und gemeinsamer Freundschaft unternommen hatten. Eine Freundschaft, die es mir Wert ist, gern und oft ins Nachbarland zu fahren und dabei stets mit großer Herzlichkeit empfangen zu werden. Trotzdem ist mir unwohl, wenn ich durch die Schlachtfelder fahre, deren Grauen bereits einhundert Jahre zurückliegen. “Nicht meine Schuld” denke ich und fühle mich dabei nicht so, als würde ich es glauben.
Auch der winzig kleine Ort Chepy kurz hinter Abbeville ist solch ein Ort.
Die Felder sehen ordentlich aus, die Häuser wechseln zwischen schwerreich renoviert und gerade so vorm Verfall gerettet. Schwarz-weiße Kühe stehen auf Weiden, die wirken, als hätte man sie vor hundert Jahren übel zersprengt. Neu sind die Windräder, die hinter dem stillgelegte Bahnhof ihre Drehköpfe in den Nebel stecken. Die Schwalben schweben vorsichtshalber über dem Erdboden, Möwen vom nahen Kanal drehen ihre Runden.
Das Hotel “L’auberge Picarde” wirkt leer. Ohne Anmeldung und nur mit dem Wunsch ein Zimmer für die Nacht zu bekommen, erscheinen wir an der Rezeption. Prompt bekommen wir einen Schlüssel und ein Zimmer. Hoffentlich kochen die auch für uns, denke ich und gehe zu Auto, Wäsche raussuchen. Auf dem Rückweg werde ich fast von einem Reisebus gerammt. Eine größe Rentnergruppe entspringt dem Bus und entert die Rezeption. Am Ende hängt noch ein Schlüssel am Haken. Wo die alle herkommen, weiß ich nicht. Belgien klingt aber wahrscheinlich. Entweder auf Durchreise oder Weltkriegstouristen. Wenn das Hotel so unvermittelt von Leuten im Alter um 70+ gefüllt ist, mache ich mir Sorgen um meinen Nachtschlaf. Die Wände sind dünn, die Wasserleitungen laut. Vermutlich wird die ganze Nacht irgendwo eine Spülung laufen.
Das Hotel hat sicher bereits bessere Zeiten gesehen. So kurz vor der Einweihung, vielleicht. Der sanitäre Standard segelt nicht unbedingt weit den den aktuellen Trends voraus. Eigentlich ist es eine Schaluppe, in der zwei Bedienstete hinterher rudern. Im Bad herrscht Fliesenfrevel. Die Klobrille verliert ihre Farbe, die Heizung zeigt Rost. Aber es wird sauber gehalten, so gut es geht und das kleine Zimmer reicht für eine Nacht auf der Durchreise.

Das Abendessen im dazugehörigen Restaurant entschädigt für alles. Keine ausufernde Küche mit hunderten Angeboten finden wir vor, sondern regionales und überregionales zum verschmerzbaren Preis. Der Kellner erinnert mich an Louis de Funes, den französischen Volksschauspieler, der in “Brust oder Keule” die französische Gastronomie wie kein anderer darstellte. Unser Kellner hat den selben hektischen Gang, die Schultern fallen ihm runter und das Gesicht gleicht ihm ebenfalls. Breites Lächeln auf dicken Lippen und Augen, die in der Lage sind zu Grinsen.
Wir versuchen die regionale Spezialität: etwas, das Andouillette heißt. (Die Schreibung wird noch korrigiert.) Es handelt sich dabei, um im Darm gegrillte Kutteln. Wer sowas noch nie probiert hat, dem rate ich auch nicht unbedingt dazu. Es riecht, als würde man ein Picknick im Rieselfeld veranstalten. Ich habe das schon mal gegessen. Damals hatte ich in dem Restaurant das beste Essen gewählt, was es gab. Alle anderen hingen mit ihrer Pizza weit hinterher. Aber heute, das war schon sehr rustikal. Einmal Schwein von innen. Nun. Ich vertrage ne Menge und habe es auch heute aufgegessen. Ich wollte ja was Regionales. Meine Schuld. Meine Herzdame hat es mutig ebenfalls versucht und ist daran gescheitert. Als Entschädigung hat Louis de Funes ihr dann zwei Desserts serviert. Eines davon war eine Creme Caramel von den Ausmaßen eins Stückchens Buttercremetorte. Danach war sie wieder glücklich.
Das Eau de Vie mit Birnengeschmack und zwei Stücken Käse versiegelten auch meinen Magen. So bleibt das Güllewürstchen hoffentlich heute Nacht drin.
Die belgische Reisegruppe amüsiert sich derweil mit schunkeligen Weisen und ist noch nicht fertig mit Feiern. Auch die einheimische Großfamilie, die den ümpfonipsisgten Hochzeitstag der Altvorderen im Restaurant feiern, sitzt noch samt fünfjährigem Enkel im Restaurant, während ich jetzt langsam, von Wein, Käse und Güllewurst gesättigt zur Seite kippe, und hoffe morgen den Weg bis in die Bretagne zu schaffen.
Abgesehen davon, dass ich die Echtheit dieser Glocke anzweifle, ist es wohl kein gutes Omen für ein Hotel ausgerechnet mit der Titanic zu werben.
Ankunft in der Bretagne
04. Juni 2016
Kurz nach acht kommt die junge Frau in den Raum, die am Abend zu vor die Rezeption besetzte. Sie sieht müde aus und schleppt sich durch die Reihen, um Kaffee an den Tisch zu bringen oder bereits abgegessenes Geschirr zu entsorgen. Der Inhalt der Kaffeekanne, den sie an unseren Tisch stellt, reicht genau für eineinhalb Tassen. Ich bekomme die Halbe. Mit viel Milch. Üppig ist die Frühstückstheke nicht. Deshalb dauert der Aufenthalt auch nicht mehr lange. Kurz nach neun Uhr starten wir in den Regen, der über der Picardie hängt, wie ein nasses Taschentuch.


Geräusche gibt es hier auch. Drosseln, Feldschwirl, Rotkehlchen und eine kleine Kolonie Zuchttauben auf dem Nachbargrundstück. Von Fern rauscht das Meer. Das ist für den Moment mehr als genug.
Ankunft in der Bretagne
04. Juni 2016
Kurz nach acht kommt die junge Frau in den Raum, die am Abend zu vor die Rezeption besetzte. Sie sieht müde aus und schleppt sich durch die Reihen, um Kaffee an den Tisch zu bringen oder bereits abgegessenes Geschirr zu entsorgen. Der Inhalt der Kaffeekanne, den sie an unseren Tisch stellt, reicht genau für eineinhalb Tassen. Ich bekomme die Halbe. Mit viel Milch. Üppig ist die Frühstückstheke nicht. Deshalb dauert der Aufenthalt auch nicht mehr lange. Kurz nach neun Uhr starten wir in den Regen, der über der Picardie hängt, wie ein nasses Taschentuch.


Geräusche gibt es hier auch. Drosseln, Feldschwirl, Rotkehlchen und eine kleine Kolonie Zuchttauben auf dem Nachbargrundstück. Von Fern rauscht das Meer. Das ist für den Moment mehr als genug.
Küstenwanderung
05. Juni 2016

Den Traktor braucht er später noch, wenn er, dann in Arbeitsklamotten auf den Meeresgrund fährt. Das Wasser hat sich wegen der Ebbe weit zurückgezogen und Muschelkörbe müssen neu ausgesetzt werden. Wir wandern den Küstenwanderweg entlang und können gegen Mittag, wenn die Ebbe das Wasser weit aufs Meer zurück gesaugt hat, die Schlickbauern bei der Arbeit beobachten.
Der Weg zieht sich die ganze Küste entlang. Es ist ein Teil des Europäischen Fernwanderweges, der irgendwo bei Moskau anfängt und in Brest endet. Soweit wollen wir heute nicht. Wir laufen an einem Knotenpunkt, der l’Enfer heißt - also “die Hölle” die Straße entlang Richtung Dorf.



Nach knapp fünf Stunden Wandern genießen wir den restlichen Tag im seligen Nichtstun.
Granitküste
06. Juni 2016
Ich hatte gestern Abend noch mit dem Rad die Strecke zur nächsten Gaststätte erkundet. Sind ein paar wenige Kilometer bis zum Ortskern von Plougrescant. Das geht hier in der Bretagne immer auf und ab, kleine Hügel mit freundlich bemerkbaren Steigungen und rasanten kurzen Abfahrten. Also alles, wie ich es gern habe. Gestern Abend ging das auch ganz gut mit dem auf und ab, aber irgendwie will es heute Morgen, beim zum Bäcker radeln nicht so rasant vorangehen. Wahrscheinlich liegt es am Wind, noch wahrscheinlicher an mir. Die Knochen steif, steige ich im Ortskern vom Rad und stöhne. Der Verkäuferin in der Boulangerie gegenüber geb ich mich etwas wortfaul, aber sie ist selbst auch nicht sehr gesprächig und außer Bonjour, Petit Pain und bon journée haben wir uns nicht viel zu sagen.
Die Rückfahrt geht schon deutlich besser, auch wenn die Autofahrer im Land der Tour de France von Radfahrern im Straßenverkehr nicht eben viel halten.
Der Tag beginnt neblig, vom Meer ziehen Schwaden des Nebels an Land, während das Wasser sich bereits deutlich zurückgezogen hat. Wenige Kilometer westlich, in Perros-Guirec, ist das Wetter freundlicher. Wir halten am Hafen und schauen uns um. Der Ort besitzt nur knapp 8000 Einwohner, aber im Jahr kommen etwa 80000 Gäste in die Hafenstadt. Das Wappentier ist der Papageientaucher. Der Hafen ist gut gefüllt mit zahlreichen Yachten und Segelschiffen. Aber es wirkt hier nicht so angeberisch pompös, wie in manchem Mittelmeerorten. Gegenüber des großen Yachthafens ist ein kleines Bassin. Hier liegen winzig kleine Elektrobötchen, die gerade Platz für eine Person bieten. Kaum größer als Tretboote, nur eben ohne Tret. Jedem der Boote ist per Flagge eine europäische Nation zugeordnet.
Ein englisches Schnellboot und ein Kreuzfahrtschiff ist zu erkennen. 4,50 kosten hier die kurze Bootsfahrt. Es steht am Verleihpavillon dran, das geöffnet sei. Es ist aber zu. Also nix mit Bötchen fahren.
Wir fahren weiter nach Ploumanac’h. Dieser Ort gilt als Eingangstor zur Cote de Granit Rose, dieser wunderschönen Küste mit den riesigen Granitkolossen, die im Meer baden. Angeblich soll Didi Hallervorden hier ein Haus besitzen. Schön, dass Euch das auch nicht interessiert. Interessanter ist da schon, dass auch der großartige Ingenieur Gustav Eiffel hier lebte.
Der Küstenwanderweg, der vier Kilometer lang an den Granittrollen vorbei führt, ist ein ehemaliger Zöllnerweg. Er wurde im frühen 19. Jahrhundert angelegt, um Schmuggler und Piraten unter Kontrolle zu halten. Erhalten hat sich der Weg bis heute und er gilt als einer der schönsten Abschnitte des langen Küstenwanderweges entlang der Bretagne. Wir kommen nicht so recht voran, weil alle paar Meter fotografiert werden muss und laut Ahs und Ohs ausgestoßen werden.
Man wird ganz kirre vor lauter Panorama. Diese vielen Felsen, die hier wahllos aufeinander getürmt übers Meer blicken, und häufig genug bis zur Taille im Wasser stehen, wenn es denn mal da ist, wirken so, als hätte man die Sächsische Schweiz zum Waschen ans Meer gebracht. Viele dieser Steine sehen aus wie Trolle, wenn man sich denn Trolle als gnatzige Grantitbrocken vorstellen möchte.
Auf manchen dieser Brocken wachsen Blumen. Das sind eindeutig weibliche Trolle. Die Jungs wirken etwas abweisender, cooler.
Den Weg bewandern wir nicht allein. Eine bunte Schar an Wanderern begegnen uns. Dazu gehört hier im Französischen radikales Angrüßen. Ständig wird hier gegrüßt und nur wenige, meist als Holländer identifizierbare Wanderer bekommen das nicht hin. Der Mund wird einem fusselig vor lauter Bonjour, ça va und Messieur Dame. Aber man will auch nicht als verstockter Tourist gelten und bonjourt fleißig zurück, auch wenn es sich im Laufe des Weges meinerseits eher auf ein freundliches Grunzen reduziert.
Am Ende des Weges, den wir uns vorgenommen haben, stehen wir vor einem Leuchtturm. Ein großer Steinturm, der an der höchsten Stelle der Küste thront. Gebaut aus gigantischen Steinen eines Ankersteinbaukastens. Ringsherum kreischen Möwen, der Nebel steigt wieder langsam auf, die Luft riecht nach Schlick und die Stimmung ist so richtig küstenhaft. Wir gucken aufs Meer und es ist immer noch weit weg.
Auf dem Rückweg schaue ich auf die weißen Waden eines Pärchens vor mir. Ich wundere mich über diese abnorme Farbe. Leichenblasse Beine bei beiden Wanderern. Dann höre ich sie reden. Ein langgezogenes Yorkscher Englisch. Hätte ich mir auch denken können, die natürliche Hautfarbe eines Briten wandelt bekanntlich nur zwischen Leichenblass und krebsrot. Das britische Farbspektrum gibt da nicht viel mehr her. Die beiden haben gerade erst angefangen mit dem Urlaub.
Der letzte Teil des Tagesausflugs bringt uns nach Tregastel, einem Seebad, das seinen besten Zeiten längst hinter sich hat. Die Strandhäuschen verfallen, die Gaststätten billige Bars, die Hotels zum Teil geschlossen und das Meer natürlich weg. Von einem Aussichtspunkt aus beobachten wir das wiederkehrende Wasser, das mit einer enormen Geschwindigkeit den Strand hinaufrollt. Wir bleiben hier nicht lange. Ein Sandwich vor einem Bäcker reicht als Erfrischung und wir rollen wieder zurück in unser Ferienhaus am Rande des Universums.
Île de Bréhat
07. Juni 2016
Kurz hinter Paimpol führt eine schmale Straße zu einer Ansammlung von Parkplätzen, auf denen sich Wohnwagen, PKWs und Reisebusse versammeln. Aus all den Fahrzeugen quellen Leute unterschiedlichen Alters heraus, um sich auf einem schmalen Pier, der die Hälfte des Tages unter Wasser steht, zu treffen und auf Fähren zu steigen, die sie auf die nahegelegene Attraktion, die Île de Bréhat zu verschiffen. Zehn Minuten dauert die Überfahrt bei Hochwasser. Bei Ebbe geht es schneller. Zehn Minuten Fahrt ist keine große Strecke und man sollte annehmen, bei dieser Distanz das Ziel bereits vom Ufer aus zu sehen.
Nicht so heute, wo sich die Sonne an Land befindet, die Küste aber unter einer Nebeldecke versteckt. Nichts ist zu sehen. Und genau da wollen wir hin.
Die Île de Bréhat wird auch als Blumeninsel bezeichnet. Besonders groß ist sie nicht, man kann die beiden Hauptinseln, die sich in Nord und Südinsel aufteilen, bequem zu Fuß durchstreifen oder sich ein Fahrrad mieten, das einen dann die ärgsten Hügel mittels Elektrodopings hinaufschiebt.
Wir entscheiden uns für den Fußmarsch. Die Südinsel ist dicht mit kleinen, ranzigen und großen, vornehmen Häusern bebaut. Hier wohnen etwa 500 Menschen das ganze Jahr über. Drei Kirchen habe ich gezählt, die wir alle drei aufsuchend. Die erste Kirche, St. Michel steht auf einem Berg. Sie ist verhältnismäßig klein, eher eine Kapelle, als eine Kirche. Im Innern herrscht schlechte Luft. Kerzen brennen und können gegen einen Obolus ständig erneuert werden. Gewidmet werden sie der Notre Dame, die ihre Hände schützend über die Seeleute und Fischer halten soll. Vor der Kirche sitzt ein etwas abgerissener Typ, der eine Staffelei auf seinem Hackenporsche aufgebaut hat. Damit fährt er ein Bild mit der Ansicht von der Kirche spazieren. Er hat ein Bier in der Hand. Sein Gesicht ist wettergegerbt und wirkt auf verrückte Weise clever. Als spiele er etwas den Beschränkten, könne aber mit den Augen nicht ganz überzeugen. Mit seinen zusammengekniffenen Augen, der breiten Nase und dem noch breiteren Froschmund schaut er mich listig an, brabbelt was und zieht seinen Wagen weiter. Erst kurze Zeit später dämmert es mir. Robin Williams ist gar nicht tot. Er verbringt sein Rentendasein als leicht beschränkt wirkender, malender Inselpenner auf der Île de Bréhat. Respekt
.
In der zweiten Kirche steht ein Altar aus Stein. Er wirkt abgewetzt und ich versuche nicht die blasphemische Vorstellung laut werden zu lassen, dass es sich dabei um einen rituellen Opferstein handelt. Am Ende des Kirchenschiffes verschwindet ein langes Tau in der Decke. Es führt vermutlich zur Glocke, die hier noch von Hand geläutet wird. Geweiht ist die Kirche damit wohl dem Heiligen BimBam. Die dritte Kirche wird vom Inselfriedhof umsäumt. Hier liegt, wer auf der Insel starb. Ich habe schon viele Friedhöfe in Frankreich besucht. Besonders die an den Küsten haben meiste eine wunderbare Lage. Mit Blick aufs Meer kann man auf diesen Friedhöfen ganz wunderbar tot sein. Der Friedhof auf der Île de Bréhat liegt hinter dem Platz, an dem die Touristen Kuchen und Fisch mit Schlips bestellen. Ich würde mir das als Friedhofsinsasse zweimal überlegen, ob ich da liegen will. Der Innenraum der Kirche ist schlicht, dunkel und katholisch. An fast jeder Ecke steht ein Schrank, in dem man auf die Schnelle ein paar Sünden beichten kann. Im Moment scheint aber kein Kirchenangestellter für solcher Art Beichtquickie zur Verfügung zu stehen. Ein paar Heilige stehen als Schnitzpuppen auf Säulen. Mein Lieblingsheiliger, Antonius, hat nur einen bescheidenen Platz in einer freien Ecke gefunden, wo er etwas verloren herumlungert. Ich spende ihm eine Kerze. Er hat’s verdient.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Schutzheilige es in der katholischen Kirche gibt und wofür die alle ihren Segen und ihren Schutz hergeben. Das Johannes der Täufer bei Alkoholismus helfen soll, sagt schon der Name. Manche nennen ihn auch Johannes der Säufer, aber das ist natürlich Blasphemie. Pfui. Dass man Blasius von Sebaste bei Blasenleiden anrufen soll, liegt auch irgendwie nahe. Aber wussten Sie, dass Jeanne D’Arc die Schutzheilige der Telegrafie und des Rundfunks ist? Die Frau ist 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, hat ca. fünfhundert Jahre für ihre Heiligsprechung anstehen müssen und wurde prompt eine Heilige, als der Rundfunk erfunden wurde. Wenn das kein Timing ist. Rita von Cascia ist die Heilige der Examensnöte. Auch gut, wenn man das vorher weiß. Für gedeihliches Wetter ist Viktoria von Córdoba verantwortlich und ganz aktuell, die in Chicago gestorbene Ordensschwester Franziska Xaviera Cabrini ist die Schutzheilige der Migranten. Vermutlich ist sie aber für den arabischen Raum nicht zuständig.
Neben den Kirchen besitzt die Île de Bréhat ein paar bemerkenswerte Leuchttürme und ein in der Hand des Militärs befindlichen Semaphorturm. Letzteres ist ein Nachrichtenturm, der früher mittels Lichtzeichen, aber auch mit Wimpeln Nachrichten weiterleitete. Heute rotiert ein Radar auf seinem Dach und die üblichen Netzwerkantennen strahlen weit über die Insel heraus.
Weiter im Norden sichten wir am Chaise de Renan einen wirklich hässlichen Turm. Eine Art Betonphallus, der eine Leiter im Kreuz hat. Wir lassen ihn links liegen und gehen an eine Bucht, in der normalerweise Wasser schwappt. Ein Felsen kreischt zur rechten, oder vielmehr die vielen Möwen, die dort nisten. Eines der interessantesten Bauwerke verfehlen wir leider. Im Westen der Südinsel soll es eine kleine Gezeitenmühle geben. Ein sehr spannendes Unterfangen bei der Energiegewinnung durch Wasser.
Was auf der Insel auffällt, ist, dass sich die Einwohner durch hohe Hecken vor den Blicken der neugierigen Touristen schützen. Und wenn sie auf die Straße gehen, erkennt man sie daran, dass sie weitaus deutlicher alle anderen Spaziergänger ignorieren, als französische Touristen. Aber bei der Vielzahl an Menschen, die hier jeden Tag auf die Insel gekippt werden, ist es durchaus verständlich, dass die Grundeinstellung der Einwohner deutlich erkennbar ist: “Schickt uns doch Euer Geld einfach mit der Post und bleibt trotzdem weg”. Die Insel lebt vom schnatternden Touristen. Da muss man das Volk wohl auch ertragen. Heute haben wir noch Glück und können beim Wandern über die Insel einige Strecken allein zurücklegen. Doch in der Hochsaison möchte ich hier auch nicht als Tourist hinkommen müssen.
Da wo wir mit dem Schiff angekommen sind, ist kein Wasser mehr. Wir müssen einen Kilometer weit eine neu angelegte Mole herunterlaufen, die bei Hochwasser fünf bis sechs Meter unter Wasser liegt. Bei Paimpol, ganz in der Nähe, liegt der Gezeitenhub etwa bei 12 Metern und zählt damit zu den höchsten in Europa. Wir laufen also über den Meeresboden zu einem schlickigen Anleger, an dem unsere Fähre liegt. Auf der anderen Seite müssen wir ebenfalls ewig einen Steinpfad folgen, bis wir da anlangen, wo wir vormittags eingestiegen sind. Ebbe und Flut sind schon sehr seltsame Phänomene.
Markttag in Treguier
08. Juni 2016

In Treguier ist heute Markttag. Markttage werden in Frankreich ziemlich ernst genommen, denn jeder Bauer, Fleischer, Käsemacher, Blumenverkäufer, Obsthändler und vor allem jeder Fischer, weiß, am Markttag kann man seine frische Ware relativ sicher auch verkaufen. Deshalb ist in beinahe jeder Gemeinde Frankreichs einmal in der Woche Markttag. Ab sieben Uhr morgens stehen die Händler bereit. Neben privaten Einkäufern sind vor allem Restaurants früh an Ort und Stelle, um für ihre Gastronomität Frisches einzukaufen.
Mitunter richtet sich die Speisekarte danach, was morgens frisch im Angebot ist. Der Markt in Treguier ist überschaubar. Am Hafen stehen vor allem die Lebensmittelhändler, aber auch Antiquitäten- und Schuhverkäufer. Weiter oben, an der Kathedrale werden auch Taschen, T-Shirts, Handtücher, bretonischer Handwerks-schnick-Schnack und Fußballschals verkauft. Es ist hier bei Weitem nicht so voll und überquellend, wie auf einem provenzalischen Markt, aber es reicht aus, um sich ein paar Melonen, ein paar Likörgläser und Wurst vom Stier andrehen zu lassen.
Vor einem Bäcker steht eine alte, kleine Frau im roten Anorak und mit roter Mütze. Sie hat einen Notenständer vor sich zu stehen und singt Chansons. Sie ist mindestens achtzig und ihre Stimme ist fistelig und schrill. Vermutlich singt sie den ganzen Markttag durch, also bis zum Mittag, wenn allmählich zusammengepackt wird. Zumindest ist sie die ganze Zeit aktiv, in der wir unterwegs sind und das sind schon knapp zwei Stunden. Vor ihren Füßen liegt ein Hut zum Geld reinwerfen, was ich brav tue, denn solch resolutes Auftreten sollte belohnt werden. An die zum Verkauf angebotene CD der Frau, die vom Cover mit ondulierter Frisur heraufgrinst und die ihren Namen verrät, den ich mir gar nicht erst gemerkt habe, wage ich mich allerdings nicht.
Der große Marktplatz wird von der noch größeren Kathedrale von Treguier überragt. Diese Kathedrale ist groß genug, um nicht aufs Foto zu passen. Dazu müsste man weiter weg gehen, als die Häuser drum herum stehen. Der Kirchturm besitzt eigenartige Löcher, die den Klang der Glocken eine bessere Akustik geben soll. Treguier ist keine große Stadt, aber eine historisch bedeutsame. Zahlreiche Bischöfe waren hier ansässig. All denen wurden in der Kathedrale mit Gemälden gedacht.
Wichtigster Teil der Kathedrale ist der Reliquienschrein. In diesem liegen die Gebeine und der Schädel des heiligen Yves. Und da muss ich wieder an die Schutzpatrone erinnern. Yves ist der Schutzpatron der Anwälte. Als wenn diese Blutsauger irgendwelchen Schutz nötig hätten. Wo kommen wir denn da hin, wenn sich jede Berufsgruppe, die Dreck am Stecken hat, mit Schutzheiligen amüsiert. Gab es den Schutzpatron der Henker, der ihn davor schützte, sich beim Köpfen, den eigenen Finger wegzuhacken? Hat die Mafia ihren eigenen Schutzheiligen? Wie heißt eigentlich der Schutzheilige der Diktatoren? Ich weiß es nicht, aber letztlich muss man sich ja an irgendwen wenden, wenn es im Leben gerade mal nicht richtig läuft. Putin hat sicher auch einen.
An der Eingangspforte ist mir der deutliche Hinweis aufgefallen, dass Hunde in der Kirche nicht erlaubt sind. Sind sie ja in Kirchen meistens nicht. Aber hier kann ich mir schon vorstellen, dass auf die Frage nach dem warum die Antwort lauten könnte: “Was meinen Sie wohl, wie lange wir gebraucht haben, die Oberschenkelknochen vom Heiligen Yves wiederzufinden, als der letzte Bischof seinen Rottweiler mit in die Kirche genommen hatte. Den ganzen Kräutergarten hinterm Kreuzgang mussten wir umpflügen. Ich hoffe bloß, wir haben die richtigen Knochen ausgebuddelt.” Oder so was Ähnliches.
Derweil der Markt beginnt sich aufzulösen, bleibe ich vor einem alten Haus stehen. Es muss ein Laden gewesen sein, denn große Schaufensterscheiben ohne Auslage spiegeln die Sonne. Hinter einem Fenster springt ein junger Rabe aufgeregt hin und her. Er scheint hier im alten verlassenen Laden ausgebrütet worden zu sein und guckt jetzt ebenso neugierig aus dem Laden, wie ich hinein. Ich halte mein Finger an die Scheibe und er hackt beherzt zu. Bevor er die Scheibe zerdrischt, lasse ich die Spielerei lieber bleiben.
Auf dem Weg zurück vom sonnigen Treguier zum Ende der bretonischen Landzunge, auf der wir wohnen, sehen wir ganz entfernt an der Küste Nebel. Der hat sich hier am äußersten Ende der Welt den ganzen Tag über nicht aufgelöst.
Erst als wir zu einer kleinen Radtour aufbrechen, knallt die Sonne unvermittelt durch die Wolken und beschert uns einen netten kleinen Sonnenbrand. Und dann sehen wir es wieder, das ganze Panorama der Küste. Unendlich weite Strände und ein weit entferntes Meer, das sich offensichtlich gerade woanders austobt.
Land- und Hundezunge
09. Juni 2016
Auf der Nachbarhalbinsel befindet sich eine landschaftliche Besonderheit: der Sillon de Talbert. Dabei handelt es sich um einen Strich in der Landschaft oder besser im Meer. Dieses Naturreservat ist eine kleine Erhöhung über Meeresniveau, das fast ausschließlich aus Steinen besteht. Es ist etwa neun Kilometer lang und kann bei Ebbe und Flut bewandert werden. Strandläufer nisten hier in den Steinen. Es gibt keinen fest markierten Wanderweg und man spaziert die ganze Strecke bis zu Ende der Welt auf rutschigem, steinigen Terrain. Bei Ebbe wird es zu einem Spaziergang auf dem Meeresboden.
Da wieder einmal der Küstennebel die Aussicht dämpft, ist das Ende der Landzunge nicht zu sehen. Ein paar unermüdliche Wanderer machen sich auf den Weg und verschwinden im Nebel.
Am Ausgang des Sillon de Talbert befindet sich ein Restaurant mit dem Namen Bigouden Blues. Das Bigoudenland, das sich eigentlich eher im südlichen Teil der Bretagne befindet, bezeichnet sich nach der traditionellen Baumwolltracht der Einwohner. Besonders hervorgehoben sind dabei die hochstehenden Hauben der Frauen, die aussehen, als verbergen die Frauen darunter ein Horn. Nach dieser Mode der Einhornfrauen hat sich auch das Restaurant am Ende der Welt benannt “Bigouden Blues”. Muscheln stehen auf dem Speisezettel und Austern und Kartoffeln. Gegen Mittag ist es gut gefüllt, da allerhand Einheimische hier anreisen.
Ein Teil des ausgedehnten Küstenwanderwegs zieht sich das Ufer entlang. Die Aussicht wird allmählich besser, der Nebel verschwindet und in einiger Entfernung ist eine Fähre erkennbar, die aus England kommt und den Hafen Roscoff ansteuert. Ein Containerschiff mache ich mit dem Fernglas auch noch aus und schließlich taucht ein Leuchtturm aus dem Nebel.
Wieder zurück in Plougrescant zeigt sich die Sonne von ihrer besten Seite und ich beschließe noch eine Runde mit dem Rad zu drehen. Eine Seitenstraße führt mich rasch auf Le Gouffre zu, dem berühmten Haus zwischen den Felsen. Dann fahre ich an einer enormen Bucht vorbei, die trocken liegt und in der einige Leute Steine umdrehen, um nach sich versteckenden Krabben zu suchen. Im Nachbarort erklimme ich einen Hügel, der hinter seinem Kulminationspunkt eine Abfahrt offeriert, bei der selbst ich vor Respekt schlottere. Knapp hundertfünfzig Meter geht es mit ca. 25 Prozent hinunter, um unvermittelt in einer uneinsehbaren Kurve wieder ein gutes Stück bei weitem nicht so steil aufwärts zu führen. Ich hoffe, ich muss hier entlang, nicht zurück.
An einem Tal, in dem ein Fluss in eine Bucht gemütlich hineinplätschert und die den Namen l’enfer (die Hölle) trägt, treffe ich auf eine Kreuzung. Ich will auf mein Radnavigationsgerät schauen, um zu sehen, wo ich hin muss, als mich das laute Kläffen dreier Hunde aufschreckt. Es kommt von einem Grundstück an der Straße, das keine Umzäunung besitzt. Die drei recht großen Hunde kommen zügig auf mich zu. Einer knurrt, einer hat die Zunge raushängen, als wolle er mich jeden Augenblick kosten. Da sich, wie ich bereits erwähnte, die Kreuzung im Tal befindet, gibt es nach drei Seiten nur ansteigende Straßen. Die Hunde kommen immer näher und ich beschließe die Orientierung zu verschieben und rase los in Richtung weg von den Hunden. Ich fahre ja mal ganz gern einen Berg hoch, suche mir normalerweise meine Geschwindigkeit aber selbst aus. Heute fahre ich sehr zügig, zügiger als es gut tut, aber die Hunde bleiben zurück. Hechelnd bleibe ich auf der Anhöhe stehen und schaue nun doch auf mein Navi. Logischerweise befindet sich die Richtung, in die ich muss, auf der anderen Talseite. Ich muss also nochmal runter und auf der anderen Seite der Hunde wieder hoch. Ich hoffe die Kläffer mit etwas Schwung hinter mich zu bringen und rase bergab. Am Hundegrundstück sehe ich die drei Viecher im Sand liegen. Einer blinzelt mir zu, als wollte, er sagen: “Na. Schiss gehabt?”. Sonst regen sie sich nicht. Ich schieße also in den Anstieg und schalte ein paar Gänge runter. Die Kette springt ab. Ich stehe an der Steigung und höre sofort wieder das Kläffen. So schnell hatte ich noch nie eine Kette wieder aufgelegt. An einer Steigung wieder in Tritt zu bekommen, gehört zu den anstrengendsten Dingen beim Radfahren, aber es geht mit Angst in der Hose schneller, als ohne. Das Kläffen verliert sich schon deshalb recht schnell, weil die Hunde offensichtlich nicht extra aufgestanden sind, um mich zu vertreiben. Den Rest der Strecke bis zum Haus fahre ich unter hohem Adrenalineinfluss. Wahrscheinlich ist das eine Art psychisches Doping.
Abends besuchen wir eine kleine Kneipe unterhalb der Kirche. Diese ist urgemütlich eingerichtet, besitzt als Tresen einen Schiffsrumpf und ist auch sonst eher maritim ausgestattet. Außer uns befindet sich noch eine gemischtsprachige junge Familie mit zwei Kindern im Laden. Sie sprechen Deutsch und Tschechisch. Die Kellnerin wird gnadenlos mit Englisch angesprochen. Kein Versuch von französisch wird unternommen. Nicht mal ein simples “Merci”. Find ich ja immer ein bisschen befremdlich, sich so überhaupt nicht zu bemühen.
Als Hauptgericht gibt es “Fish & Chips”. Vom Fass tropft Guinness. Trotz unserem Bemühen auf Französisch zu bestellen und auch sonst sämtliche Konversation mit der Wirtschaft auf Französisch zu führen, verabschiedet uns die Kellnerin mit “Goodbye”. Gemütlich ist die Kneipe ja, aber irgendwas stimmt an dem Laden grundsätzlich nicht.
Mont St. Michel
12. Juni 2016
Bretagne -
ne, Normandie.
Mont St. Michel
Die größte Kleckerburg der Welt - oder zumindest Europas - liegt an einer Bucht gleichen Namens. Also nicht an der Baie du Kleckerbourgh, sondern an der Baie du Mont St. Michel im Golf von St. Malo. Mont. St. Michel ist ein Monument der französischen Kultur und ein Glücksfall für die Fremdenverkehrsplanung. Jährlich besuchen die kleine Insel mit seiner genial konzipierten Kirche knapp 4 Millionen Besucher. Es ist das meistbesuchte französische Bauwerk nach dem Eifelturm.
Wir kommen an einem leicht verregneten Freitag außerhalb der Saison zum Mont St.Michel. Gefühlt sind es nur 2 Millionen Menschen, die heute hier anreisen. Ich will nicht wissen, was an einem sonnigen Sonntag Ende Juli hier los ist. Bei all dem Trubel, den man um diesen Flecken Erde so macht, könnte man mit den Schultern zucken und abgeklärt abwinken. “Völlig überbewertet”, denkt man noch bei der Anreise und dem Einordnen auf dem mehrere Kilometer entfernten riesigen, stark organisierten Parkplatz. Doch dann sieht man diesen bizarren Kegel am Horizont und staunt. Steht man erstmal unmittelbar davor, bleibt einem die Spucke weg. Besichtigt man die Kirche und all die Nebengelasse, verfällt man in Sprachlosigkeit.
Aber der Reihe nach.
Heute regnet es an der Küste. Muss ja auch mal sein und die Wiese vor unserem Haus benötigt dringend ein paar mehr Tropfen, als die eines verschütteten Glases Rosé.
Da wir uns trotzdem nicht im Haus einigeln wollen, begeben wir uns auf den recht langen Weg bis an die Grenze zur Normandie, um den weithin bekannten Felsen Mont St. Michel aufzusuchen. Dieses Monument gehörte zur Bretagne, bis der Grenzfluss Couestnon allmählich seinen Verlauf änderte und nun auf der anderen Seite der Insel im Meer mündet. Dadurch wanderte Mont St. Michel Departements bedingt in die Normandie, die damit nun auch eine Attraktion besitzt, die man besuchen kann. Nicht, dass die Normandie unattraktiv wäre, nein. Aber außer den Buchten, in denen die Allierten einritten und die normannische Küche mit den vier C’s - Cidre, Calvados, Camenbert und Cutteln - will mir nicht viel einfallen, was ich mit der Normandie in Zusammenhang bringen könnte. Da haben die Normannen mit dem Mont St. Michel ein echtes Pfund zum Wuchern bekommen.
Sobald wir der Küste näher kommen, erhebt sich diese bizarre Felsenkirche in der Ferne und es fällt einem wirklich kein anderer Vergkeich ein, als der mit einer Kleckerburg. Spitz steigt der Kegel in den normannischen Himmel, mit zahlreichen kleinen Verzierungen und festgebackenen Unregelmäßigkeiten an den Seiten. Doch bis wir uns dem Kegel nähern können, bleiben noch ein paar Kilometer. Vorher werden wir über ein ausgeklügeltes Wegeleitsystem auf einen Parkplatz geführte, für den die Begriffe riesig und ausgedehnt ein bisschen mickrig klingen. Dabei ist der Parkplatz heute nicht mal richtig voll. Über die Hälfte der verfügbaren Flächen liegt frei und man wird auch nur auf die Flächen geleitet, die man uns mittels Parkschranken zu Verfügung stellt. Mit knapp 12 € Parkgebühren verdient sich das Weltkulturerbe schon mal das erste ernstzunehmende Taschengeld. Als Gegenleistung bekommt man ein großes Informationsgebäude zum Betrachten, in dem die Region gewinnend mit Video- und Fotopräsentationen vorgestellt wird und man kostenlos aufs Klo gehen kann. Auch ein Shuttleservice mit Bussen, die vorn und hinten eine Fahrerkabine besitzen, damit sie nicht wenden müssen, ist unentgeltlich benutzbar. Wir ziehen die knapp eine dreiviertel Stunde dauernde Wanderung entlang des sich zurückziehenden Meeres auf einem schmalen, extra angelegten Gezeitendamm, der Fahrt in einem vollgedrängten Touristenbus vor. An den Straßenlaternen, die wir passieren, sind fünf Pappkameraden befestigt, die jeweils einen Radfahrer in einer bestimmten Trikotfarbe darstellen. Am 2. Juli wird hier der Grand Depart der diesjährigen Tour de France stattfinden und dann ist hier echt die Hölle los.
Am schmalen Gezeitendamm, den man erst vor wenigen Jahren fertiggestellt hat, wird der Fluss bei Flut gestaut. Bei Ebbe lässt man das Wasser mit gehörigem Druck wieder ab, so dass sich das mitgeführte Sediment ins Meer ergießt und nicht die Bucht verlandet. Die Stelzenbrücke, die über das Watt führt, verbindet die Insel mit dem Festland.
Bei Ebbe kann man auch über das trockengefallene Land hinüber wechseln, doch Treibsand ist hier wohl ein gefährlicher Gefährte, den man nur mit erfahrenen Wattführern umgehen sollte. Die Stelzenbrücke bleibt im allgemeinen trocken und die Insel ist ganz jährig betretbar. Nur bei Springflut steht das ganze Umland so tief unter Wasser, das der Mont.St.Michel dem Inselcharakter gerecht wird.
Je näher man dem Felsen kommt, um so gewaltiger ragt er in den Himmel. Auf der Spitze des Kirchturms thront der Heilige Michael. Erst zehn Tage, bevor wir hier ankommen, wurde die neu restaurierte Skulptur wieder auf die Spitze gesetzt. Pünktlich zum Tourbeginn, sollte hier alles perfekt sein.
So überwältigend der erste Eindruck ist, wenn man noch unterhalb der Cité steht, so nachhaltig verstörend ist der Eindruck, beim Eintritt in die kleine Gasse, die hier hier knapp fünfzig Inseleinwohnern als Heimat dient und einigen mehr als sicheren Broterwerb. Die alte Gasse wirkt wie ein komprimiertes Disneyland. Rechts und links drängen sich kleine Shops und Gaststätten auf, die mit überteuertem Fastfood und französischen Souvenirs Made in Taiwan in den vorbei strömenden Menschenmassen ihre Netze zum Fang auswerfen. Alles was mit der Region zusammenhängt steht als Plastikschnickschnack zum Verkauf. Alle Leuchtürme der Bretagne in handlicher Größe, Schneekugeln mit der plastischen Abbildung des Mont St. Michel in den Größen: Murmel, Tennisball oder olympischer Kugelstoßweitwurf sind zu haben. Zwischendrin die üblichen geschichtlich belegbaren Einwohner der Region, so wie sie im Kinderzimmer historisch korrekt nachgestellt werden können: also Ritter, Piraten und Dinosaurier. In einer dieser sinnfrei sortierten Räuberhöhlen baumelt ein ganzer Schwarm mopsgroßer Plüschbienen. Ein paar halbwüchsige Sonnebrillenträger haben nichts eiligeres zu tun, als auf diese zu zu stürmen, sie zu umarmen und laut und deutsch Karel Gott’s Zeichnentrickschlager von der Biene Maja zu intonieren. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, bin aber nicht überrascht.
Eine junge Fremdenführerin steigt mit erhobenen rotem Schnellhefter die Steigung bis zu einem versteckten Museumseingang hinauf. Ihr folgt ein japanisches Paar mittleren Alters. Zwei jüngere Asiatinnen stehen am Rand der Gasse, während ein weiterer Begleiter den Fotoapparat auf sie richtet. Ist Ihnen auch schon mal aufgefallen, dass das asiatische Fotografiergesicht an allen Plätzen der Welt gleich aussieht. Bei den Europäern mag das häufig auch der Fall sein, aber wenigstens wenn Kinder dabei sind, macht irgendwer auf dem Foto doch zumindest Faxen.
Wir türmen in eine Kapelle. Hier ist es vergleichsweise ruhig. Auf der Seite, auf der wir durch ein hohes Tor hineingegangen sind, kommen zwar immer wieder Leute herein, doch auf der anderen Seite steht ebenfalls eine kleine Tür offen. Also entweichen wir durch diese und stehen auf einen kleinen Friedhof, mit Blick auf die Bucht. Es ist erstaunlich ruhig hier, denn nur zwei weiteren Besuchern scheint dieser Ausweg aufgefallen zu sein. Ein Möwe steht auf einem nahen Dach und kreischt. Durch ein schmales Tor gelangen wir auf eine steile Treppe, die uns nun gnadenlos in den Himmel führt. Die einzelnen Stufen sind hoch,besitzen nicht gerade Showtreppenformat und erwarten vom Benutzer, dass er sich jedem einzelnen Schritt aufmerksam widmet. Oft genug bemerkt man schon da Stein, wo noch Fußspitze ist. Verwinkelt und schweißtreibend ist der Aufstieg, bis wir an der eigentlichen Eingangszone für die Kirchenanlage angelangen. Eine Kontrolle des mitgebrachten Gepäcks ist sehr oberflächlich. Meinen Rucksack muss ich zwar öffnen, aber mehr als einen Blick auf die herausquellende Regenjacke will der Kontrolleur nicht werfen. Der Eintritt kostet Neun Euro und ich will zunächst nicht glauben, dass man soviel Geld für den Besuch einer Kirche verlangt. Aber nun bin ich schon mal hier. Die Kathedrale von Exeter wollte glaube ich fast ebenso viel. Da die Kirche hier mit der Erhebung des Zehnten nicht mehr weit kommt, muss man halt an die Touristen ran. Und die wollen das ja nicht anders, sonst blieben sie ja weg.
Und dann begeben wir uns auf einen Rundgang, der anders wird, als erwartet. Was auf dieses kleine Inselknöllchen an monumentaler Sakralarchitektur aufgetürmt wurde, ist so erschlagend, dass man sich von Raum zu Raum, von Aussichtspunkt, zu Aussichtspunkt kleiner und kleiner fühlt. Die Klosteranlage ist in mehreren Stockwerken aufgebaut.
Nach zahlreichen Stufen genießen wir eine Aussicht über das ganze Gebiet von der Bucht bis zum Parkplatz, werden aber schnell verdrängt, weil eine Japanerin diesen Standort für sich als Fotomotiv beansprucht. Sie platziert sich mit dem typischen Gesichtsausdruck, der etwas an die gelangweilten Gesichter erinnert, mit denen man irgendwo ansteht, um eine Wartenummer zu ziehen vor die Aussicht und ihr Gatte beginnt mit leichtem Kniewippen Aufnahmen in einer Menge zu machen, die an das Fotoshooting von Filmstars bei einer Premiere erinnert. Die Frau indes verändert weder Haltung noch Mimik. Hinter dem Fotografen hat sich bereits ein Landsmann angestellt. Ich weiß, damit erfüllt der Japaner genau das Klischee, dass man von ihm erwartet und bedauerlicherweise, lässt sich das nicht auf ein Volk festmachen. Andererseits ist nur die Art und Weise bedauerlich und nicht die kulturelle Herkunft, denn letztlich benehmen wir Deutschen uns auch oft nicht anders und von Engländern kann man genauso viel Eigentümliches im Ausland berichten, wie von Spaniern und Holländern. Alle sind wir an der Stelle nur Touristen und damit eine kulturell identische Masse, die sich mal angenehm und mal weniger angenehm aufführt. Besucher, wie Besuchte profitieren gleichermaßen. Die einen durch das Gewinnen neuer Eindrücke, die andern durch das Bezahlen für diesen Erkenntnisgewinn. Das klingt irgendwie versöhnlicher, als der Vergleich, dass Tourismus nur eine legalere Form der Prostitution mit staatlich festgelegter Gewinnspanne wäre.
Wir betreten die Abteikirche. Hier findet gerade eine Messe statt. Lange Jahre bewohnten Benediktinermönche die Anlage. Heute haben sich Brüder und Schwestern des Ordens der Gemeinschaften von Jerusalem hier angesiedelt. In der hohen Säulenhalle echot die Stimme eine Priesters. Im vorderen Kirchenschiff sitzen Gottesdienstbesucher. Zur Stille wird mit Schildern gemahnt. Ein deutliches Zeichen steht auf einer Steele in der Mitte des Kirchganges. Es zeigt einen durchgestrichenen Fotoapparat. An diesem Schild lehnt der bereits bekannte japanische Mittourist und knipst unentwegt. Der Priester hält inne. Aber nicht, um das Fotografieren zu unterbinden, sondern weil es seine Liturgie vorschreibt. Dem Tourismus widmet er nicht mal eine hochgezogene Augenbraue. Das ist er gewohnt. Aus dem Seitenschiff tritt eine Gruppe Ordenschwestern hervor, die zu singen anheben. Die Ordensbrüder gesellen sich gesanglich dazu. Der sakrale Gesang in einem hohen Kirchenschiff besitzt einen Klang, der mich spontan zur innerlichen Lautlosigkeit verdammt. Er umhüllt mich, wie ein akustischer Mantel und ist in der Lage, mich für einen Moment gänzlich in Ruhe zu hüllen. Ich bin kein übertrieben religiöser Mensch, doch angesichts solch wunderbarer Töne, befällt mich schon mal ein Gefühl von Demut. Still lausche ich eine Weile, bevor mich die Geschäftigkeit ein- und ausgehender Besucher, das Geräusch von elektronisch erzeugten Fotoauslösegeräuschen auf Tablets wieder in den Modus des Touristen versetzt. Es gibt noch mehr zu sehen, denke ich und breche auf.
In der Tat schließt sich neben der Abteikirche ein weiterer Höhepunkt an. Der Klostergarten. Er befindet sich auf dem Dach eines darunter liegenden großen Saales, besitzt einen inneren, gut bewachsenen Hof und einen Kreuzgang von schlichter Eleganz. Die Säulengalerie ist zweireihig gebaut. Diese filigranen Säulen stehen versetzt, was die Perspektiven beim Durchschauen an jeder Stelle anders gestaltet. Nur selten decken sich die Bögen in der Perspektive. Durch das Refektorium, in dem einst die Mönche ihr Büfett plünderten, geht es weiter treppab in den Gästesaal. Danach gelangt man in eine dunkle Krypta, in der dicke Pfeiler wie Elefantenfüße stehen. Sie wurden im 15. Jahrhundert gebaut, um die darüber befindliche Abteikirche abzustützen. Ein Raum weiter betrachte ich ein riesiges Rad, an dem über eine mit einem dicken Tampen verbundene Kette an der Außenmauer nach unten verschwindet. Mit dieser imposanten Konstruktion hat man dereinst schweres Baumaterial hinaufgewuchtet. Als man vor wenigen Tagen den goldenen Michael auf die Turmspitze hievte, benutzte man einen Hubschrauber und paar geübte Industriekletterer.
Hinter der sogenannten Almosenkammer endet der Rundgang im für solche Sehenwürdigkeiten typischen Devotionalienverkaufsraum. Hier gibt’s alles, was den Besuch eines Museums abrundet. Bedruckte Tassen, dicke Bildbände, teures Ohrgehänge mit Michaelsbezug und Ritterschwerter aus Plaste. Schnell sind wir draußen und versuchen uns an einem jungen Pärchen vorbeizumogeln. Der männliche Teil trägt einen schlabbrigen Traininganzug der Firma Puma. Graue Hose, graue Jacke. Ich find es ja generell gut, wenn junge Leute wieder Anzug tragen. Weitere modische Höhepunkte sind bedruckte T-Shirts in allen Sprachen der Welt, die um Aufmerksamkeit buhlen und die allesamt von der selben langweiligen Einfallslosigkeit zeugen, die T-Shirtproduzenten - industriell, wie privat - überall auf der Welt so eigen ist. Ob T-Shirtdruck oder Tätowierung, die versuchte Individualisierung verliert sich in der Masse in Uniformität.
Zurück durch die Disneylandgasse, sind wir so zügig, wie es dank der sich anbiedernden Geschäfte und Fressbuden und der sich davor stauenden Besuchergruppen möglich ist. Am Fuße des Mont St. Michel sind wir einigermaßen erschlagen und fertig, ob der Eindrücke, Wegstrecken und Höhenmetern. Den Rückweg zum Auto gönnen wir uns unserem Status als Tourist gerecht werdend - mit dem Shuttlebus.
St. Malo
13. Juni 2016
Das alte Piratennest
Wer in den ganz späten Sechzigern und frühen Siebzigern aufgewachsen ist und hin und wieder von einem Fernseher erzogen wurde, wird sich vielleicht an die französische Fernsehserie “Die Männer von St.Malo” erinnern. Da ging es vorrangig um zwei Freunde, die zur See fuhren und mit einem Kaperbrief der französischen Regierung ausgestattet, die Blockade der englischen Marine durchbrechen, immer wieder unter zum Teil hanebüchener dramaturgischer Sprungfederakrobatik Schiffe aufbringen und als Helden in den Hafen der Stadt zurückkehren. Die Geschichten der beiden Freibeuter basieren auf den Erlebnissen des französischen Seefahrers Robert Surcouf, der um 1800 in St. Malo lebte und von Napoleon mit eben jenem Kaperbrief auf große Fahrt ging. Dabei gelang es ihm tatsächlich der englischen Kriegsmarine im Indischen Ozean ordentlich die Vorherrschaft schwer zu machen. Dem erfolgreichen Seekrieger hat St.Malo auf der Stadtmauer ein Denkmal gewidmet, das ihn seewärts zeigend im stets kräftig wehenden Wind stehen lässt.
St.Malo ist ein heute eine große Hafenstadt, deren eigentliche Stadtbezirke so attraktiv sind, wie in den meisten Städten. Wohnviertel reihen sich an Geschäftsviertel, Industrie und Kommerz wechseln sich ab, wenn man von den Außenbezirken Richtung Cité fährt. Erst in der Nähe des Hafens wird es etwas interessanter und von einem der großen Parkplätze aus, kann man schon deutlich das alte Piratennest in seiner dicken Stadtmauer erkennen.
St.Malo gehörte zu den Städten, die im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten hat. Der deutsche Kommandant der Festung weigerte sich nach der Landung der Alliierten, zu kapitulieren. Die Stadt wurde im Verlauf der Belagerung und folgenden Gefechte stark zerstört. In den folgenden Jahren entschied man sich zu einer weitgehend originalgetreuen Wiederherstellung der Altstadt. Heute kann man sich in den Gemäuern gut das Leben im frühen 19.Jahrhundert vorstellen, sofern man sich die Ramschläden wegdenkt, die auch hier an vielen Ecken auf den Touristen lauern.
Vorbei am Denkmal von Jaques Cartier, der als Entdecker Kanadas und damit als Urvater von Quebec gilt und Boule spielenden alten Männer, durchqueren wir das Port de Dinan, eines von mehreren Eingangstoren in das Innere der Stadtmauern. Die Straße führt etwas aufwärts und ist gut gefüllt mit Besuchern und Einheimischen, aber lange nicht so überfüllt, wie die Gassen auf dem Mont St.Michel. Die Häuser sind aus dicken Granitsteinen gemauert und machen einen wuchtigen und extrem stabilen Eindruck. Die Sonne hat es schwer, die Straßen und Gassen zu erhitzen. Eine angenehme Kühle geht von den Fassaden aus. Ein schwer tätowierter Mann mit langen fettigen Haaren und nur halben Gebiss kommt an uns vorbeigehumpelt. Er stützt sich auf Krankenkassenkrücken. Vermutlich ein Pirat nach einem Betriebsunfall, der jetzt seinen Rehabilitationsspaziergang genießt.
Wir biegen in eine Passage ein und sehen in einem Schaufenster die wohl größte Kuchentheke, die wir uns vorstellen können. Dabei geht es nicht um die Menge der verschiedenen Spezialitäten, sondern tatsächlich um die Größe der einzelnen Torten. Manche Torten sind bis zu zwanzig, eine sogar knapp dreißig Zentimeter hoch. Dabei handelt es sich um Sahnetorten aller Art. Mir fällt spontan die Schwarzwälder Kirschtorte auf, hier als Foret Noir beschrieben. Da mein letztes Essen das Frühstück vor einigen Stunden war, beschließen wir, hier einen kleinen Mundvoll zu uns zu nehmen und bestellen jeder ein Stück Foret Noir. Es wird das größte Stück Kuchen, dass ich je gesehen und gegessen habe. Serviert wird es auf einem Teller, der Zuhause eher als Bratenplatte genutzt wird. In einer Kirschsoße schwimmen lebendige Kirschen, mit denen ein Kompott gut ausgestattet wäre. Die Kellnerin sagt “Bon Courage” und freut sich. Zwei Frauen, die ich spontan nach Laos oder Kambodscha verorten würde, reißen ihre Mandelaugen erschrocken auf, als sie uns vor dem Cholesterinattentat sehen und stoßen beim Weiterlaufen beinahe mit einer Horde Schüler zusammen, die auf Klassenfahrt ist und unser Teller mit einem satten “Boa” honorieren. Auf der anderen Seite befindet sich ein Fischrestaurant, vor dem ein Dreiergespann aus Gästen ebenfalls entgeistert auf unsere Teller guckt und mit dem Kopf schüttelt. Fünf Minuten später erscheint deren Nachmittagsration: ein dreiteiliger Turm aus mit Meersesfrüchten gefüllten Platten, deren unterste den Umfang eines Buslenkrades, die nächste, den einer Radkappe und die oberste immerhin noch den einer Frisbeescheibe besitzt. Die Platten quellen über von Austern, Muscheln und allerhand Meeresfrüchten. Wir schauen entgeistert hinüber und schütteln mit dem Kopf. Erstaunlicherweise sind wir nach dem Kuchen satt, aber weder träge noch überfüllt. Auch die vorbei defilierende Taube hat nichts abbekommen und watschelt enttäuscht weiter, als wir uns erheben.
St.Malo wimmelt vor Gaststätten, die einen ganz guten Eindruck machen, aber wir haben für den Moment genug. Wir biegen aus einer Seitenasse auf eine Straße und ich stehe unvermittelt vor einem Cafétisch, an dem ein Mann sitzt, der sich gerade sein Portemonnaie in die Jackentasche steckt. Ich bleibe wie bei einer Vollbremsung stehen und erlebe einen dieser Momente, die zu schön sind, um sie sich auszudenken. Mit leicht dümmlichen Grinsen bemerke ich nicht ganz leise: “Und hier sitzt Paul Theroux”.
Paul Theroux ist der mit Abstand genialste Reiseautor der Gegenwart. Seit Jahren verfolge ich seine Reisetagebücher, seine Beschreibungen exotischer Fluchten und Ausflüge in die Welt des Alltags seiner Nachbarn. Bücher, wie “Der alte Patagonienexpress” in dem er die Anden per Zug bereist, seine Reise einmal rund ums gesamte Mittelmeer und seine Faltboottouren in Ozeanien, sind Lesestoffe, die auch im Laufe der Jahre nicht langweilig werden. Zudem ist er ein brillanter Romancier, der mit “Moskito Coast” und “Hotel Honolulu” hervorragende Darstellungen von menschlichen Verhaltensweisen in Grenzsituationen schilderte. Sein Stil besitzt einen Witz, der hintergründig ist und nie ins Alberne umkippt. Manchmal ist er grantelig und schroff, aber stets sehr detailliert in der Beobachtung. Kurz, als Autor zählt er zu meinen absoluten Helden, weshalb ich mit der aktuellen Situation kurz überfordert bin. Ich starre ihn an. Die neben dem Autor sitzende Dame, die ich mal spontan als seine Frau bezeichnen möchte, funkelt mich mit dem erschrockenem Abwehrblick eines “Oh, nein. Bitte jetzt kein Fangespräch” an. Mr. Theroux indes schaut mich genauso an, wie ich es von Fotos auf den Klappentexten seiner Bücher her kenne, leicht genervt. Dann tut er das, was er auf Fotos auch am besten kann: er schaut stoisch auf den Betrachter und lächelt … nicht. Ich weiß, was ich jemanden schuldig bin, der mitten in St.Malo sitzt und eigentlich nur einen Kaffee trinken will: Ruhe. Er ist schließlich kein Popstar und ich kein kreischender Teenie. Ich nicke ihm leicht zu und verschwinde mit einem seligen Lächeln, als wäre ich gerade gesegnet worden.
Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt habe, klettern wir die steilen Stufen der Stadtmauer hinauf und beginnen die Cité zu umrunden. Die Altstadt wird von drei Seiten von Wasser eingeschlossen. Zumindest bei Flut. Vorgelagert ist eine alte Festung, die man bei Ebbe zu Fuß aufsuchen kann.
Interessant ist ein Gezeitenschwimmbad unterhalb der Mauer. Es handelt sich dabei um ein gleichermaßen einfaches, wie schlaues Konzept. Ein klassisches Badebecken wurde am Strand ausgehoben und befestigt. Eine Betonmauer umschließt es. Mittig der äußeren Befestigung steht ein Sprungturm, der eine Drei- und eine Fünfmeterplattform besitzt, von der auch fleißig gehoppst und geschubbst wird. Bei Flut wird das Becken neu mit Meerwasser gefüllt und verschwindet beinahe vollständig in der steigenden See. Nur der Sprungturm schaut dann noch aus dem Wasser.
Hier in der Bucht von St.Malo kann man eine Tidenhub von fast zwölf Metern messen. Unterhalb der Stadtmauer sitzen Sonnenhungrige und Badewasserverweigerer auf dem trockenen Strand.
Die Stadtmauer wäre nicht authentisch, würden nicht ein paar Kanonen seewärts drohen. Auf der anderen Seite der Bucht, in Reichweite der Kanonen ankert ein Kreuzfahrtschiff. Hinter einer Hecke pausiert ein Piratendarsteller und raucht. Sein Job ist es, vorbeikichernde Teenager zu erschrecken.
Vor dem Grand Port tobt sich ein Rummelplatz aus. Im daneben befindlichen Hafenbecken schaukelt ein historischer Dreimaster. Selbst auf der Stadtmauer weht einem der Duft nach Crepes und Galettes an.
Nach einer kompletten Umrundung der Stadtmauer und einem abschließenden Besuch an der Statue von Robert Surcouf begeben wir uns wieder nach unten, durchqueren noch einmal die Altstadt, deren Publikum sich zum Abend hin allmählich verändert. Die Touristengruppen versammeln sich und ziehen Richtung Bus. Die Abendbummler spazieren langsam zu den Toren hinein und grüßen in die Restaurants hinein. Bekannte treffen sich auf der Straße mit lautem Hallo und Bussi rechts und Bussi links. Ramschläden schließen, Bars öffnen. Mancher sitzt ermattet vom Tag im Ladeneingang. Wir ziehen uns langsam zurück.
Unser Häuschen mit Blick aufs Meer ist noch 90 Minuten Autofahrt entfernt. Leider hält uns unterwegs ein Stau vor St.Brieuc auf und verlängert die Aussicht auf unsere schöne Aussicht, die wir dann erst in der hereinziehenden Dunkelheit erreichen.
Versöhnt werden wir durch ein überraschendes Leuchten im nahen Feld. Wie kleine LED-Lämpchen glimmen Glühwürmchen im Dämmerlicht des späten Abends.
Fest Noz in Tregastell
14. Juni 2016
So abgerissen und versinkend sich Tregastell an einem vernebelten Tag auch zeigt, bei Sonne ist das alles gar nicht mehr so schrecklich. Das Aquarium, das in ein paar der Felsenungetüme in Strandnähe eingefasst ist, hat zwar wenige Minuten vor unserer Ankunft die Türen geschlossen, aber am Strand herrscht buntes Treiben. Die Sonne blitzt in den Wellen der aufkommenden Flut und die Boote, die eben noch auf dem Schlick saßen, beginnen wieder leicht zu tanzen.
Es herrscht fast eine Lichtstimmung, wie am Mittelmeer. Ein paar Mutige versuchen sogar Baden zu gehen.
Das Forum de Tregastell am Strand beherbergt eine gut besuchte Bar, in denen verschiedene Cocktails in verschiedensprachige Münder fließen. Neben der Bar kann man durch beschlagenen Scheiben in ein Schwimmbad schauen. Den Strand säumen Felsen mit den erstaunlichsten Formen. Einer sieht wie eine Echse aus, ein anderer wie der Adler aus der Muppetshow, ein dritter wie ein überdimensionaler Computerbildschirm. Er erinnert mich vage an die Form von Deep Thought, dem Supercomputer aus “Per Anhalter durch die Galaxis”.
Aber letztlich sind wir heute nicht hierhergekommen, um Steinchen zu sammeln.
In einem kleineren Ortsteil von Tregastell findet heute Abend ein Fest Noz statt.
Ein Fest Noz ist eine Art Dorfschubbs mit traditionellem Charakter. Hier trifft sich die Ortsgemeinde zum gemeinsamen Feiern und Tanzen. Im Mittelpunkt steht dabei die Musik, die vor allem mittels traditionellen Instrumenten, wie Krummhörnchen, Dudelsack, Akkordeon und Geige vorgetragen wird. Der klassische Wechselgesang kommt dabei auch zum Tragen, aber auch Gitarren und Schlagzeug finden vereinzelt den Weg in die abendliche Tanzveranstaltung. Bewegt wird sich fast ausschließlich in Kreistänzen. Die Schrittfolge wirkt zunächst sehr einfach, doch durch kleinere Rhythmuswechsel steht der ungeübte Tänzer schnell auf dem Fuß des Nachbarn.
Wir erscheinen auf dem Festgelände, einem Kirchhof eines Presbyterianerklosters, bereits recht zeitig. Es ist noch die Zeit des Kinderfestes und entsprechend wild wird auf der Tanzfläche getobt. Am Eingang bekommen wir Gutscheine für ein paar Getränke und der obligatorischen Nahrung der Bretagne: Galette und Crepes. Crepes werden meist süß angeboten. Dieser Eierkuchen kann mit Marmelade, Zucker oder Schokolade bestrichen werden und gehört in jeden Imbiss der Region. Galettes sind dagegen Buchweizenpfannkuchen, die man eher deftiger bestückt. Hier kommt schon mal Gemüse hinein oder auch etwas Wurst. Ich bekomme ein Galette mit Wurst, was letztlich auf eine Bratwurst im Buchweizenfladen eingewickelt herausläuft. Aber es schmeckt ganz angenehm und ich habe Hunger. Später gibt es noch eine Schokoladen-Crepe bei dem mir doch glatt die Plastegabel abbricht.
Auf der Wiese liegt eine ca. zehn mal zwanzig Meter große, aus Holztafeln zusammengestellte Tanzfläche, die ganz simpel auf langen Latten aufgelegt wurden. Darauf wuselt alles, was nicht größer als 1,20 Meter groß ist durcheinander. Es wird gehüpft, gekreischt, gerannt, hingeworfen und wieder aufgestanden. Die Alterszusammenstellungen sind dabei völlig wahllos. Kleinstkinder, die nur von ihrer Windel auf den Beinen gehalten werden, hopsen dabei genauso unkontrolliert herum, wie die Jungs im besten Erfinderalter oder Mädchen, die sich für solche Sachen eigentlich schon zu erwachsen fühlen. Eltern sieht man auf der Fläche nicht. Manche stehen am Rand und unterhalten sich, andere trinken einen Kir irgendwo im Schatten. Keiner macht sich Sorgen um seine Kleinen, niemand kommt mahnend auf die Fläche um Dinge zu sagen, wie “Kevin, lass die Wikipedia in Ruhe” oder wie immer die französische Entsprechung des selben Satzes vom Kollwitzplatz ist. Hier wird noch herumgetollt - wenn man diesen schönen alten Begriff mal wieder zum Einsatz bringen will.
Auf der kleinen Bühne stimmt sich inzwischen eine Kapelle ein. Der Geiger fiddelt seine Saiten blutig, der Sänger hält sich das rechte Ohr zu und brummt und das Akkordeon holt auch schon mal Luft. Kaum sind sie mit der Soundcheck durch, stolpert der Geiger über ein Kabel. Es knallt und die Anlage scheint sich dank eines Kurzschlusses erstmal außer Gefecht gesetzt zu haben. Doch nach ein paar Minuten ist alles wieder im Lot. Am Biertisch hinter mir sitzt ein Brite, der sich hier mit seinen französischen Freunden getroffen hat. Er gestikuliert heftig in meinen Rücken hinein, sagt aber alle dreißig Sekunden “Pardon”. Ich lasse ihn machen. Irgendwann steht er auf und holt ein Bier. Er stellt es vor mir ab. Ich bedanke mich, er guckt sinnierend, stellt fest, dass er sich im Tisch geirrt hat und nimmt es mir wieder weg. Es ist für seinen Freund bestimmt. Er hatte nur den Tisch verwechselt, da wir beide den selben Friseur haben müssen. Ich streiche mir verhalten über den kahlen Schädel.
Ich gehe also selbst noch mal an den Getränkeausschank und stelle mich brav an. Zwei Meter neben mir steht ein großer, sehr stark aussehender Mann mit Vollbart, Glatze und verspiegelter Sonnenbrille. Er trinkt eine Cola und redet lautstark mit einem der Organisatoren. Erster Eindruck – Motorradheld. Später sehe ich ihn auf der Bühne, wie er auf einer Gitarre den Dudelsackspieler begleitet.
Auf der anderen Seite der Tanzfläche steht ein schlanker Mann mit kantigem Gesicht und langen grauen Haaren. Er scheint ganz versessen auf den Tanzabend zu sein. Kaum beginnt die Kapelle mit dem ersten bretonischen Volkslied bewegt er sich mit seitlichen Schritten auf der Fläche, zieht an seinem rechten Arm eine Frau mit, die wiederum eine weitere Person mit sich nimmt. Und so beginnt eine Schlange, die wie eine Seitwärtspolonaise wirkt und nach wenigen Takten einen perfekten Kreis bildet. Über den Abend wird der Antänzer den Tanzbereich nicht verlassen. Die Fläche wird von Lied zu Lied voller und mitten in diesen Kreistänzen hopsen immer noch die Kinder herum. Die Tänzer gehen durch alle Generationen und Klassen. Junge Folkfreunde, die man an ihren schlonzigen Kleidern und langen zu Würmern geformten Haaren erkennt, finden sich im Kreis ebenso ein, wie die schicke ältere Dame mit adrettem Rock und Hackenschuhen.
Der örtliche Bestattergehilfe tanzt neben dem Feuerwehrhauptmann, die Pastorin, neben der Betreiberin des örtlichen Yogastudios. Teenager tanzt mit Oma, ein junges Paar Jungs, Segellehrer und pensionierter Fleischmeister, der Ortscasanova und die Leiterin der Bibliothek, alle finden sich in trauter Eintracht zum gemeinsamen Ringelpiez mit Anfassen. (Die Berufsgruppen müssen nicht stimmen, aber man macht sich beim Betrachten ja so seine Gedanken) Und kommen Gäste aus dem Königreich Weit-Weit-Weg sind sie herzlich eingeladen mit zu tun. Es ist nichts Schlechtes daran, ein paar der regionalen Traditionen zu pflegen und zu bewahren. In den ländlichen Regionen Frankreichs habe ich oft bemerkt, dass da viel unternommen wird. Ich weiß, dass das in Schweden und Finnland ähnlich große Bedeutung besitzt, auch in Italien, Spanien und Griechenland und in Polen. In Deutschland gibt es damit Schwierigkeiten. Volksmusik ist von kommerzieller Verantwortungslosigkeit durchzogen und ist heute eher eine Unkultur, die von geldgeilen, aber ansonsten völlig talentfreien Produzentenclans beherrscht und zerstört wird. Ergebnis: wer von den Herangewachsenen kann und will denn heute noch aus dem Hut Lieder, wie “Am Brunnen vor dem Tore” singen? Hier in Frankreich gehen die jungen Leute zum traditionellen Dorfschubbs mit regionaler Musik. Da hoppeln sie ein bisschen mit den Älteren herum. Und gegen halb zwölf ziehen sie dann weiter in die Clubs und Discos der Region. Schließt sich also beides nicht grundsätzlich aus.
Die Menge der Tanzenden rutscht weiter Schritt für Schritt über die Holzplanken. Keine zwei Meter vor mir, scheint die Unterkonstruktion marode zu sein. Die Tänzer drücken mit ihrem Gewicht eine der Tafeln verdächtig nach unten. Die Nachbarplatte steht dadurch hoch und bildet einen Absatz. Einige tanzen barfuß. Hoffentlich bricht die untergelegte Latte nicht durch, denke ich, sonst versinken wenigstens zwei Tänzer fünf Zentimeter im Gras des Klosterhofes. Und dann hätten wir den Salat. Die Veranstaltung würde abgebrochen und jemand würde laut rufen: “Wir brauchen dringend einen Bühnentechniker! Schnell! Ist ein Bühnentechniker unter den Anwesenden?” Naja, Sie wissen ja, wie das ist. Aber das Holz hält stand, solange wir dabei sind.
Als wir spät am Abend das Fest verlassen, kommen immer noch neue Gäste an. Der Klostergarten ist jetzt so voll, wie die Berliner Biermeile am Samstagabend. Wir überlassen das Feld den Einheimischen und machen uns auf den Weg zu unseren Glühwürmchen im Garten. Da es zwischendurch etwas geregnet hat, leuchten sie heute nicht. Vermutlich wurden sie gelöscht.
Halbinselalltag in Plougrescant
15. Juni 2016
Wenn ich morgens zum Bäcker in das sogenannte Centre Ville des kleinen Ortes fahre, guckt die Verkäuferin mittlerweile nicht mehr ganz so abweisend, wie am ersten Tag. Es ist genaugenommen auch kein Bäcker, sondern ein kleiner Hier-gibts-alles-Laden. Waschmittel, Kaminanzünder, frischen Joghurt, meterlange Baguettes, Frühstücksbier, also alles, was man morgens auf dem Fahrrad so die paar Kilometer zwischen Unterkunft und Marktplatz so mit schleppen will. Die Backwaren werden vor Ort frisch gebacken. Aus dem Hinterstübchen kommt regelmäßig ein abgekämpftes Grauhaar, das frisches Brot nach vorn in den Verkaufsraum schleppt. Der Bäcker fängt hier morgens um drei an, zu kneten und zu backen. Etwas, was in Berlin immer seltener zu finden ist, seit die Backwarenketten ihre Schnellen Brüter in den Läden zu stehen haben.
Die ältere Verkäuferin akzeptiert mein holperiges Französisch inzwischen und macht hin und wieder auch schon mal einen Scherz auf meine Kosten, den ich nicht verstehe. Jedenfalls lächelt sie, sagt was und die hinter mir Stehenden lächeln ebenfalls. Heute parkt eine etwa achtzigjährige Omi vor mir. Sie sackt ihre Brötchen ein und plaudert mit der Verkäuferin. Das Geld ist längst eingesteckt, sie ist gefühlt seit einer Stunde auf dem Weg nach draußen und hat sich auch schon drei Mal verabschiedet, da dreht sie sich noch einmal um und beugt sich weit über den Verkaufstisch zur Verkäuferin. Sie beginnt zu tuscheln. Die Verkäuferin verzieht das Gesicht zu einem besorgten Faltenknäul. Ich bemerke sofort, dass es sich hierbei um ein “Oh mein Gott, nein wirklich”- Gespräch handelt. Die Omi drückt sich noch weiter hinüber und tuschelt noch leiser. Ich weiß nicht, was sie geheim halten will, aber mein Französisch reicht für Dorftratsch nicht aus, und das, was die beiden Klatschbasen da austauschen, tun sie dem Klang nach im kantigsten Bretonisch. Irgendwann entschließt sie sich dann doch langsam aus dem Laden zu schlurfen und ich kann meine Bestellung aufgeben.
Neben dem Laden befindet sich der Marktplatz. Über die Woche ein Parkplatz vor der örtlichen Post, die ich nie offen erlebe, dem Tourismusbüro und der Mairie - also der Gemeindeverwaltung. Das ganze ist relativ dicht an der Kirche gelegen. Der wöchentliche Markttag in Plougrescant fällt hier auf den Sonntagvormittag. Ich weiß nicht, was der Pastor des Ortes dazu sagt, wenn man lieber vor dem Tempel handelt, als ihn besucht. Drei Kirchen habe ich in dem Ort gezählt. Eine kleine evangelische, eine als Museum umgestaltete Dorfkirche und eine riesengroße katholische Kirche, die auf einer Anhöhe steht und ein Wahrzeichen ist, das von der Ferne so gut zu sehen ist, wie ein Leuchtturm. (Sofern nicht Nebel herrscht.) Gaststätten besitzt der Ort nur eine mehr. Ähnlich wie in Treguier haben sich hier die kleinen Bars, Creperien und Kneipen darauf geeinigt, ihre Schließtage weitgehend gemeinsam zu feiern. Lediglich die maritime Kneipe neben der Kirche nutzt ein bisschen die Situation aus und öffnet auch schon mal, wenn alle anderen Läden dicht haben. Das Angebot in dem Laden ist nicht wechselhaft. Bretonischens Bier, Landwein, Breiz-Cola - also Cola aus der Region. Ansonsten Fisch und Chips, Cheeseburger, Muscheln mit Fritten und etwas, das in Deutschland als Häckerle durchgeht. Alles durchaus essbar, aber nicht die Haute Cuisine. Dazu gibt es lauten Blues oder Discomusik aus den Siebzigern. Die Besucher sind meistens Fischer und Landarbeiter auf dem Weg nach Hause. Da gibt es noch mal ein schnelles Bier und dann Salue. Gelegentlich verirren sich hungernde Touristen hierher oder auch mal Fußballgucker aus der Region. Public Viewing ist in Frankreich nicht so verbreitet. Lediglich wenn die eigene Mannschaft spielt, holt man schon mal den Beamer raus.
Ein Stück die Straße hoch, kommt man an die Kirche des Ortes, die als historisches Monument für Pilgerer und Besucher offen steht. Die Kirche besitzt einen schiefen Turm. Als man den vor etlichen Jahrhunderten auf das Dach setzte, stellte man schnell fest, dass er zu schwer war. Er kippte leicht. Man stabilisierte ihn, er kippte weiter. Man versuchte noch ein bisschen zu tricksen, da rutschte der Unterbau in die andere Richtung und alles schien sich einzupendeln. Als man die Idee hatte, den Turm jetzt geradezurücken, protestierten die Einwohner. Man hatte sich an das schräge Teil gewöhnt. Nun steht er so wie er steht und ist ein beliebtes Motiv für allerhand Fotografierende, die vorbeikommen und sich auf die Kreuzung stellen, um zu knipsen. Wenn jemand meint, der Straßenverkehr sei nur in Berlin gefährlich? Hier ist zwar nicht so viel los, aber wenn … .
Noch ein Stück weiter an einer Kurve hängen bretonische Fahnen an einem Wohnhaus. Ob hier der örtliche Nationalist oder der Gewerkschaftsführer des Dorfes wohnt, weiß ich nicht.
Die Gemeinde ist groß, stark zersiedelt und verteilt sich über die halbe Halbinsel. Am meisten Betrieb ist aber an dem kleinen Parkplatz am Ende der Straße, da, wo die Halbinsel am tiefsten ins Meer sticht. Point du Chateau, der Aussichtspunkt, an dem das Wasser anbrandet hat einen kleinen Strand, zumindest wenn das Wasser noch nicht ganz weg ist oder gerade kommt. Mutige und Kinder in Neoprenanzügen baden hier. Weiter in der Bucht liegen die Boote. Letztlich ist so eine Bucht, in der überall Boote herumliegen, in seiner Ansicht auch nichts anderes, als ein Parkplatz, der etwas feucht ist. Aber es sieht romantischer aus.
Eine Bucht weiter steht ein riesiger Felsen im Wasser, der mal Insel und mal Kletterfelsen ist.
Und dann, einen knappen Kilometer weiter den Küstenwanderweg entlang, gelangt man zum Fotoobjekt Nummer eins in der Bretagne: Le Gouffre. Jenes zwischen die Felsen geklemmte Haus, das auf jedem Bretagneführer zu finden ist. Immer, wenn wir dort entlang spazieren, stehen ein oder zwei Autos davor. Ich bin mir nicht sicher, ob da immer Leute drin wohnen oder ob das Fremdenverkehrsamt Geld dafür nimmt, die Autos wegzufahren, damit man ein gutes Motiv fotografieren und vermarkten kann. Letztlich sieht das Haus zwar imposant aus. Aber wohnen möchte ich doch lieber in dem Häuschen mit dem Panoramablick.
Roscoff
16. Juni 2016
Das Wetter in der Bretagne kann selbst den kaltblütigsten Meteorologen zum Weinen bringen. Wetter-Apps erscheinen wie Lottotipps. Selbst das aktuell stattfindende Wetter ist schwer anzusagen. Und Küstenwetter macht sowieso was es will, da hilft es, wenn Meteorologen beim Bilden des Konjunktivs besonders gut zugehört haben. Abends haben wir wunderbares Wetter am Wasser. Wind, schöne Wellen, starke Brandung, die weiße Gischt hervorbringt und blauer Himmel. Mit Blick aufs Land sieht man Wolkenungetüme, dunkel und drohend. Es gab Tage, da war es umgekehrt. Aus dem sonnigen Inland kommend, sahen wir schon von Weitem eine Nebeldecke über der Küste. Einen Streifen von knapp drei Kilometern bedeckte der Nebel über Land. Heute wird stattdessen die Küste frei gepustet.
Besonders interessant ist es unterwegs. Der Weg führt uns weg von der Cotes d’Armor ins Finistere. Wir wollen nach Morlaix, einem Städtchen mit Hafen und Viadukt. Das ist ein bisschen Fahrtweg, aber wir sind voller Hoffnung und schauen in den blauen Himmel. Unterwegs verdunkelt sich die Welt. Am Strand von St. Michel en Greve, einer riesigen Bucht, in der man das Meer bei Ebbe in zwei Kilometern Entfernung gerade noch so sehen kann, während es bei Flut bis an den Parkplatz schwappt, wird es bereits ungemütlich. In Morlaix beginnt es ab dem Ortschild an fürchterlich zu regnen. Wir kreisen ein bisschen am Hafen herum und entschließen uns bis Roscoff weiterzufahren. Entlang der Corniche, der Uferstraße sehen wir von der Rivière de Morlaix, das, was übrigbleibt, wenn das Wasser weg ist. Einen matschigen Flussboden, Sand und Modder. In der Mitte des breiten Bettes plätschert ein Priel lustlos zum Meer, Boote - Ruderkähne, wie Segelboote - liegen auf der Seite und warten auf die Flut. Allmählich lässt der Regen nach und wir erkennen in der Ferne blauen Himmel. Rein richtungsmäßig müsste dort Roscoff liegen. Tut es auch und nach wenigen Kilometern ist die Straße trocken und die Sonne scheint wie am Mittelmeer. Kaum in Roscoff angekommen, biegen wir in eine kleine Seitengasse, die uns in die Nähe des Fährhafens bringt. Von hier starten die großen Fähren nach Plymouth und Cork in Irland. Aber wir wollen nicht nach Cork, sondern zu einem kleinen exotischen Garten, in dem man vor einigen Jahren begonnen hat, Pflanzen, die eigentlich nicht hier heimisch sind, anzusiedeln. Die Bretagne profitiert Dank des Golfstromes von einem milden Atlantikklima. Selbst Palmen gedeihen hier an der Küste als große Schatten spendende Straßenbäume.
Der Garten ist eine recht eigenwillige Einrichtung. Ehemalige Botaniker und Forschungsreisende werden bemüht, um die Herkunft der Pflanzen zu erklären.
Der Jardin Exotic Roscoff wurde 1986 gegründet. Damals kauften ein paar Botaniker einen Felsen. Was zum Geier will man mit einem Felsen, dachte man damals und vermachte den Steintroll den Freunden des Gemüsebeetes. Doch die fingen an Sträucher und Bäume anzusiedeln, deren Vorfahren einst Leute, wie James Cook und Bougainville von ihren Reisen mitgebracht hatten. Gewächse aus Indien, Südafrika, China, Südamerika, Australien und Neuseeland. Im milden Klima der Bretagne gediehen diese gut. Irgendwann kaufte man noch etwas vom brachliegenden Land hinter dem Felsen dazu und erweiterte den Garten.
Heute ist es eine gepflegte Anlage, durch die man eine Weile spazieren kann, vorbei an kleinen Bächen, durch dschungelartige Anordnungen allerlei Gesträuchs und immer wieder an bunt blühende Blumen mit lustigen lateinischen Namen entlang. Vom Felsen aus, auf den eine steile Treppe hinaufführt, kann man nicht nur den ganzen Garten überschauen, sondern auch auf das benachbarte Hafengelände blicken. Eine riesige Fähre aus Großbritannien steht da und wird beladen. Im Segelhafen parken die Yachten dicht an dicht.
Roscoff selbst war ein altes Piratennest. Aber vor allem war es schon immer ein Hafen, der Waren zwischen Frankreich und England umschlug. Besonders Zwiebeln wurden hier in großen Mengen verschifft. Es ist ein angenehmes kleines Hafenkaff, unaufdringlich, selbst in den Ecken, wo man mit Seemannsromantik Krimskram verkauft. Die Kirche ist riesig und mit einem ausgesprochen einfallsreich gestalteten Turm geschmückt. Es sieht aus, als hätte der Architekt seine Ideen direkt von der Buddelform am Strand umgesetzt. Drinnen ist es kühl und ruhig. Der Papst wirbt um Mitglieder mit einer kultigen Geste. Er hebt den Daumen und die Bildunterschrift sagt: “I like”. Der Papst Franziskus scheint der erste Chef der katholischen Kirche zu sein, der ein bisschen begriffen hat, dass das Leben außerhalb der Kirche ein recht turbulentes ist. Er wirkt modern und manche alten Herren im Vatikan haben längst bereut, ihn gewählt zu haben. Als junger Mann jobbte er als Türsteher vor einem Club in Buenos Aires. Heute weiß er, wo auf dem Computer die @-Taste ist. Damit ist er ein gutes Stück weiter, als die Neulandbesucherin Angela Merkel.
Aber zurück nach Roscoff. Es ist Mittagszeit. In Frankreich speist man entweder zwischen 12:00 und 14:00 Uhr oder ab 19:00 Uhr warm. Wir nehmen heute mal ein klassisches Mittagessen in einem Hotelrestaurant ein. Platziert werden wir auf der Terrasse mit Blick aufs Meer. Eine lange Seebrücke zieht sich weit in die See hinaus. Ein Stück dahinter sehen wir die Ile de Batz, eine geräumige Insel, die gut bebaut ist. Der Kellner ist flink und die Eindeckkräfte fast ein bisschen hektisch, wenn es darum geht, abgefressene Tische wieder herzurichten. Schnell sind wir uns einig, ein Menu de Jour zu bestellen. Vorspeise und Hauptgericht für mich, Hauptgericht und Nachspeise für die Herzdame. Sie nimmt das Hühnchen und ich ein Filet vom Rochen. Es ist ein bisschen pervers. Einerseits halte ich den Rochen für einen der elegantesten Fische des Meeres. In jedem Aquarium oder Ozeanarium, das wir besuchen, freue ich mich, wenn ich einen Rochen majestätisch durchs Wasser gleiten sehe, andererseits nehme ich eine Gelegenheit wahr, diesen Fisch zu verspeisen, wenn er auf der Karte steht. Sein Fleisch ist weiß und sehr weich, zart im Geschmack und vortrefflich von den Gräten zu lösen. Ich entschuldige mich hiermit bei jedem Rochen, der das liest. Aber er ist einfach lecker. Das Hühnchen der Herzdame scheint auch gelungen zu sein.
Am Nachbartisch sitzt eine größere Familie. Am Kopfende mampft ein etwa zweijähriges Kind vergnüglich vor sich hin. Pubertierende Jugendliche sitzen brav neben Vati und Mutti, ohne gelangweilt zu gucken. Nur Mutti scheint irgendwelche Schmerzen zu haben und verzieht immer wieder das Gesicht. Der Tisch zur Rechten besteht aus Freunden der Meeresfrüchte. Der erste Gang besteht aus Muscheln und Hummer. Der zweite aus Garnelen und anderen Meeresgetier, das vormittags noch im Wasser krakelte. Was wird wohl das Dessert werden? Shrimpskompott?
Der Service in der Gaststätte ist ausgesprochen freundlich, das Essen ausgezeichnet. Eine Empfehlung. Wer nach Roscoff kommt, der besuche das Restaurant “Les Arcades” direkt gegenüber der Pizzeria Robert Surcouf.
Ich muss noch zur Post. Briefmarken kaufen, um den Lieben daheim eine Postkarte zu schicken. Die Post hat offen und ich gehe hinein. Vor mir holen zwei Personen Geld ab. Mit Scheck. Die Postangestellte wirkt wuselig, aber nicht auf diese schnelle Weise, sondern auf eine chaotisch, alles verzögernde Art. Es dauert eine Weile, bis ich endlich dran bin. In der Zwischenzeit hat sie einmal alle Aktenordner durchwühlt, Kisten geöffnet und wieder geschlossen, ein lange klingelndes Telefon ignoriert, um es genau in dem Moment abzuheben, wo der andere Teilnehmer genervt aufgegeben hat.
Ich stehe vor dem Schalter und sage meinen Satz auf, in dem ich sechs Briefmarken für Postkarten verlange, die nach Deutschland gehen soll. Sie greift in den Briefmarkenordner, schaut mich an, als hätte ich was vergessen und fragt: “Quel Direction?” Wie welche Richtung, denke ich. “Allemagne”. (Das hatte ich doch gesagt. “Europe?” fragt sie. Ja natürlich meine ich das Deutschland in Europa, Herrgott, noch mal. “Combien”. Na sechs, zum Teufel. Mein Französisch ist vielleicht nicht das aller Ausformulierteste. Aber ich hatte mir wirklich Mühe gegeben und einen Satz formuliert, in dem sich alle relevanten Daten befanden: Sechs, Briefmarken, Postkarte, Deutschland. Vielleicht nicht mit der korrekten Grammatik, aber eindeutig mit klarer Kaufabsicht. Wenn Esmeralda Tausendschön (Na so doll gepflegt wirkte die Dame jetzt auch nicht) mal zuhören würde, wenn man was sagt, würde das ungemein helfen. Sie reißt genervt die Marken aus dem Ordner. Sechs Euro. Zack. Heute mal kein Bon Journée. Und raus. Dusslige Pute.
Ein längerer Spaziergang führt uns noch über die Landungsbrücke aufs Meer hinaus. Das Wasser ist unerhört blau. Die nahe Insel so nahe, dass man sich fragt, warum man die Landungsbrücke nicht gleich bis zur Insel erweitert. Vermutlich, damit die Leute, die die Leute mit dem Boot hinüberbringen, immer genug zu tun haben. Eigentlich ein guter Gedanke.
Der Wind weht kräftig, ich muss die Mütze abnehmen und spüre wie sich Böen durch mein spärliches Haar wuscheln. Wind in den Haaren habe ich seit Jahren nicht bemerkt. Ich muss dringend Rasierklingen kaufen. Stattdessen kaufe ich ein Fernrohr.
Auf dem Weg zurück regnet es in Morlaix. Auf unserer Halbinsel jedoch scheint die Sonne, das Wasser ist blau und die Wellen werfen weiße Gischt gegen die roten Felsen an der Cote de Granit Rose.
Von Papageientauchern und Basstölpeln
17. Juni 2016
Auf den Sept Îles
In Frankreich können sogar die Pinguine fliegen. Wie das geht? Der Sinn für eine offensichtliche Benennung von Meeresvögeln, verschaffte einem kleinen Zugvogel aus der Familie der Alke das Vergnügen, in eine Reihe mit dem antarkischen Schwimmvogel gestellt zu werden. Ob die Fischer, die den schwarz-weißen Tordalk zu ersten Mal zur Kenntnis nahmen, auch gerade mit Alk zu tun hatten oder einfach nur glaubten einen Pinguin vor sich zu haben (der hier in der Bretagne nicht mal ansatzweise vorkommt), weiß ich nicht zu sagen. Aber den Tordalk nannten sie Petit Pingouin. Ornitologen versuchten den gröbsten Schaden zu beseitigen und französisierten den Piepmatz in Pingouin Torda um, damit seine Klassifizierung wenigstens etwas in die richtige Richtung drehte. Dieser Vogel und noch eine Reihe anderer seltener Tiere in dieser Region, leben auf einer kleinen, der Cote de Granit Rose vorgelagerten Inselgruppe, die wir unbedingt besuchen wollen.
Morgens weckt mich das Trommeln des Regens auf dem Dach. Wir hatten am Abend zuvor für den heutigen Tag eine Schiffspassage zu den Sept Îles gebucht und waren nun einigermaßen geplättet, weil es regnete. Aber, wie anderen Ortes bereits ausführlich berichtet, macht das Wetter an der Küste ohnehin was es will. Der Abfahrtsort der kleinen Fähre ist am äußersten Ende von Perros Guirec, eine knappe Autostunde entfernt von unserem Küstenzipfel. Außerdem heißt es ja, wer aufs Meer will, darf das Wasser nicht scheuen. Auf gehts.
Am Segelhafen von Perros Guirec beginnen die Wolken aufzureißen. Vor dem Bootsanleger, ein gutes Stück die Küste rauf Richtung Tregastell scheint sogar schon die Sonne aufs Meer. Weit hinten erkenne ich die kantigen Umrisse der Sept Îles. Die Sieben Inseln sind eigentlich nur fünf. Es gibt zwar noch ein paar Felskanten weiter draußen, die man der Inselgruppe zuschlagen könnte, doch der Fehler liegt wohl in einer schlechten Übersetzung vom bretonischen ins französische.
Der kleine Ausflugskahn, der uns hinüberschippern soll, hat zwei Decks. Das Unterdeck ist vor Wind und Wetter weitgehend geschützt. Wer will kann sich das Wasser und seine Tierwelt von hinter den Fensterscheiben anschauen. Das tut aber keiner der etwa vierzig Fahrgäste. Das Oberdeck ist offen und das Wetter hat sich spontan entschlossen, uns mit knalligstem Himmelblau zu übergießen. Zwanzig Minuten benötigt der Kutter bis zur ersten Insel des Naturschutzgebietes. Schon von weitem kann man die riesige Kolonie der Basstölpel erkennen, die die Ile de Rouzic auf der Seite zum offenen Meer hin wie ein großer weißer Möwenschiss bevölkert.

Die halbe Insel ist ins Weiß der schnatternden und schreienden Vögel gehüllt. Um die Bergspitze segeln etliche Exemplare wie Kamikazeflieger umher und stürzen sich zum Fischen ins Wasser. Im französischen heißt der Basstölpel “Fou de Bassan”, was soviel, wie “Der Wahnsinnige des Basses” heißt. (Wenn man jahrelang in der internationalen Musikszene herumstromert, kennt man natürlich beide Exemplare. Basstölpel ist allerdings ein ziemlich übles Schimpfwort.) Bleiben wir der Einfachheit halber beim Basstölpel im seiner flugfähigen Form. Mit angelegten Flügeln lässt er sich aus 30 Metern Höhe herab fallen und kann so seine Beute auch noch in fünf Metern Tiefe erwischen. Das Stürzen demonstrieren sie vor unseren Augen eindrucksvoll.
Wenn die vielen Basstölpel schon eine Attraktion sind, dann ist es die kleine Gruppe Papageientaucher vor unserem Boot erst recht. Warum man sie auch Meeresclowns nennt, wird mir sofort klar, sobald ich sie erblicke. Mit den bunten Schnäbeln, die rot, blau und orange leuchten, sind sie bereits auffällig genug, allerdings bewegen sie sich auch ziemlich drollig. Sie planschen herum, fliegen hektisch umher oder watscheln auf ihren roten Beinen über einen Felsen wie Enten. In der kleinen Papageientauchergruppe, die vielleicht fünfzehn bis zwanzig Exemplare zählt, ist jedenfalls ordentlich Stimmung. Die Besucher auf dem Boot lehnen sich alle auf einer Seite über die Reeling. Kameras klicken, Taschentelefone fotografieren und filmen. “Ahs” und “Ohs” gurgeln über das Deck. Vor mir steht eine Frau, die ihren Dokumentationsdrang dadurch befriedigt, dass sie ein Tablet-PC in die Höhe hält und ein Video dreht. Mir bleibt also nur der Blick in den Fernseher. Ich ziehe mich auf die andere Seite des Bootes zurück, lehne mich ans Geländer und freue mich darüber, dass sich das Boot langsam dreht. So finde ich mich plötzlich in Reihe Eins wieder. Und sehe die Gruppe herumalbernder Papageientaucher ganz dicht vor mir. Ich bin völlig verzückt, denn tatsächlich sind diese kleinen Kasperköppe so bezaubernd, dass ich sogar vergesse so hektisch zu fotografieren, wie meine Mitreisenden. Hinter mir knistern die Knippsboxen, es wird eifrig gedrängelt und ein ausfahrendes Kamerobjektiv surrt an meinem Ohr vorbei.
Dieser permanente Dokumentationsdrang, der uns reflexartig zu Kamera und Smartphone greifen lässt, sobald wir unseren Augen nicht trauen, hat etwas zutiefst irrationales. Der Augenblick, den man für Wert befindet für die Ewigkeit festzuhalten, ist in diesem Augenblick genau der Augenblick, den man verpasst, weil man den Augenblick in diesem Augenblick für die Ewigkeit festhält. Natürlich habe ich auch die Kamera gezückt und ein paar Fotos von wunderbarem blauen Wasser gemacht. Wahrscheinlich ist schemenhaft irgendwo ein Papageientaucher zu sehen. Meine Bilder der Tiere sind wohl schon deshalb nichts geworden, weil ich immer vergesse mich mit der Kameraeinstellung beschäftige, stattdessen dümmlich grinsend den Moment genieße und ihn einfach nur wunderschön finde. Es ist einer der Anblicke, die man mit dem Kopf fotografiert. Schließlich entfernt sich das Boot langsam wieder und die hektische Betriebsamkeit legt sich zumindest auf dem Boot wieder.
An der Nachbarinsel können wir Kormorane beobachten. Das ist auch sehr schön, wenn auch nicht mehr so außergewöhnlich. Im späten Winter sitzen jedes Jahr sechs Exemplare bei uns am Berliner Weissensee und machen den Anglern das Leben schwer. Am Ufer staksen Austernfischer auf ihren langen roten Beinen umher und stecken ihren hellen roten Schnabel in den Ufersand. Als das Boot langsam abdreht, fliegt ein Paar Pinguine an unserem Boot vorbei. Also die Petit Pingouins, die eigentlich Nordalks sind. Und dieser Moment ist beinahe noch unwirklicher, als der mit den Papageientaucher, denn es leben nur zwanzig bis dreißig Paare auf den Inseln. Ein zweites Paar paddelt im Schatten eines Felsens in der Brandung. Bevor ich hierher kam, wusste ich nichts von diesen Vögeln und wären sie in Reisebeschreibung und Moderation nicht extra erwähnt und hier auch tatsächlich vorbei geflogen, hätte ich sie vermutlich auch nicht vermisst. Das ist das Erschreckende daran. Viele Lebewesen, die aussterben, vermissen wir Menschen kaum, weil wir uns ihrer nicht bewusst sind. Doch, wenn sie verschwunden sind, ist dies endgültig, selbst wenn wir es nicht bemerken. Manche der aussterbenden Arten sind so selten, dass einige nur von Experten erkannt und gefunden werden. Vielleicht ist es auch keine gute Idee, Touristen an solch entlegene Orte zu karren, um sich seltene Vogelpopulationen anzusehen. Denn immerhin bringen Menschen Unruhe in das Leben einer Kolonie. Andererseits macht man nur so den Leuten die Situation bewusst und fördert eventuell auch Verständnis und Erkenntnis. Zudem kann sich auch die beste Naturschutzbehörde nicht jedwede Hilfsmittel vom Staat erbetteln. Ein gemäßigter Tourismus mit zeitweiser moderater Störung ist möglicherweise doch eine Variante, diese Tiere vor dem Aussterben zu bewahren. Der Papageientaucher zum Beispiel gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer der häufigsten Vogelarten auf den Sept Îles. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er beinahe verschwunden. Die französische Eisenbahn hatte ein Werbekonzept für den sich entwickelnden Tourismus entwickelt, das Leute an die Küste brachte. Es warb mit der Möglichkeit der Jagd auf Papageientaucher. Man begriff glücklicherweise irgendwann, was für ein fataler Fehler diese Idee war.
Vom Papageientaucher wurden kürzlich wieder 250 Paare auf den Inseln gezählt. Die Trottellumme, die es glücklicherweise in nördlicheren Gefilden in größerer Anzahl gibt, hat sich hier dagegen nur in einer Population von knapp 20 Paaren erhalten. Die, die am meisten für die Ausrottung der Tiere taten, sind heute in ganz anderer Funktion Besitzer und Schützer der Inseln. Der nationale Jagdrat und der Küstenerhaltungsrat versuchen zusammen, diese Inselgruppe und ihre Bewohner zu schützen.


Wir werden an einer größeren Insel an Land gebeten. Der Kommentator des Bootes, der offensichtlich jeden Vogel mit Vornamen kennt und massenhaft Witze reißt, über die sich all diejenigen freuen, deren Französisch besser ist, als meins, muss an den Anleger hopsen und das Boot vertäuen. Wir gehen auf Ebbe. Die Gäste springen also alle für eine dreiviertel Stunde an Land und das Boot zieht sich in tieferen Gewässer zurück, während wir uns fühlen, wie auf einer einsamen Insel ausgesetzte. Die Insel ist tatsächlich einsam. Vor 500 Jahren lebten hier auf der “L’Ille aux Moines” der Insel der Mönche - was wohl? Richtig. Mönche. Die Mönche der “Bruderschaft der strengen Befolgung” hatten sich auf diesem kargen Flecken niedergelassen, um besondere Strapazen zu erleiden. Sie wollten auf Erden so unglücklich wie möglich sein, um sich umgekehrt proportional einen Super Aufenthalt im Paradies damit vorzufinanzieren. Vermutlich waren sie Jünger des Karmakreditplanes. Doch statt für irdische Sünden ewig zu büßen, wollten sie ihre Buße gleich jetzt absitzen. Was spricht eigentlich gegen die Möglichkeit, auf Erden ein ganz zufriedenes Leben zu genießen und im Jenseits trotzdem nicht in der Schämecke zu sitzen?
Die Mönche haben wirklich sehr gelitten. Schlechte Seeleute, wie sie waren, strandeten die meisten bei Versorgungstouren und ertranken. Andere gaben auf und trieben ihr irdisches Darben in größeren Klöstern in der Bretagne weiter. Möglich, dass sie dort, auch um den Preis, keinen Platz in der Sky-Lounge des Paradieses zu bekommen, sogar ab und zu mal etwas mehr Spaß am Leben hatten, als auf dem kargen Flecken, den wir gerade betreten.
Schmuggler und Piraten haben sich auch eine Weile auf der Insel vergnügt. Soldaten setzten dem Treiben mit Errichtung eines Forts ein Ende. Der große Leuchtturm auf der Spitze des Piks stammt aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Der alte Turm wurde 1944 von unseren Landsleuten gefällt.
Ein schmaler gewundener Weg führt hinauf zum Turm. Die Felsen fallen steil ins Meer und die Aussicht auf die benachbarten Inseln und die gut sichtbare rosa Granitküste ist überwältigend. Ich stelle eine Fuß auf einen Stein am Hang, fühle mich wie Käpt’n Brackwasser und zücke mein neu erstandenes Messingfernrohr. Keine zehn Meter entfernt lacht eine Silbermöwe.
Das Schiff legt wieder an und die Reise geht weiter. Bei nur mäßiger Dünung schaukeln wir durch das meerblaue … Meer. An einer letzten Felsengruppe, die nur inoffiziell zu den Sept Îles gehört, lässt sich unser Kapitän noch einmal zu einer Verringerung des Tempos hinreißen. Mit dem Heck treiben wir etwas näher an einen Granitblock heran, der aus dem Wasser ragt. Die Aufmerksamkeit der Besucher beanspruchen zwei Kegelrobben, die mit ihren Fettpolstern auf dem rutschigen Stein in der Sonne liegen und chillen. Offensichtlich befinden sich die beiden Robben, eine weiß, eine dunkel, im Wettbewerb um den Titel “Faulstes Lebewesen des Archipels” gerade im Endkampf. Sie glotzen uns mit gebremsten Interesse an. Die Schwarze gähnt. Dafür gibt es sicher einen Extrapunkt von der Jury.
Faulheit gehört bei den Kegelrobben der Bretagne zu den den cleversten Wesenszügen. Sie nutzen den hier herrschenden Tidenhub perfekt für ihre eigene Bequemlichkeit. Statt über die kantigen Steine zu robben und sich Striemen in die Rüstung zu reißen, warten sie einfach darauf, dass die Flut sie von der Felsenbank hebt. Sobald das Wasser die schweren Tiere - die Männchen wiegen um die 300 Kilogramm - leicht und wendig gemacht hat, flitzen sie munter und gar nicht faul durch das Wasser und jagen Fischen Angst ein. Das tun sie, bis die Ebbe sich wieder zurückmeldet. Dann suchen sie sich einen gemütlich aussehenden Felsen, der noch unter dem Meeresspiegel liegt und paddeln solange über ihm herum, bis das Meer geneigt ist, die fetten Viecher sanft auf ihren dicken Polstern abzusetzen. Den Trick kannten sie schon lange, bevor Otis den Aufzug erfand. Möglich, dass sich die Evolution dieses faule Verhalten noch ein, zwei Milliönchen Jahre anschaut und dann schulterzuckend beschließt, das die Sorte Robben sich an Land gar nicht mehr bewegen brauchen. Ein paar wohlgeformte Fettpölsterchen mehr, damit der Granit nicht so in der Hüfte drückt oder ausfahrbare, körpereigene Liegestühle und die bretonische Kegelrobbe wäre eine eigenen Art. Schließlich hatte die Evolution schon immer einen sehr schrägen Sinn für Humor. Im Laufe von Jahrmillionen hat diese einfallsreichste Kraft des Lebens auf unserem Planeten ganz außergewöhnlich wunderliche Geschöpfe entstehen und wieder verschwinden lassen. Sie hat Fische, die im Wasser permanent von den Größeren geärgert wurden, auf die Idee gebracht, ihre Flossen versuchsweise auf Land zu setzen. Und schwupps, bereits ein paar Momente später, also so knapp 100 Millionen Jahre, stellten diese Fische überrascht fest, dass ihr Flossen mittlerweile eine Form besaßen, mit denen man morgens Kniebeuge machen oder vor Dingen mit größeren Zähnen weglaufen konnte, die sich jetzt blöderweise auch an Land tummelten. Und einen weiteren Augenblick der Entwicklungsgeschichte später registrierten diese ehemaligen Fische voller Freude, welchen Spaß es machen konnte, mit den ehemaligen Flossen zu klappern und sich erfolgreich vom Boden zu erheben ohne ständig aufs Maul zufallen, welches mittlerweile spitz und kräftig einem Schnabel Platz gemacht hat.
Die Evolution brachte auf so unglaublich, vielfältige Weise das Leben zum Leuchten. Schmetterlinge, Glühwürmchen, Korallenfische oder Eisvögel. Und sie erfand absurd schwere Lebewesen, wie Saurier und Elefanten, albern erscheinende Tiere, wie Pinguine, Papageientaucher und Faultiere und die auf sympathische Weise arrogante Katze.
Irgendwann ist in dieser erfolgreichen Entwicklungsgeschichte etwas grundlegend schief gelaufen. Eines schönen Morgens ist der Mensch, eine komplette Neuentwicklung der Evolution, mit einer grandiosen Aussicht vor seinem Höhlenfenster aufgewacht, hat sich das Getier und Gesträuch im Tal betrachtet und gesagt: “Alles lecker, alles meins.” Die Vorliebe, sich rücksichtslos am großen Büfett der Ressourcen zu bedienen, bis nichts mehr vorhanden ist und sich im dabei anfallenden Müll wohl zu fühlen, teilt der Mensch nicht mit vielen Lebewesen. Viele der ausgestorbenen Arten, sind nur deshalb von der Erde verschwunden, weil wir da sind und so tun, als wären wir die finale Glanzidee der Evolution. Dabei bleiben immer mehr Arten, die nicht über die Allmachtsfantasie des Menschen verfügen, auf der Strecke.
Wäre es nicht herrlich, in einer Welt zu leben, in der das Betrachten jedweden Geschöpfes dieser Erde in seinem Lebensraum, ob Elefant oder Papageientaucher, eine faszinierende Selbstverständlichkeit wäre und keine letzte verzweifelte Chance?
Wir verlassen die Kegelrobben, die sich von uns kaum gestört fühlen. Das Boot nimmt nun Fahrt auf. Es steuert auf die Granitküste mit seinen zerklüfteten Felsen zu. Seltsame Formen haben sich hier in Jahrmillionen durch die Erosion gebildet. Dieser harte Stein erodiert nur sehr langsam. Vor etwa 300 Millionen Jahren hat sich hier ein Magmaausbruch ereignet. Das ist in Erdzeitaltern gerechnet, also noch eine Art Kindergarten für Steintrolle. Manche der Felsen haben Formen, als wäre ein bekiffter Bildhauer Amok gelaufen. Riesige Gesichter, eine Faust, ein Molch, Vogelköpfe, all solche Formen kann man in den Felsen erkennen, wenn man ein bisschen Fantasie aufbringt. Dazwischen phänomenale Architektur. Ein Schloss steht auf einem Felsen, der gerade von der Flut zur Insel gemacht wird. Es ist das Chateau de Costaeres. Gerade mal hundert Jahre alt. Henryk Sienkiewicz schrieb hier sein berühmtes Buch “Quo vadis”. Soviel Kultur wird darin heute nicht mehr geschaffen. 1988 kaufte es ein deutscher Komiker. (Wie man mit einer Flasche Pommes-Fritz soviel Schmott machen kann, wird mir immer ein Rätsel bleiben.) Gleich daneben der Phare de Man Ruz, ein Leuchtturm von wahrhaft felsenfestem Format. Er wurde aus dem Stein gebaut, auf dem er steht. 1946 wurde er neu gebaut, nachdem der Vorgänger 1944 ebenso, wie sein Kumpel auf den Sept Îles zerstört wurde.
Schließlich landen wir wieder am Anleger vor Perros Guirec, verabschieden uns mit einem Dankeschön für diesen wunderschönen Ausflug von der Crew.
Vor den Restaurants an der Croisette von Perros Guirec scheint die Sonne auf einen makellos weißen Sandstrand. Ein paar Touristen liegen auf ihren Fettpolstern auf Sonnenliegen und chillen.

Abgesang
18. Juni 2016
Heute war der letzte Tag an der Küste der roten Granitfelsen. Die Sonne war warm, das Meer blau. Aber kalt ist das Wasser. Trotzdem waren wir baden. Musste sein.
Vormittags gab's nochmal eine kleine Runde mit dem Rad bis zu einem Ort, in dem wir vor 21 Jahren unseren ersten Frankreichurlaub verbrachten. Aus heutiger Sicht ist das da eine Hundehütte, in der wir wohnten, aber es war damals wunderschön.
Den Abend beschlossen wir mit einem Essen, in einem Restaurant in Treguier, das uns schon letzte Woche gut gefallen hat. Heute störte nur der Kellner etwas, der trotz unserer Weigerung irgendwas anderes zu sprechen, als Französisch, permanent auf englisch reagierte. Das ist schon ein wenig ärgerlich.
Insgesamt war es wunderschön und wir fahren auch etwas wehmütig zurück. Doch zunächst geht es kurz an die Loire, nach Saumur, wo morgen und übermorgen ein Radrennen im Vintageformat stattfindet. Alte Räder und ein Dresscode im Stile der Fünfziger Jahre. Mal sehen, was es davon zu berichten gibt.