Unvermittelt stiebt die Heringsschule auseinander und ein etwa zwei Meter langer Hai taucht vor mir auf. Leicht öffnet er sein Maul und die kreuz und quer stehenden, kiefernorthopädisch bedenklichen Zahnreihen, die er mir zeigt, versorgen meine Vorstellungskraft, was er damit alles anstellen kann, mit einer ziemlich großen Datenmenge. Nur noch fünfzehn Zentimeter trennen meine gesunden Glieder von der zerreißerischen Kraft dieses Universalhäckslers. Gottseidank bestehen diese fünfzehn Zentimeter aus Plexiglas. Der Hai driftet wieder ab in die Tiefe des Beckens und die Heringsschule zieht unbeeindruckt weiter ihre Kreise.
Ich befinde mich im Ozeanarium, auf dem Expogelände von Lissabon. Zur Weltausstellung 1998 war es der absolute Besuchermagnet. Heute, wo es nur eins der vielen Dinge ist, die man sich in Lissabon anschauen sollte, ist es ruhiger geworden. Keine langen Schlangen, dafür Ruhe in den kühlen Gängen einer bizarren Unterwasserwelt, die mich immer wieder erstaunt, überrascht, aber auch ein tiefes Gefühl von Vertrautheit erzeugt. Taucher sprechen von einem überwältigenden Freiheitsempfinden, wenn sie sich von Schwerkraftgesetzen nur mäßig belästigt im Wasser bewegen. Ein bisschen was vom Fliegen sei dabei. Angst ist ein Gefühl, über das von Tauchern selten geredet wird, obwohl ich glaube, dass man, eingezwängt in einen Taucheranzug, mit nichts bestückt als einem Schlauch, der einem mit Atemluft versorgt und umgeben von einer Umwelt, die nicht unbedingt für ihren diplomatischen Umgang mit Eindringlingen bekannt ist, schnell in klaustrophobische Zustände gelangen kann. Stattdessen werden immer wieder Worte wie Frieden und Beruhigung benutzt.
Ich stehe unmittelbar auf Höhe des Meeresbodens, vor Augen, die unendlichen Weite des Meeres und in den Ohren Unterwasserweltgeräusche, die, wenn sie auch nur aus geschickt versteckten Boxen tröpfeln, ein zusätzliches Tun, um Gedanken und Gefühle auf ein für die menschliche Hektik ungewohntes Tempo zu reduzieren. Langsam verstehe ich, dass Zeit ein Begriff mit geringer Bedeutung sein kann.
Ich habe viel Ruhe und viel Platz mich lange und ausgiebig umzusehen, ohne auf Zehenspitzen über die Schultern von Menschen zu schauen, die vor mir stehen und ohnehin immer viel größer sind als ich. Das Zentrum des Ozeanariums, Europas größtes und eines der drei größten Ozeanarien der Welt überhaupt, ist das riesige runde Becken, das den offenen Ozean darstellt. Die ganze Vielfalt des Lebens, die sich in den oberen Regionen des Meeres tummelt, ist zu bestaunen. Noch nie habe ich ein Aquarium von einer Größe gesehen, in dem ganze Fischschwärme ihre Kreise ziehen. Eine Krabbe stöckelt über den Meeresboden und ein Seehecht, der sämtliche Suppentöpfe sprengt, parkt über einem Stein. Ich setze mich auf eine Bank und betrachte diese Unterwasserwelt. Die Nacht des Raumes, in dem ich mich befinde, wird lediglich durch ein paar Notleuchten im Fußboden und durch das schimmernde Sonnenlicht, das durch die Wasseroberfläche bricht, gemildert.
Im dämmrig blauen Licht der Unterwasserwelt erblicke ich die Silhouette eines einschüchternd großen Rochens, der lautlos und gleichmäßig durchs Wasser schwebt, wie das Mutterschiff einer Raumflotte. Flankiert von zahlreichen kleinen Heringen, Barschen von der Größe gutgefüllter Wanderrucksäcke zieht der Rochen seine Kreise, steuert auf die Scheibe zu, hinter der ich stehe und dreht mit respektablem Abstand eine elegante Kurve. Er bietet einen Anblick, den selbst der abgeschlabberte Begriff “majestätisch” nichts von seiner Würde zu nehmen vermag. Eine Vielzahl von Fischen schwimmt durch das enorme runde Becken, Haie mit Köpfen wie Gummihammer geformt und zwei merkwürdige urwüchsige Klumpen Fisch, die Aussehen, als hätten sie mit sehr hoher Geschwindigkeit ein viel zu enge Durchfahrt angesteuert und diese auch passiert, was ihre Form nachhaltig prägte. Eine Moräne blickt fies hinter einem Stein hervor, kleine bunte Korallenfische kaspern in einem Labyrinth von Seeanemonen und diversen Grünzeug herum. Alles wunderbare Geschöpfe des Meeres doch keines beherrscht mit seiner Anmut die Unterwasserwelt des Oceanariums so eindeutig wie der Mantarochen.
Lange kann ich ungehindert in dieses beruhigende Blau schauen. Es ist erholsam bis eine Schülergruppe durch die Stille marodiert. Ein portugiesischer Erzieher versucht, sie lauthals zur Ruhe zu ermahnen. So erfolglos, wie man nur sein kann. Ständig “schscht” er sie an. Ich stelle mir vor, dass das Plexiglas diese Geräusche vor den Tieren abschirmt und wünsche mich auf die andere Seite. Ein Junge drückt sein Gesicht gegen die Scheibe und dreht dem Hai eine lange Nase. Der Spuk geht schnell vorüber. Kinder haben nicht so viel Geduld beim Betrachten von Dingen, die sie für selbstverständlich halten. Außerdem beschäftigen sie sich lieber mit den vielen Schautafeln, die die Winde der Welt, die Flugrichtungen der Seemöwen und die Strömungen in den Meeren darstellen. Dort haben sie die Möglichkeit auf Knöpfe zu drücken und „Oooh“, “Aah” und “Hoho” zu rufen. Auch ich finde mich magnetisch gebannt an einer Apparatur wieder, die ich Wellenmaschine nennen will. Hinter einer schmalen Scheibe glibbert etwas blaue Flüssigkeit. Künstlich gefärbt und mit Spülmittel versetzt. Sie Oberfläche ist glatt und ruhig. Um das zu ändern muss ich einen Knopf drücken. Ich drücke und sage “Ooh”. Ein geheimnisvoller und den Blicken verborgener Mechanismus im Innern der Maschine bewegt das Wasser. Eine leichte Dünung entsteht, mit langgezogenen leichten Wellen. Der zweite Knopf verursacht etwas mehr Aufregung im Becken. Die Wellenkämme werden höher, die Täler tiefer und die Abstände zwischen Berg und Tal, als die Wellenfrequenz kürzer. “Aah” entfährt es mir. Der dritte Knopf bringt nun eine ziemliche Raserei hervor. “Hoho” mache ich. Dort in den Strudeln und sich überschlagenden Brechern als Boot unterwegs zu sein, stelle ich mir lieber nicht vor. Mir wird sonst schlecht.
Neben Geräten mit Knöpfen finden sich in den vielen Seitenräumen des Oceanariums Schautafeln und Exponate wieder. Muscheln z. Bsp. in vielfältigster Form. Kleine langweilige Muscheln, die an jedem herkömmlichen Strand herumliegen, große gewundene Muscheln, mit denen man auf pazifischen Inseln, die Kinder zum Essen ruft, simpel geformte Muscheln, die sich eine Ölfirma zum Symbol auserkoren hat und kleine spitze Muscheln, die als Pfeil- oder Harpunenspitze dienen. Andere Schautafeln wieder bekunden den Einfallsreichtum des Menschen die Tierwelt unter Wasser auf effiziente Weise zu reduzieren. Vom einfachen, vergleichsweise harmlosen kleinen Fischernetz, über die Harpune bis hin zur Erläuterung der Schleppnetzfischerei.
Immer wieder bleibe ich fasziniert an kleineren Aquarien stehen. In zylindrischen Becken schwebt etwas Gemüse. Ich schaue es mir genauer an und halte es für eine spezielle Wasserpflanze. Grüne Blätter wachsen aus allen Teilen eines länglichen Astes und ich will bereits weitergehen, als ich am Ende eines Astes ein paar dunkle Knöpfe sehe, die sich bewegen. Sind es Augen oder Fühler, ich weiß es nicht, aber plötzlich sehe ich ein bizarres Lebewesen vor mir, das der Sagenwelt entstiegen zu sein scheint. So heißt es auch treffenderweise Seedrachen und treibt in einem zylindrischen Becken im Kreis. Ein weiteres Aquarium steht völlig im Dunkeln und ist nicht beleuchtet. Wird wohl gebaut, denke ich und will schon wieder weg, als ich kleine weiße Punkte bemerke. Kleine Tiefseelebewesen, die ihr eigenes Licht mit sich führen und von denen auch nicht mehr zu erkennen ist, als eben dieses Licht, trudeln ohne erkennbare Richtung durch das schwarze Wasser. Viele kleinere Aquarien präsentieren die Artenvielfalt, die die Meere trotz der engagierten Störversuche des Menschen immer noch beherbergen. Quallen, am Strand nichts anderes als glibberige Masse von der Konsistenz zulange benutzter Waschlappen, übelstes Ärgernis bei Badeausflügen mit heranreifenden Teenagern, pumpen Wasser durch ihre feingliedrigen Lamellen, ziehen ihre Tentakeln hinter sich her, ihre Zeichnung, wie Blumen. Sanft sehen sie aus, sanft und schön und sie besitzen hypnotisierende Wirkung, wenn ich sie so betrachte. Man nennt sie auch Medusen. Ein bisschen Frieden, summe ich vor mich hin, obwohl ich weis, das eine Qualle mit dem schönen Namen „Portugiesische Galeere“ vor der Küste Australiens wohnt und eine der tödlichsten Lebewesen ist, die die Natur hervorgebracht hat. Wer mit ihrem Gift in Berührung kommt, hat kaum eine Chance an Land zu kehren. Ein weiteres Becken zeigt flache Fische, die sich im Sand eingraben, Sie besitzen schiefe Gesichter. Ihre Augen befinden sich an der Oberseite. Ihr Mund auch. Es sieht aus, als habe man sie ungleichmäßig plattgedrückt. Picasso muss sich davon inspiriert gefühlt haben, als er begann Gesichter im Profil zu malen, aber trotzdem beide Augen auf eine Seite zu verlegen.
Wann immer ich weiter gehe, habe ich zu meiner Linken wieder Einblick in das Becken mit der offenen See, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt und von der ich mich schwer wieder lösen kann. Ein Taucher gluckert auf den Meeresboden. Eine Hand umfasst den Henkel eines Eimers. Immer wenn er den Deckel öffnet, versucht ein toter Fisch zu entkommen. Doch schwimmen genügend Barsche herum, die jeden Fluchtversuch verhindern. Angesichts einer solchen Vielfalt in einem Aquarium wie diesen, frage ich mich, warum sich die Tiere nicht gegenseitig auffressen. Sind die Tiere so schlau, nicht die Balance im Becken zu zerstören, oder werden sie einfach so geschickt gefüttert, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommen, den leckeren Nachwuchs der Nachbarn zu verputzen. Gerade Haie gelten selbst unter Fischen nicht gerade als umgänglich. Vermutlich schwimmt im Wasser irgendein Beruhigungsmittel oder es werden Suggestionsmethoden eingesetzt, bei denen aus einer Unterwassertonbox die hypnotischen Worte: „Eigentlich bin ich Vegetarier“ eingespielt werden. Welche Wissenschaft dahinter steckt, den Ausgleich zu schaffen, bleibt mir leider verborgen. Nach dem Lunch muss der Tisch aufgeräumt werden. Der Taucher lässt sich einen Schlauch herunterreichen und beginnt auf dem Meeresboden ein wenig staubzusaugen.
Vier weitere runde Becken, nicht ganz so riesig, schneiden den Kreis des großen Beckens. Von oben betrachtet sieht die Anlage aus wie ein Micky-Maus-Kopf mit vier Ohren. Diese vier Ohren stellen jeweils eine andere Region der Weltmeere dar. Das erste Ohr ist die Arktis. Im Bereich über dem Wasserspiegel ragt eine karge Felsformation in den Himmel der Halle. Kalte Luft wird in Nebelschwaden aus den Felsen gesprüht und die arktischen Seemöven, die hier angesiedelt wurden, kleckern weiße Fantasiegebilde in das kalte Wasser. Unmengen an Besucher sind die Vögel gewohnt. Sie kommen fast bis an die ausgestreckte Hand heran, aber nur fast. Geschickt beachten sie physikalisch-mathematische Gesetze, die besagen, dass zwischen der maximalen Ausdehnung eines ausgestreckten Menschenarmes und dem Körper eines exotischen Tieres der Abstand von nur einem Zentimeter ausreicht, um als Ergebnis unerreichbar zu ergeben. Die Tiere kennen diese Lösung gut, wir Menschen, die wir solche komplizierten Rechnung in Formeln umzusetzen in der Lage sind, wollen im praktischen Leben nicht so recht daran glauben.
Nur wenige Schritte brauche ich für die Distanz von Pol zu Pol. In der nächsten Halle planschen ein paar Pinguine. So geschwind sie durchs Wasser gleiten, so schwerfällig und tollpatschig watscheln sie auf den Felsen herum. Pinguine und andere flugunfähige Vögel geben mir immer wieder Rätsel auf. Es will mir einfach nicht in den Kopf, das die Natur Wesen mit Flügeln ausstattet und sie sich dann in einem Umfeld zwingt, wo diese äußerst nützliche Fähigkeit unbeachtet verkümmert. Ob Pinguin, Strauß, Emu, die dank ihrer Flug- und Fluchtunfähigkeit längst ausgestorbene Dronte oder der seltsame neuseeländische Kakapo, all diese Tiere schleppen oder schleppten sich mit ein Paar völlig nutzloser Stummel herum, die sie gelegentlich daran erinnern sollen, welchen eigenwilligen Teil einer Familie sie bilden. Was sie in etwa in den Status eines Verwandten versetzt, der meint eine alternative Lebensform als Aussteiger auszuprobieren. Man mag ihn bewundern ohne mit ihm tauschen zu wollen, weil man tief im Innern der Meinung ist, dass so etwas früher oder später scheitern muss. Die Pinguine kommen ganz gut zurecht, weil sie in einer große Kommune leben, der Strauß ist ein wenig irre geworden darüber, findet aber, wie viele, die geistig ins Abseits gleiten, seine Situation immer noch besser, als die seiner Verwandten. Nur der Kakapo hat sich in einer ziemlich ruppig gewordenen Umwelt ein bisschen übernommen und braucht dringend Hilfe.
Die fortführende Routine eines vorgegebenen Rundgangs lenkt mich in den Indischen Ozean. Nichts ist mehr zu spüren, von der Erfrischung, die ich in der Antarktis genoss. Hier weht ein warmer Nebel durch die Halle. In den Palmen albern ein paar Vögel herum, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Ebenfalls eine geschickt berechnete Armlänge entfernt von mir brütet ein roter Vogel blaue Eier aus. Die Geräuschkulisse erinnert mich an Dokumentationen aus dem Regenwald, stammt vermutlich auch aus einer. Die Unterwasserwelt ist so bunt wie der Karneval der Kulturen. Korallen und Fische in Farben, die jeden Schulmalkasten blass aussehen lassen, schmücken das Wasser, das hier auch ein ganz anderen Blauton zu haben scheint. Papageienfische mit den seltsamsten Farbkombinationen, Fische mit Hörnern, Seescheiden und Seeanemonen, alles ringt um die Gunst des Betrachters und wer weiß wie viele Designer sich schon von diesen putzigen Gesellen inspirieren ließen. Ein Fisch mit vorgewölbtem Kussmund, einem blauen Kussmund, steht vor der Scheibe und glotzt anzüglich. Laut einer Studie über Gruppenzwänge passen sich häufig die intelligenteren Exemplare dem niedrigsten Niveau in der Gruppe an. Genau daran muss ich denken, als ich nach einigen Augenblicken bemerke, wie ich mit vorgestülpten Lippen zurück glotze.
Das vierte Mickeymouseohr wird vom Pazifik gefüllt. Zwei wuschelige Pelztiere üben Rückenschwimmen. Ich kann kein Hinweisschild finden und halte sie so für die pazifische Form des Bibers oder der Wasserratte. Sie knabbern sich an den Fingernägeln und schreien unverständlichen Dinge. Das etwas beschränkte Gesicht eines Nagetiers lässt viele Menschen schnell ein ebenfalls beschränkt wirkendes „Süüüüß“ ausrufen. Man kann sich schwer entziehen, wenn ein Wesen so guckt, als müsse man dafür sorgen, das ihm nichts passiert. Meerschweine können mit ihrer herzerweichenden Dämlichkeit besonders Kinder immer wieder so geschickt einwickeln, dass selbst deren Eltern sich diesen kuschligen Viechern nicht entziehen können. Dabei sind Meerschweine meist nichts aufwendigeres als behaarte Fressschläuche, die vorn was reinstopfen, was sie hinten wieder verlieren, aufwandsreduzierte Bestandteile der Nahrungskette. Manchmal, wenn man auf den Straßen unvermittelt in das putzige Gesicht eines Nagers blickt, kann man sich einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber solch eines Tieres nicht erwehren, solange, bis sich das Tier umdreht und im Gully verschwindet, seinen langen runden Schwanz hinter sich herziehend. Dies ist der passende Moment, um sich ein bisschen zu ekeln. Es fällt mir schwer, die niedlichen Wasserratten, die auf dem Wasser liegend beinahe ganztägige Hygiene vollführen und sich an Stellen putzen, an die sie eigentlich nicht heranreichen dürften, aus derselben Familie stammen, wie die Kanalratten. Aber wie ich bereits im Falle der Pinguine erwähnte, kann man auf den sozialen Umgang seiner entfernten Verwandten häufig nur schlecht Einfluss nehmen.
Hier wäre meine Rundreise beendet, doch bevor ich das Oceanarium verlasse, setze ich mich in einer kleinen dunklen Nische noch einmal auf eine Bank und starre in die Tiefe des großen runden Beckens. Mein Blick verliert sich in der Tiefe des Wassers und der Versuch die andere Seite des Beckens zu erkennen scheitert. Erst als ein anderer Besucher mit Blitzlicht fotografiert, erahne ich die Ausmaße.
Hinter einem kleinen Felsen unmittelbar an der Scheibe hinter der ich sitze, schwebt ein dicker Barsch und blickt nachdenklich durch mich durch. Seine Lippen sind dick und hängen schwer herab, wie bei einem griesgrämigen alten Mann, der jeden Tag auf dem Fensterbrett lehnt und eine Welt betrachtet, die in erster Linie aus dem Pausenhof einer Hauptschule besteht. Der Fisch hat richtig schlechte Laune. Ich kann ihm das nicht verübeln, angesichts der üblen Dinge, die wir Menschen seinen Artgenossen gewohnheitsmäßig antun, obwohl er mit seinem Leben im Oceanarium das vergleichsweise große Los gezogen hat. Keine dreihundert Kilometer entfernt tauchen immer noch schwarze Ölklumpen aus der Meerestiefe auf. Noch ist die vor Galiziens Küste gesunkene “Prestige” nicht leer und über Jahre hinweg, wird sich die angestammte Heimat des übellaunigen Fisches vor meiner Nase nicht erholen. Aber auch an anderen Stellen der Welt, das haben mir die Ausstellungsexponate deutlich gezeigt, treibt der Mensch seinen Raubbau voran, hält sich nicht an Fangquoten, sorgt mit Schleppnetzen dafür, dass selbst der für die Gesundung der Bestände notwendige Nachwuchs aus dem Meer gefischt wird und zu Fischmehl verarbeitet wird.
Eines der Lieblingsspeisen der Portugiesen ist der Bacalao, der Stockfisch. Dabei handelt es sich um nichts anderes, als um den Kabeljau. Der schwimmt nicht vor der portugiesischen Küste herum, sondern tummelt sich normalerweise in der Nordsee, bzw. er würde sich tummeln, wenn die Bestände nicht bereits so arg dezimiert worden wäre, das selbst für die störrischen europäischen Fischer das Thema Fischereisperrzonen, wie sie bereits vor Florida und an der australischen Küste existieren, durchaus in den Bereich des Diskutierbaren rücken. Um eine Gesundung der Bestände bemerkbar herbeizuführen müsste allein die südliche Nordsee zu 40% in eine vorläufige Schutzzone mit absoluten Fangverbot umgewandelt werden. Doch wer soll das kontrollieren, wenn nicht die Fischer selbst. Entweder die Fangquoten werden gedrosselt oder der Kabeljau stirbt aus. Das Ergebnis für den portugiesischen Speiseplan ist zunächst dasselbe. Verzicht. Nur eine der beiden Möglichkeiten ist für immer.
Andererseits ist der Fisch nicht so blöd, wie er manchmal aussieht. Vor Sylt, wo der Meeresboden mit Findlingen aus der letzten Eiszeit vollgestreut ist, können Schleppnetze nicht ausgeworfen werden, weil sie zerreißen würden. Der Kabeljau hockt dort zwischen den Steinen und sieht lange nicht so griesgrämig aus, wie sein übellauniger Verwandter, der sich langsam wieder in die Mitte des Beckens zurückzieht.
Der Hai von vorhin oder einer der anderen Acht im Becken, dreht eine Runde und der Mantarochen kreuzt seinen Weg. Leicht wie Flügel bewegt er seine
Flossen, schwebt dicht über dem Meeresgrund. Es sieht aus, als winke er mir zu und ich verspreche ihm, dass ich ihn besuche, sobald ich wieder nach Lissabon komme.