Jeder Tag ist einmalig und etwas Besonderes. Das ist eine Allerweltsweisheit, keine Neuigkeit und auch keine übermäßige philosophische Hirnverrenkung. Man vergisst es nur so leicht im täglichen Einerlei. Aus diesem Grund hat der Mensch wohl den Urlaub erfunden. Er reist dabei aus seinem eigenen täglichen Einerlei weg und besucht Orte, die ihrem eigenen täglichen Einerlei verhaftet sind. Da er den dortigen Rhythmus nicht gewohnt ist, betrachtet er ihn als Abwechslung und sieht darin so etwas wie Exotik.
Für eine knappe Woche bin ich in die Exotik eines walisischen Hofes, irgendwo in Pembrokenshire, eingedrungen. Im alten Herrenhaus, das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und diverse Versuche von Fachwerk aufweist, wohnen die Besitzer. Das heißt, normalerweise wohnen sie dort. Doch derzeit sind die Besitzer, ein Ehepaar, das um die Vierzig ist, nicht im Land. Sie treiben sich für einige Monate in Vietnam herum. Sie lieben dieses exotische Land, meint der Vater, ein alter Herr um die siebzig. Er wohnt zur Zeit in diesem Haus, zusammen mit seiner Frau, einer Irin. Es ist ein altes Pärchen, mit einer interessanten Lebensgeschichte. Während er einst für den diplomatischen Dienst unterwegs war, in zahlreichen Ländern lebte, deren Sprachen erlernte und als wichtige Person etlichen Leuten sagen musste, was sie zu tun hatten, reiste seine Frau immer treu mit. Jetzt, wo die Pension ihre Haupteinnahmequelle ist, lebt er ruhig und lässt sich ohne zu murren, von seiner Frau sagen, was er zu tun hat.
Er kümmert sich rührend um das Gehöft und glaubt ein kleines Geheimnis zu haben, von dem seine Frau nichts weiß. Im Keller eines alten verfallen Schuppens besitzt er eine kleine Brauerei, wo er sich sein eigenes schwarzes Bier zapft.
Ich sehe ihn manchmal in seinem Auto sitzen, die Tür ist offen und das Radio an. Sein grauer Bart ist von gelben Bierschaumbar dekoriert. Er lächelt mir verschwörerisch zu und stellt das Glas unter den Sitz, während seine Frau aus dem Haus tritt und auf die Koppel zu schreitet. Sie schreitet tatsächlich. Ein grader Gang und ein gepflegtes Äußeres, blondiertes Haar und eine Spur zu viel Make-up; ganz die Frau eines ehemaligen Diplomaten der britischen Regierung und nicht die eines alten Schwarzbrauers. Etwas unnahbar zeigt sie sich, im Gegensatz zum alten Herren, der mir den Hof erklären will aber eigentümlicher weise nicht vom Schuppen wegkommt.
Der Hof ist groß und alt. Ländlich, natürlich, wir sind schließlich im flachen Hinterland von Wales. Hier ist alles auf die Viehzucht ausgerichtet und das war in Pembroke seit Jahrhunderten nicht anders. Wer keine Tiere hielt, verarbeitete deren Wolle. Wolle war eines der wenigen Güter Pembrokenshires, das etwas Arbeit und damit etwas Geld brachte. Wenig, aber immerhin, es reichte zum Leben.
Ein Langhaus steht auf dem Hof und ein altes Backhaus, beide aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert, ebenso das Haus, in dem ich untergebracht bin.
Die schiefen, durchhängenden Balken an der Decke der Wohnstube sind von der letzte Renovierung 1812. Ein Gußofen aus Finnland Model „Winterschreck“ steht in einer Ecke, mit Holz gefüllt, falls es kalt wird. Ich liebe diese britische Manie, Holzöfen in ihre Zimmer zu stellen und in Erwartung britischer Gemütlichkeit zünde ich das Holz an. Es war zu viel. Vorsorglich hatte der alte Herr das Holz im Ofen gestapelt, damit es weniger Dreck macht. Ich hätte etwas herausnehmen sollen. So bekomme ich eine sehr, sehr, sehr warme Wohnstube an einem ohnehin schönen warmen Augustabend.
An der Wand hängen zahlreiche Gerätschaften, die dem exotischen Wales etwas noch exotischeres geben. Es sind Mitbringsel der ersten Vietnamreise seines Sohnes. Ein einseitiges Instrument und die Hörner eines Wasserbüffels. Die Schränke sind viktorianisch, der Tisch thatscherianisch und die Kücheneinrichtung Ikea.
Im Obergeschoss befinden sich hinter knarrenden Türen knarrende Betten auf knarrenden Dielen. Da hier selten jemand nächtigt, erschrickt sich eine Spinne, die im Schrank wohnt. Zurecht! Ich nehme es ihr nicht übel, das sie im Haus lebt. Wir sind hier auf dem Land, aber ich ziehe es doch vor, sie für die Dauer meines Aufenthalts auszuquartieren.
Sicher ist sie empört, als sie aus dem Fenster fliegt.
Außer den beiden Diplomatenlegenden, gehören zum Hof noch zwei Hunde, Polly & Maggot. Das eine ist ein Wollhund, nicht größer als die Dinge, die meine Oma in ihrer Strickkiste hatte. Eine kleine Promenadenmischung aus allem, was sich anbot. Würde man ihn asiatisch anrichten, wäre der Teller halbvoll. Aber er ist anhänglich und streichelsüchtig. Der andere Hund ist ein Windhund. Eigentlich eine Rasse, die ich nicht ausstehen kann. Doch normalerweise habe ich nicht mehr mit Hunden zu tun, als die Straßenseite zu wechseln und deren Hinterlassenschaften aus den Schuhen zu kratzen
Hier ist es anders. Den ganzen Tag scharwenzeln sie um mich herum. Sie begleiten mich auf Spaziergängen und schauen dem Auto nach, wenn ich einen Ausflug ohne sie mache.
Einmal laufe ich zum nahe gelegenen Ort. Am Gutstor umgehen sie die Eisenbrücke. Sie führt über ein Rinnsal, besteht jedoch aus Eisenrohren, die mit größerem Abstand nebeneinander liegen. Schafe können sie mit ihren Hufen nicht überqueren, Polly und Maggot patschen einfach durch das Rinnsal. An einer Schafweide wird Maggot übermütig und versucht einem Schaf Angst zu machen, das zu dicht am Ausgang steht. Kurze Zeit später kommt eine Kuh angebummelt. Maggot kommt wieder zurück auf die sichere Seite. Polly, die Große, betrachtet die wilde Ausgelassenheit der Kleinen mit größter britischer Zurückhaltung. Sie steht neben mir und wirkt etwas blasiert.
Einmal in der Woche wird der Hof von den fahrenden Händlern der Region angesteuert. Ein Kleinbus mit Verkaufsklappe hupt über den Kies. Dienstags kommt Milli, the Milk. Milli bringt Käse und Milch und Eier, hält ein längeres Pläuschchen mit der Chefin und trollt sich bald Richtung Nachbarhof. Die Hunde betrachten Milli mit auf den Pfoten abgelegten Köpfen und nur schwach blinzendeln Augen.
Mittwochs liegen sie auch nicht anders vor dem Haus, wenn Ken, the Cake mit Brot und Backwaren kommen. Nur Donnerstags hüpfen sie schon Vormittags ausgelassen im Karree, wenn Melvin, the Meat den Hof besucht.
An einem Nachmittag sind plötzlich die Hunde verschwunden. Die beiden alten Herrschaften sind besorgt, glauben aber, dass sich die Hunde bald wieder anfinden werden. Der Hof ist groß und besitzt ein paar interessante Winkel, in denen man auch mal einen Hasen jagen kann. Das hält einen Hund schon mal etwas auf. Dann wird es dunkel und kein Hund ist wieder aufgetaucht. Ich mache noch einen Abendspaziergang in der unbegründeten Hoffnung irgendwas zu entdecken. Grad will ich wieder zu meiner Unterkunft gehen, als ich ein leises Wimmern höre. Ich kann es nicht orten. Also rufe ich vorsichtig: “Polly, Maggot?” Wieder das Wimmern. Es kommt aus der Richtung des Schuppens. Dieser steht an einem Hang. Oben ist eine Tür und weiter unten, an einer kleinen baufälligen Treppe die andere Tür, die, die zur Brauerei führt. Natürlich ist die Brauereitür verschlossen. Die obere Tür ist offen und mit etwas Glück finde ich sogar einen Lichtschalter. Polly und Maggot winseln. Ich sehe sie in dem kleinen Schacht, der sich an der unteren Tür befindet. Ich stehe allerdings oben, auf einer Art Veranda und schaue auf sie herunter. Sie können nicht hoch und ich kann von hier aus nicht herunter. Ich tröste sie ein bisschen und hole den alten Herren, der heute Nachmittag, als er sich seine Bierration einhalf, nicht bemerkt hatte, wie ihm seine beiden Hunde ihn gefolgt sein mussten.
Polly und Maggot feiern mich als Retter. Waren sie bisher mäßig anhänglich, so weichen sie mir jetzt überhaupt nicht mehr von der Seite. Der alte Herr lädt mich in seine Brauerei ein, was bisher noch niemanden passierte und seine Frau wird richtig zutraulich. Sie bringt mir Porree aus ihrem Garten. Nebenbei fragt sie, ob ich ihren Mann gesehen hätte?
„Vor ein paar Minuten!“
„Naja, wahrscheinlich ist er wieder an seinem geheimen Ort. Hoffentlich schließt er sich nicht mal selbst in seiner Brauerei ein.“
Die beiden Hunde meiden den Ort. Sie hampeln immer wieder vor meinen Füßen herum.
Als die Woche vorbei ist und ich abfahre, müssen die beiden Hunde angeleint werden. Gern wären sie dem exotischen Deutschen gefolgt. Aber der muss zurück in sein tägliches Einerlei.