Häufig hinterlässt die Erziehung Spuren beim Erzogenen. Das ist gut so, dann war es ja nicht umsonst. Auch rücksichtsvolles Fahrverhalten im Straßenverkehr ist eine Form des Verhaltens, das aber nur dann in die Erziehung eines jungen Menschen eingeht, wenn man als Kind häufig Insasse eines Autos ist. Man sieht dann wie die Eltern wild gestikulieren und auf den Sitzen herum hüpfen und man lernt Schimpfwörter, für die es sonst ein Satz heiße Ohren gibt … oder gab, als sowas noch nicht als Kindesmisshandlung galt. Auch der Umgang mit Alkohol im Zusammenhang mit dem Autofahren ist etwas, das man am besten im eigenen Elternhaus oder – wagen studiert. Ich kannte mal einen Vater, der seinen Sohn zu den selben Radrennen chauffierte, wie ich selbst. Nachwuchsrennen finden immer am zeitigen Morgen statt, bevor im späteren Verlauf die größeren und die Senioren antreten. Verköstigung der Gäste gehört gern zu den angenehmen Attraktionen am Rande dieser Sportereignisse. Selbstgebackener Kuchen, Kaffee, Grillfleisch und Bier finden sich auf den Parkplätzen, an denen der Nachwuchs in die Sportleibchen gezwängt werden und vorsorglich mit Dextroenergen und Bananen gefüttert werden. Besagter Vater blickte dabei gern auf die Uhr und rechnete. Jetzt ist Sieben. Start ist gegen Acht, dann fährt er bis halb Zehn. Danach braucht es noch eine Weile bis zur Wertung und Auswertung. Können wir frühestens um halb, dreiviertel Elf weg. Kann ich jetzt ein Bier trinken und gegen halb Neun noch eins, das ist um halb elf alles wieder draußen.
Was hat das mit Wales zu tun?
Nun. Ich hatte keinen autofahrenden Vater. Er liebte den Genuss von Bier und Schnaps. Genaugenommen, konnte er kaum ohne. Deshalb argumentierte er gegen den Fahrerlaubniserwerb und den Kauf eines Autos mit der Begründung: “Dann könnte ich ja nichts Trinken, wenn ich irgendwo hinfahre.” “Er trinkt doch nun mal so gern.” Unterstützte meine Mutter das Hobby meines Vaters? Das Erziehungsergebnis ist aber trotzdem ein deutliches: “Entweder möchtest du was trinken oder du willst Autofahren.”
Ich fahre Auto und manchmal trinke ich auch gern was. Aber beides zusammen gibt es für mich nicht. Keine Rechnung, wann man wieder fit ist, kein abschätzen der Promillegrenze. Entweder fahren oder Trinken.
Ja. Aber was hat das mit Wales zu tun?
Einmal habe ich das Gebot, vor dem Autofahren nichts zu trinken nicht eingehalten.
Ja. Aber was hat das mit Wales zu tun?
Das war in Wales. Und die machen da richtig gutes Bier.
Unser Gehöft liegt etwas abseits. Genau genommen befindet es sich irgendwo im Schafsland, am Rande von irgendwo, mit dem von Bäumen verstellten Blick auf nirgends. Alles ist schön grün, der Rasen ist so schön grün, die Bäume sind schön grün und das Wasser im sich kaum bewegenden Fließ ist voller grüner Entengrütze.
Um an Lebensmittel für das Ferienhaus zu kommen, muss man mit dem Auto in eine der Ortschaften im weiteren Umkreis fahren, nach St. Peter oder noch weiter und hoffen, dass dort ein Laden geöffnet hat. Um Abends mal in einen Pub zu gehen, braucht man nur in den kleinen Nachbarort Llangeler. Dazu bewegt man sich den Schotterweg bis zur nächsten Kurve, folgt dann dem Sandweg am Golfplatz vorbei bis zur Weggabelung, durchquert die matschige Forststraße des kleinen Wäldchens, bis man zur Straße kommt. Von da aus sind es nur noch drei Kilometer die fußweglose Landstraße entlang bis nach Llangeler und seinem freundlichen Pub, mit dem einladenden Namen Ffelinffowl. Ein kleiner Pub, auf dem man sich nach den 12 Kilometern wirklich freut. Aber wie kommt man nach einem feuchtfröhlichen Abend im Düstern durch Wald und Flur wieder zurück? Fahrräder sind keine vorhanden. Also Rechnen: Wir sind vier Erwachsene im Ferienhaus plus zwei heranwachsende Kinder zwischen 4 und 6 Jahren. Also nichts beaufsichtigungslos zurückzulassen. Heißt eine Person muss Abends im Haus bleiben. Bleiben Drei. Mit dem Auto zum Pub bedeutet, einer fährt, sitzt im Pub und beobachtet wahlweise Freundschaft oder eigenen Ehegatten bei Trinken und gemütlich werden und studiert die heimischen Trinkrituale, den Wirt und die Wandgestaltung, bevor er dann die singende Freundschaft/Familie wieder auf den Hof transportiert. Um einen gerechten Kreis zu schließen, müssten wir also viermal hin. Wir sind dann nur einmal gefahren, und haben uns stattdessen eine andere Lösung einfallen lassen.
An diesem Tag ziehe ich das Los des Fahrers. Ok. Ich kann das. Ich fahre uns und werde mich auch ganz bestimmt nicht langweilen. Es ist noch hell an diesem Augusttag, als ich über das Eisentor des Hofs hinter mir zufallen lassen. Der Weg ist trocken. Ein Eichelhäher krächzt, Schafe blöken, ein Trolley düst am Zaun des Golfclubs vorbei, bepackt mit abwesend grinsenden Herren in abscheulich karierten Hosen.
Ich fahre auf den kleinen Parkplatz vor dem Pub. Die Sonne verschwindet hinter den Bäumen, ein rostiger Autotransporter parkt mit einem Neuwagen auf dem Rücken in einer engen Einfahrt ein und verschwindet bereits nach dem zweiten Anlauf. Ein letzter Rasenmäher verstummt stotternd, zwei Hunde unterhalten sich von Dorfgrenze zu Dorfgrenze und die beiden Transporterfahrer kommen feixend auf die Pubtür zu geschlendert.
Wir drei, ein Freund, meine Herzdame und ich sitzen noch ein paar Minuten auf den mitgenommen aussehenden Holzbänken vor der Eingangstür und genießen den lauen Sommerabend. Als mich die erste Mücke erwischt, betreten wir den Pub.
Die Atmosphäre eines Gastronomiebetriebes kann man schon beim Betreten unterscheiden. In Restaurants wird meistens etwas leiser gesprochen, man hört Besteck auf Tellern klappern und Musik zweifelhaften Geschmacks säuselt aus der Decke. Eine Kneipe, die bereits eine Weile offen hat und in der sich genügend Erwachsene befinden, die Wissen, warum sie hier drin sind, weist einen ganz anderen Klang auf. Da jeder was zu sagen hat und nicht warten kann es auch zu tun und sich sein vermeintlicher Gesprächspartner, der allerdings auch nur einen eigenen Monolog führt, ebenfalls zu Wort meldet, klingt es wie in einem Kindergarten, nur mit tieferen Stimmen. Gelegentlich ergänzt Gelächter das Durcheinander oder ein lautes: “Genau!”. Hier ist es ganz ähnlich, nur das die Geräusche aus dem walisischen Singsang mit dem typischen Lispeln besteht.
Neben der akustischen Erkenntnis, sich in einer Kneipe zu befinden, liefert auch die olfaktorische Komponente deutliche Hinweise in diese Richtung. Pommesschwaden schleichen sich aus der Tür zur Küche, es darf geraucht werden (wir schreiben das Jahr 1999) und vergossenes Bier hinterlässt in den Holztischen ein dauerhaftes Parfüm, auch wenn gelbe Tischdecken das Gröbste verhindern sollen. Es ist erstaunlich hell im Innern, die Wand in Eiergelb getüncht, der Neubautresen eine Mischung aus rustikalem Großbritannien und Ikea. Bestens nachempfundender royaler Stil, aber gut abwischbar. Im Regal hinter dem Wirt stapeln sich Biergläser und Whiskyflaschen, Scotch natürlich, irischer Whisky und ein paar heimische Selbstbrenner. Selbstverständlich kein Bourbon.
Getrunken wird hier ein original walisisches Bier. Das Felinfoel – das Bier des roten Drachen. Während sich meine beiden Begleiter ein Pint und dann noch ein Pint einverleiben, trinke ich Wasser. Der Wirt zieht eine Augenbraue hoch, als ich mein drittes Glas bestelle. Es ist eingermaßen stickig im Raum. Aus Neugier probiere ich vom Glas meiner Frau. Mein Freund meint, er habe auf dem Herweg nicht ein einziges Auto ausgemacht und es würde ja ein Bier nicht gegen die geltende Alkoholobergrenze verstoßen, die hier bei 0,8 Promille recht großzügig ausfällt. Kurze Zeit später werde ich weich und pfeife dem Wirt zu, dass ich jetzt auch ein Bier will.
Das Bier des roten Drachen schmeckt hervorragend, besitzt farblich einen deutlichen Stich ins rötliche und löscht meinen Durst auf nachhaltigere Weise als das Wasser. Gern würde ich mehr davon trinken, doch eins ist für meine Verhältnisse mehr als genug. Im oberen Regalfach hinter dem Tresen stehen Flaschen und Krüge, darunter eine Zweiliter-Plasteflasche mit dem Wappen des Felinfoelbieres. Nach einer kurzen Diskussion mit dem Wirt, füllt er mir diese Flasche mit Bier und wir können befriedigt wieder auf unser Gehöft fahren.
Ich bin mit reduzierter Geschwindigkeit unterwegs. Die Sonne ist längst weg. Am Ende des Ortes biege ich auf den kleinen Weg durch den Wald und entlang des Zaunes vom Golfplatz. Auf halber Strecke bemerke ich, dass mir irgendetwas Großes entgegenkommt, das kein Licht besitzt. Es brummt dramatisch und ich denke zuerst erschreckt an einen Millitäreinsatz. Links befindet sich der ausgefahrene Waldweg, rechts etwas Wiese und dann der Zaun. Trotz des Linksfahrgebots auf der Insel entscheide ich mich, nach rechts auszuweichen. Das Gefährt erweist sich als Traktor. Es fährt nicht besonders schnell, aber auch nicht besonders geradeaus. Ich halte an. Der Traktor tuckert gemächlich an uns heran. Vom hohen Sitz winkt freundlich ein zerknautschter Bauer mit einer Bierbüchse herüber. Er murmelt etwas auf walisisch zu uns herunter.
“Sorry?” frage ich.
“Mächtiger Verkehr heute auf dieser Straße” erwidert er auf Englisch. “Vorhin kam schon einer mit nem Fahrrad hier lang. Ohne Licht.” Dann grüßt er nochmal kurz und tuckert weiter. Vielleicht will er ja noch in den Pub.
Ich weiß nicht, wie ich mit mehr als einem Pint Bier im Kopf durch dieses Waldstückchen gekommen wäre. Jedenfalls fahre ich noch vorsichtiger weiter, als ohnehin schon. Schließlich wurde ich ja deutlich vor dem hohen Verkehrsaufkommen gewarnt. Bis zum Hof begegne ich nur einen Fuchs. Und auf dem Hof liegen Polly und Maggot längst auf ihren Hundenasen in ihren Körbchen.
Die gefüllte Felinfoelflasche machen wir zu Viert vor dem Kamin nieder. Noch lange Jahre habe ich mit dieser Flasche Bier aus der nahegelegenen Kneipe in meiner Straße nach Hause geholt, bis eine ungeschickte Hilfskraft am Tresen vom Café Mirbach in Berlin Weissensee (mögen ihre Finger runzelig und gelb werden) das schöne Fläschchen ungeschickt aus den Händen gleiten ließ und diese handfeste Erinnerung an einen walisischen Pub zerstörte.