Verkehrsmittel, wie Züge oder Flugzeuge, sind heute praktisch und möglichst unbequem, anonym und weitgehend kommunikationshemmend. Wenn man die Nachtzüge betrachtet, eine metallische Ausgeburt zweckmäßiger Funktionalität ohne Herz, dann denkt man automatisch an Japans Kabinenhotels. Wer bereits versucht hat, in den zusammenlegbaren Schrankkoffern des DB-Nachtzuges zu schlafen, weiß wovon ich rede. Es ist völlig ausgeschlossen nach solch einer Nachtfahrt ausgeruht am Ziel anzukommen.
Dabei galt das Reisen mit dem Zug früher als schick und abenteuerlich zugleich. Landschaften flogen vorüber, der neugierige Mensch konnte das durchfahrene Land in sich aufnehmen mit entspannt hochgelegten Füßen oder in den Restaurantabteilen genüsslich speisend mit wildfremden Menschen über deren Reiseziel plaudern. Am Bahndamm standen Menschen die winkten, das Geräusch der Schrankensignale, die im Vorbeifahren ins Abteil läuteten, bleibt eine akustische Erinnerung für den Rest meines Lebens.In einer Zeit, in der Bahnfahren noch den Geruch der Dampflokomotiven trug, machte sich der Autor Paul Theroux, seiner Rastlosigkeit hörig, auf eine lange Reise. Er wollte soweit mit dem Zug nach Osten fahren, bis der Osten zu Ende ist und er umkehren müsste, um auf einer nördlicheren Route heimzukehren. Das war Anfang der 70’ger Jahre und kam einem Wagnis gleich, das sich mit dem von Phileas Fogg in Jules Vernes Roman „In 80 Tagen um die Welt“ vergleichen ließe.
Doch schon der Orient-Express von Paris nach Istanbul verhieß nicht mehr den Komfort, den er in den Legenden besaß. Besonders ein alter englischer Militär, der bereits in den zwanziger Jahren mit dem Orient-Express fuhr, bemängelte dies missbilligend. Im Vergleich zu manch weiterer Bahnfahrt auf Theroux‘ Strecke war dieser erste Zug allerdings noch üppig ausgestattet. Auf den ersten Stationen knüpft Theroux Bekanntschaften zu seinen Mitreisenden. Ein Abteilinsasse geht verloren, weil er auf einem Bahnhof nicht rechtzeitig wieder zugestiegen ist. Der Mann heißt Duffel und jede Gefahr im Verlauf der Reise den Zug zu verpassen, setzt Theroux in die Bezeichnung „geduffelt werden“. „Kommen Sie rechtzeitig, sie wollen doch nicht geduffelt werden.“Die Reisenden im Orient-Express fahren meist aus Geschäftsgründen mit dem Zug oder aus reiner Entspannung oder aus Flugangst. Kaum lässt er Istanbul hinter sich, lernt er andere Reisengründe kennen, die den Menschen auf die Strecke zwingen. Hier kann man billig lange Strecken überwinden, Verwandte am anderen Ende der Türkei besuchen. Der Komfort ist zwar vergleichsweise gering, doch gibt es Staffelungen in drei Klassen. Unter Zuhilfenahme von Bakschisch lässt sich sogar die Reisequalität erhöhen. In ganz Asien sitzt er in Zügen, die häufig von den Kolonialmächten übrig geblieben sind. Manche besitzen noch den kolonialen Luxus, besonders, wenn Theroux im Geschäftswaggon eines gesellschaftlich hochrangigen Menschen fahren darf. Andere sind so heruntergekommen, dass er für die Reise Teil der ärmsten Bevölkerung wird. Die Ansichten die er vor den Fenstern seiner Abteile zu sehen bekommt, wechseln zwischen idyllischen Postkartenmotiven und erschreckender Verwahrlosung hin und her. Häufig ist eines Teil des anderen. An den Schienensträngen zum Gemeinschaftskacken aufgereihte Dorfbewohner, die ungerührt unter den Blicken der Vorbeireisenden ihr Geschäft verrichten zählen genauso dazu, wie die nahezu unbefleckte Natur im steilen Hochland, durchzogen von Viadukten, die seinen Zug in schwindelerregenden Höhen über Schluchten führt und an Wasserfällen vorbei, die Hunderte Meter in die Tiefe stürzen.
Vietnam im letzten Kriegsjahr, gehört zu den zwiespältigsten Eindrücken. Einerseits, ein wunderbares Land voller Naturschönheiten, die Theroux an die Grenze seiner Ausdrucksmöglichkeit bringt, andererseits ein Land, das sich zwischen amerikaergebenem Süden und kommunistischen Norden zerreißt. Theroux, der Amerikaner, genießt die Sicherheit, der man sich als Mitglied einer Macht hingibt, die glaubt, längst gewonnen zu haben. Die in Teile gesprengte Bahnlinie singt ein anderes Lied und wenige Monate später ist auch von der Siegerpose der Amerikaner nichts mehr zu spüren. Die Menschen in Vietnam, wirken zwar freundlich, sind aber verschlossen. Er kann sich ihnen nicht nähern.Von der klebrigen, fensterscheibenlosen Klasse der vietnamesischen Staatsbahn wechselt er in die sterile Zuglandschaft Japans. Dort sitzt er in abgekapselten Hochgeschwindigkeitszeitblasen mit Haltezeiten unter einer Minute. Hochtechnisiert ist der Shinkansen-Express der Inbegriff des praktischen Massentransports. Keine Außengeräusche, ewig gleiches Licht im Waggon. Theroux ist nicht mal vom japanischen Land begeistert, dass sich manchmal zwischen den riesigen Stadtungetümen auftut. Alles was er aus dem Fenster sieht, könnte genauso gut im Fernsehen laufen. Doch dann findet sich etwas Abwechslung – unerhörter Weise hat der Zug Verspätung. Theroux versucht in einem Büro der Japanischen Bahn eine Erklärung für das unerhörte Vorkommen zu bekommen. Zwischen gymnastischen Lockerungsübungen der Mitarbeiter hört er leider einen ziemlich belanglosen Grund. Langsam wandelt sich seine Reiselust in Langeweile.
Als er in Russland anlangt, um mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa zu fahren, beginnt die Reise zur Tortur zu werden. Nach vier Monate auf Asiens Schienen wünscht er sich nichts mehr, als endlich heimzukommen. Doch Russland ist groß und die Grenzen noch nicht so einfach zu überqueren, wie Theroux erfahren muss. Seine rastlose Reisefreude entpuppt sich als Heimatflucht.Theroux‘ großes Eisenbahnabenteuer ist eine der frühen Reisen des Autors, der sich der langen Zugreise später erneut nicht entziehen kann und von Boston aus bis nach Feuerland zuckelt (Der alte Patagonienexpress). Theroux zählt neben Bruce Chatwin zu den großen Reiseschriftstellern des letzten Jahrhunderts und überdies ist er auch im 21. Jahrhundert noch aktiv und mitteilsam. Er ist ein empfindlicher Beobachter, der nicht analysierend fremdes Leben betrachtet, um es zu sezieren, sondern den all die Eindrücke prägen. Er hat eine dünne Haut und lässt sich von den Umständen beeinflussen. Seine Eindrücke mögen launisch erscheinen und die Betrachtungsweisen subjektiv. Doch dadurch entsagt er sich der überheblichen Art derjenigen, die die Fremde für ein allseits informiert werden wollendes Fernsehpublikum zurechtkauen.