Der erste Eindruck, den ich von Stockholm bekomme, ist geprägt von seiner Lautstärke. Die S-Bahn hört man meilenweit, der durch die Innenstadt flutende Autoverkehr ist beängstigend schnell, Reisebusse dröhnen, Touristen schnattern oder johlen, je nach erreichter Getränkefüllmenge, durch die Altstadtgassen. Aber Stockholm besitzt große Mengen Wasser, lauter breite Wasserarme, die die auf Inseln gebaute Stadtteile aufbrechen und eine beruhigende Wirkung ausüben. Und einer Stadt, die über viel Wasser verfügt, verzeiht man den Krach und die Hektik eher, als einer Stadt, die gerade mal einen eingemauerten Flusslauf besitzt und dafür Unmengen an Beton. Die vielen Brücken, die die Inseln verbinden, wirken, als habe man im Laufe der Jahrhunderte die Stadt allmählich zusammen geklammert. Von einer Insel zu anderen ist man schnell zu Fuß, oder per Fähre. Stockholm verfügt über eine seltene Mischung aus Lebendigkeit und Gelassenheit. Die Stadt ist geschäftig, vielerorts hektisch, aber sie wirkt nicht gestresst.
Wir haben unser Quartier auf einem kleinen Schiff gefunden, das vor der Södermalm, einer der vielen Inseln der Stadt, liegt. Es wurde Anfang der 20er Jahren gebaut und befuhr, den Götakanal, als rege Bautätigkeit an Kanälen und Ufern für viel Verkehr sorgte. Als es in den 50er Jahren abgewrackt werden sollte, kaufte ein Deutscher das Schiff und später noch ein weiteres und arbeitete es zu einer Herberge um. Das Hotel besteht aus zwei Schiffen, eigentlich aus dreien, wenn man den kleinen roten Kahn dazu rechnet, der ganz am Ende der Leine schaukelt. Das Hotel heißt “Das Rote Boot”. Unser Domizil befindet sich im Oberdeck des zweiten Schiffes, das mit seinen von außen begehbaren Stiegen wie das Flusskreuzfahrtschiff in Agatha Christi Roman “Tod auf dem Nil” wirkt. Die Kabine, die wir beziehen ist so klein, wie eine Schiffskabine nun mal ist. Vor der Kabinentür steht das Steuerrad und allerhand nautisches Gerät, wie beispielsweise ein altes Echolot, das noch mit Papieraufzeichnung arbeitete. Das Zimmer ist geschmackvoll mit Seemanskitsch eingerichtet. Ein Bild von einem Yachtrennen im Jahr 1871 ziert die Wand über einem kleinen Eckschreibtisch. Das Klofenster ist ein Bullauge aus poliertem Messing, der separate Waschraum so eng, das man sich kaum drehen kann. Allerdings wirkt er wesentlich geräumiger, denn die Wände des Klos sind ist ringherum verspiegelt. Gnädigerweise aber erst ab Brusthöhe. Laut des an der Eingangstür der Kabinen angebrachtem Schildes, hat hier dereinst der Navigator gewohnt. Das Kabinenfenster, das sich leider nicht öffnen lässt, geht zu Straße raus. Die ist hier recht breit und wird auf der gegenüberliegenden Seite von einer Felswand gesäumt. Das bietet dem Schall der Straße genug Raum sich auszubreiten und wieder zurück zu kommen.
Ich mache mich etwas frisch im Bad, als ich rhythmisches Klatschen höre. Es hört nicht auf und auch sonst hat die Geräuschkulisse etwas von einer großen rauschenden Welle. Ich beschließe nachzusehen. Auf einem Stromverteiler sitzt eine Frau und klatscht aufmunternd einem Strom von Läufern, die sie umspülen, wie eine Fluss, Mut zu. Ein Volkslauf findet vor meinem Hotelfenster statt. Tausende Läufer bewegen sich durch die Straße, alle haben das selbe lila Laufshirt an. “Folksam” steht auf den Startnummern. Es dauert eine halbe Stunde, bis der Strom der angenmeldeten Läufer allmählich versiegt und sich die Menge der Läufer auf die ohnehin hohe Dichte von Joggern herunteregelt, die hier Tag für Tag an den Inselufern entlang spurten.
Einige Meter weiter hinter unserem Schiff führt eine schmale Treppe den Fels hinauf. Sie endet direkt in einer Bar mit Aussicht auf Stockholm endet. Die Bar heißt Torkel, so wie die Straße, die hier hinaufführt. Mit der Sprache der Schweden tue ich mich ja ohnehin etwas schwer. Torkel halte ich er für eine schwer kontrollierbare Aktivität. Welche Bedeutung das Wort hier besitzt, weiß ich nicht. Ikea würde mit diesem Wort vielleicht eine Wäscheschleuder benennen oder einen Sammelbehälter für leere Bierflaschen. Die Bar hat eine übersichtliche Speisekarte und da hier jeder Kellner Englisch spricht, landen schnell ein paar Kleinigkeiten auf dem Tisch. Tintenfischringe, Tomatensalat, frittierte Süßkartoffeln. Außerdem in Sojaöl gebeizter Thunfisch, eigentlich roh. Eine Art Sushi, würde ich meinen. Thunfisch war nie mein Lieblingsfisch. Aber diese Darbietung hat Geschmack. Auch das Bier geht runter wie Öl. Es ist ein Pale Ale aus einer kleinen Handcraft Brauerei. Der Ort, an dem ich das Bier in der Hand halte, ist passend gewählt. Die kleine Bar befindet sich am Rand eines riesigen Backsteinkomplexes. Früher war das eine Brauerei, die Münchner Bierbrauerei hieß. Jetzt befinden sich allerhand Kunstprojekte und Veranstaltungsorte auf dem Gelände. Es ist ein Ort, wie die Berliner Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg. Aus einem kleinen Anbau scheppert ein Schlagzeug und gleich darauf rummelt ein tiefer Bass dazu. Eine helle E-Gitarre klirrt und eine Stimme gesellt sich dazu. Nach kurzem Überlegen erkenne ich eine alte Stevie Wonder Nummer vom “Superstition” Album wieder.
Hinter der Kulturbrauerei führt auf der einen Seite ein kleiner Pfad durch einen Park wieder zur Straße hinab. Auf der anderen Seite, hinterm Torkel kann man auch noch etwas die Straße aufwärts schreiten und gelangt dann über eine Brücke auf einen schmalen Steg, der oberhalb des Felsen entlang führt. Eine ganz wunderbare Aussicht über Stockholm belohnt den Besucher und Bewohner hier oben. Die Södermalm Insel scheint nicht so extrem vom Tourismus befallen zu sein. Hier wird in alten und neuen Wohnungen gewohnt. Die Kneipen und Bars und grünen Wiesen werden vom meist jungen Stockholmer gefüllt. Viel Schwedisch hört man hier, gelegentlich Englisch, selten Deutsch. Am Ende des Bergpfades steht eine architektonische Meisterleistung. Es handelt sich dabei um ein großes, an den Fels gehängtes Haus, in dem sich ganz offensichtlich teure Appartments befinden. Weiter unten, da wo das Haus auf der Straße aufschlägt, führt ein extrem aufwendig und stilvoll gemauerter Haupteingang mit vielen Bögen ins Innere. Ein paar Büros und Geschäftsniederlassungen scheinen sich im unteren Bereich aufzuhalten. Das aus vielen Spitzen und Türmen bestehende Dach säuft in einem tiefen, satten, fast samtigen Schwarzton ab. Keine Abnutzung, keine Wetterschäden, nur tiefstes Schwarz.
Bergab geht es über Kopfsteinpflastergassen vorbei an Häuserfronten, die wie gemalt wirken oder einfach nur überraschend sauber sind. Ein leicht gebogenes Gässchen wird von Häusern gesäumt, die irgendwann im späten 18.Jahrhundert gebaut wurden. Viel modernisierte und gepflegte Altbausubstanz ist in Stockholm zu finden. Hier ist selten was Großflächig kaputt gegangen. Brände konnten auf Grund des Inselcharakters der Stadt nicht übergreifen. Kriege wüteten hier nicht in dem Maße, wie im übrigen Europa. Im Zweiten Weltkrieg war Schweden weitgehend neutral. Lediglich Architekten und Brückeningeneure legten in der Stadt Hand an und ließen schon mal das eine oder andere historische Gebäude verschwinden.
Inzwischen geht die Sonne hinter der schwedischen Hauptstadt unter, was angesichts der Tatsache, das nächste Woche Mitsommernacht gefeiert wird, sehr spät ist. Unser Boot torkelt leicht. Ich hoffe, es liegt an der leichten Dünung und nicht am schwedischen Bier.
Stockholm Södermalm
