Douglas Adams formulierte in seinem großen Essay über das Leben, das er als Reisebuch unter dem Titel: Die Letzten Ihrer Art” wenige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod schrieb, einen Satz über Neuseeland: „Würde man ganz Norwegen nehmen, es ein bisschen durchkauen und alle Elche und Rentiere rausschütteln, es dann zehntausend Meilen weit um die Welt schleudern und mit Vögeln auffüllen, wäre das Zeitverschwendung, weil es ganz offensichtlich schon jemand anders getan hat.“ Adams spielte auf Fjordland an, eine Region im Süden Neuseelands, die er seinerzeit besuchte. Tatsächlich hat wohl jemand bereits kräftig geschüttelt und gekaut, denn Elche sind auch hier in Norwegen keine zu sehen. Aber die Fjorde sind da, groß, Ehrfucht einflößend und mit den aus den Wassern aufsteigenden Berghängen von einer Majestät, die einen den Mund verschließt oder offen stehen lässt – je nach Neigung. Ich bin ja nicht schwer zu beeindrucken, aber ehrlich, ich bin schwer beeindruckt angesichts dieser kurzer Distanzen, in denen man von Meereshöhe Null auf 1000 Meter hochschnellen muss.
Wir haben einige Kilometer in den Reifen und mussten bereits mehrfach anhalten, um angesichts des aus den hohen grünen Bergen herabrauschenden Wassers zahlreicher Wasserfälle mal den Fotoapparat aus dem Halfter zu ziehen und dabei “Oh!” und “Ah” zu sagen.
Zwischendurch ist die Landschaft allerdings für eine ganze Weile ganz verschwunden. Denn die vielen eng im Weg stehenden Berge sind nicht so einfach zu umrunden, sondern müssen mittels langer Tunnel durchquert werden. Der Laerdaltunnel ist mit 24 Kilometern ein ziemlich langer dunkler Schlauch, besitzt aber mit seinen großzügigen Rettungs- und Haltenischen, die schon einen Kilometer vorher in hellem Blau leuchten, abwechslungsreiche Momente und setzt damit beruhigende Akzente. Der Gudvanger-Tunnel dagegen benötigt nur 10 Kilometer, die durch einen schlecht beleuteten und schlecht belüfteten Stollen führen, um zu erscheinen, als führe man hinab in die Minen von Moria. Über den spärlichen Leuchten an der Decke glaube ich Orks hängen zu sehen. Wehe dem, der hier anhalten muss. Aber hinter jedem Tunnel versöhnt die grüne Landschaft den Reisenden.
Überhaupt erinnern mich viele Täler und Aussichten an Tolkiens Mittelerde. Da stehen kleine Hütten mit auf dem Dach wachsenden Rasen, die die Hoffnung nähren, in ihrem Inneren Hobbits zu begegnen. Selbst Bäume leben auf den Dächern, wie junge Ents. Wasserfälle rauschen von den grün bewachsenen Bergen herab, wie im elbischen Bruchtal.

Ich betrachte an einem obligatorisch zu begutachtenden Wasserfall die Karte und sehe versöhnlich den letzten fünfzig Kilometern bis zu unserem nächsten Urlaubsort entgegen. Eine gut ausgebaute Straße führt zielstrebig auf Vik I Sogn zu. Lediglich ein paar Schlenker scheint sie zu machen. An einem Kreisverkehr, der geradeaus nach Bergen führt, biegen ich rechts ab.
Unter einer Brücke poltern ein paar Stromschnellen zu Tal. Am Ufer instruiert ein Reiseleiter ein paar Wildwasserkanuten. Die Straße führt gemächlich bergauf. Ein Skicenter wirbt für seine attraktiven Abfahren. Rege Bautätigkeit verraten die Investition in die neue Saison. Ein neues, bisher noch in hässlichem Rohbau dastehendes Gebäude, soll mal ein Hotel werden. Die Bungalows und Skihütten, die lange fertig sind, stehen in Reihen übereinander am Hang. Holzverkleidete Hütten mit wucherndem Gras auf dem Dach.

Es sieht aus wie in Hobbingen und ich denke schon wieder an Mittelerde. Myrkdalen heißt das Skigebiet. Es ist relativ neu und mit 22 Pisten sehr gut ausgebaut. Schneesicher ist es im Winter immer, denn hier oben gibt es selbst im Sommer reichlich Gelegenheit um bei einer kurzen Schneeballschlacht in Shorts ums Auto zu tollen.

Die Straße führt geradeaus durch ein wunderschönes unbebautes Tal, in dem abgestürzte Felsbrocken die Wiesen bedecken. Rechts erheben sich steile grüne Wände, links strömt ein kräftiger Bach durchs Gelände. Schafe und Kühe stehen im feuchten Gras. Ein paar Schafe trotten mit ihren Jungen über die Straße. Am Ende des Tals ist eine grüne Wand an der ein weiterer gigantischer Wasserfall etliche Meter tosend ins Tal fällt. “Guck ma, da hinten, der Wasserfall, toll wat”, rufe ich begeistert meiner navigierenden Herzdame zu. “Den kannste dir gleich noch näher angucken. Da führt die Straße lang.” Ich erkenne, wie sich ein steiles Zick-Zack-Band an der Wand hinaufwindet. Ein Bus bewegt sich in unnormalem Winkel dieses Band hinauf. “Müssen wir da rauf?” frage ich. “Ja”. “Iss nich dein ernst”. “Doch. Gibt hier nur die eine Straße”.

Der Zick-Zack-Kurs ist so steil, wie bei einer Bergankunft der Tour de France. Auf der einen Seite kommt man dem Wasserfall so nah, dass sein staubendes Wasser einen leichten Schleier auf die Frontscheibe wirft. Ein LKW unterbricht seine Abfahrt, bleibt stehen und lässt mehrere Wohnwagen vorbei. Ich muss ebenfalls in der Kurve halten und komme dann nur wieder voran, indem ich eine Menge Kies hinter mir in die Luft wirbele. Gut, dass hinter mir niemand steht. Irgendwann ist dieser Anstieg vorbei. Jetzt windet sich die Straße einen Pass hinauf, der beidseitig von Schneeresten begleitet wird. Berge säumen in einiger Entfernung die Strecke. Kleine Häuser stehen vereinzelt herum. Vor einigen weht die norwegische Flagge, vor anderen nicht. Auf einer Seite der Straße fällt der Hang so steil ab, dass ich mein ohnehin moderates Tempo weiter senke. Leitplanken sind selten, Felsabbrüche häufiger. Ein paar Stauseeen binden die Kraft des emsig ablaufenden Bergwassers.

Einige Kilometer weiter tut sich neben der Straße ein Gletschersee auf.
Seine Oberfläche ist weitgehend mit Eis bedeckt. Die Schneeflecken haben sich zu größeren Flächen zusammengefunden. Den Horizont begrenzen hohe, weiß leuchtende Berge. Dazwischen muss der Fjord liegen. Ich suche auf meinem Taschentelefon die Funktion des Höhenmessers. Als ich ihn finde, fahre ich gerade auf einen Tunnel zu, einem Tunnel kurz vor dem Gipfel des Berges. 1000 Meter zeigt der Höhenmesser. Da der Fjord ein Meeresarm ist und auf Meeresniveau liegt, heißt das wohl, ich muss mich auf eine rasante Abfahrt vorbereiten. Noch führt der Tunnel leicht bergauf. Auf der Hälfte des Tunnels befindet sich ein Tor, das bei starkem Regen oder bei Schneeschmelze geschlossen wird. Ein Tor im Berg. Moria, denke ich schon wieder in Mittelerdegedanken versunken. Nachdem ich durch die Schneewüsten des Nebelgebirges gefahren bin.

Als der Tunnel endet, stehe ich in der Sonne. Ein Parkplatz lädt ein, Pause zu machen, was wir dankbar annehmen. Kein Mensch weit und breit, nur eine Schafsmutter und zwei Lämmer, die sofort auf uns zu stolpern und scharf darauf sind, die Schnauze gestreichelt zu bekommen. Wir beschäftigen uns eine Weile mit ihnen und fahren dann weiter. Es rollt gut abwärts. Irgendwann muss ich hinter einem nach Gummi stinkendem Wohnmobil abbremsen. Dann erscheint eine Aussichtsgaststätte am Wegesrand. Der Blick hinab zu Tal ist atemberaubend. Blaues Wasser zwischen hohen grünen Felswänden überragt von schneebedeckten Gipfeln. Und im grünen Tal eine Ortschaft mit drei Kirchtumspitzen. Das muss Auenland sein. Was für einn kitschiger Anblick. Einfach traumhaft.

Der Ort am Fjord heißt Vik und dort befindet sich unser Ferienhaus. Wir stürzen uns hinab, vorbei an frisch bestellten Feldern, grünen Wiesen, kleinen Holzhäusern und fünfhundert Bushaltestellen und kommen schließlich im Ort an. Dort halten wir an einem Coop-Markt und gehen das Nötigste einkaufen. Wurst, Brot, Obst, Gemüse, Käse, was zu Knappern, eine Flasche Cider und zwei Flaschen Bier. Der Kassierer zieht alles wortlos über den Scanner. Die Flasche Cider und die beiden Flaschen Bier nimmt er beiseite und stellt sie hinter sich ab.
“In Norway”, erklärt er, “no Alcohol on Saturday after six o’clock”. Dann zeigt er auf einen handgeschriebenen Zettel, auf dem exakt das selbe steht. Ich schaue auf die Uhr. Es ist 18:02 Uhr. Und das soll die glücklichste Nation der Welt sein?
Wir lassen die Getränke stehen und fahren, am Fjord entlang, zu unserem Haus.