“In weichen Bögen erheben sich die runden Kuppen der umliegenden Berge um das geschwungene Ufer des einladenden Titisees, der sich sanft ins fruchtbare Tal einschmiegt.”
So oder ähnlich könnte sich ein Reiseführer äußern, der diesem Hochtal mit seiner zwei Quadratkilometer großen Gletscherpfütze weitere Touristenschwärme zuführen möchte.

Titisee ist die Tourismusklebefalle des Südschwarzwaldes. Hier kommen sie alle hin, die Reisebusse, die Wanderververeine. Hätte man die Möglichkeit, man würde Kreuzfahrtschiffe hier vor Anker gehen lassen, damit deren Insassen sich in den Shops mit lebenswichtigen Kuckucksuhren versorgen lassen könnten. Das Ufer des Sees am Ort säumen vor allem Hotels, wenig einladende Restaurants, Souvenirshops und Verbotsschilder aller Art: “Betreten und Beschwimmen des Sees verboten”, “Privatstrand”, “Boote nur beim Bootsverleih”, “Kurpark – Radfahren verboten”. Auch immer wieder gern gesehen, die Aufforderung, Hundeexkremente in einer Tüte zu entsorgen. Das ist generell ein guter Ansatz. Aber bunter Kacketüten in den Wald zu werfen, damit die Scheiße nicht offen herumliegt, erweckt den Anschein, als hätte man die Aufgabenstellung nicht wirklich verstanden. Vielleicht ist das aber auch die Essenz der Kehrwoche: Bis vor die eigene Tür muss alles perfekt sein.
Vom Bahnhofsparkplatz aus führt eine schmale Straße hinab in den Ort. Kaum erreicht man das Kerngebiet von Titisee, glaubt man sich in einer Schwarzwaldvariante eines Micky-Maus-Parkes wieder zu finden. Der Ort wird von Souvenirläden, Bedarfsgüterdealern für Wasserspielzeuge, Klamottenläden jenseits von Geschmack und Tragbarkeit, sowie Würstchenbuden, Cafés und Restaurants mit schwäbisch-internationaler Küche dominiert. Die Standardsprachen in der Fußgängerzone sind Russisch, Japanisch, Französisch und Balkanesk. Aus den geöffneten Verkaufshöhlen gongeln Kuckuckse und Volksmusik. Authentischer kann man den Schwarzwald wohl kaum jemanden vorspielen.
Wir suchen uns einen Wanderweg entlang des Sees und werden am Ortsende fündig. Ein Wanderschild verweist auf einen Rundweg, der auf einem asphaltierten Sträßchen beginnt. Links erhebt sich eine Böschung, die eine Bahnlinie trägt. Darüber dröhnen Lastwagen auf der Landstraße, die sich langsam den Berg hinauf windet. Rechts soll der See sein. Aber zunächst hat ein größeres Privatgrundstück dafür gesorgt, dass man nicht über die Hecke auf Privatland schaut. Erst einige hundert Meter später verflacht die Hecke und wir erhaschen einen Blick auf den See. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man ein paar nobel wirkende Häuser stehen. Den See selbst säumen hier allerorts besagte Verbotsschilder.
Die Straße endet auf einem Caravan-Campingplatz. Der ausgewiesene Wanderweg führt mitten hindurch. Erst am Ende der Seespitze wird es ein bisschen idyllischer. Ein altes Handwerk- und Technikmuseum lädt zum Besuchen ein. Leider nicht heute.
Wir überqueren die Straße. Hier windet sich eine Zufahrt hinauf zu einem Feuerwehrtagungshotel. Vor der Tür stehen rote Einsatzfahrzeuge aus allen schwäbischen Regionen. Fahnen wehen im auffrischenden Wind.


Dann führt der Wanderweg steil nach oben über eine Weide und in den Wald. Ruhe kehrt ein. Der Wald rauscht, von Fern hört man das schwerfällige Brummen der LKWs, die sich auf der gegenüberliegenden Seeseite den Berg hochkämpfen. Der Wald ist dunkel, fast schwarz. Die Wege gut begehbar. Nur selten sieht man im Unterholz eine bunte Tüte mit Hundekot aufleuchten. Wanderer sieht dagegen selten. Die wenigen, die uns begegnen, werden von uns freundlich gegrüßt. Antwort bekommen wir nur von einer Gruppe Franzosen, die durch den Wald schnattern. Der Funktionswäsche tragenden heimische Extremhiker mit zwei Wanderstöcken und kampfschmerzverzogenem Unterkiefer vermeidet Gruß- und Blickkontakt. Und ich dachte immer, der Berliner wäre der Stiesel Deutschlands.
Ein einsamer Fotograf grüßt dann doch aus dem Unterholz, der gerade damit beschäftigt ist eine Sumpfdotterblume abzulichten, die er inflagranti dabei erwischt hat, schön und bewegungslos und leuchtend Gelb im Schwarzwald herumzustehen und für Farbe zu sorgen.
Wieder im Ort angekommen, entscheiden wir uns für ein deftiges Mittagsmahl in er Gaststätte, die mit schwäbischer, griechischer und italienischer Küche wirbt. Und mit Schnitzeln aller Art. Der Kellner ist lässig, fast gelangweilt, aber aufmerksam. Wir wählen exotische Schnitzelkreationen: Schnitzel Tessin und Schnitzel Hawaii. Mein Schnitzel Tessiner Art ist mit Schinken überbacken und von Champignons verziert. Sein geschmacklicher Hauptbestandteil ist der Inhalt einer Salztüte. Vielleicht war das Fleisch ja nicht mehr so frisch.

Auch hier ist das Publikum so international, wie die Küche. Vier französische Schüler bestellen am Tresen eine – in Worten: eine – Pizza zum Mitnehmen. Der Chefstratege des Quartetts nimmt sich dann den Gewürzständer vom Bord, bekippt die frisch gebackene Kreation mit den Zutaten, derer er habhaft werden kann und macht daraus eine Pizza mit Allem.
Hinter uns sitzt eine Großfamilie. Das kleinste Kind im Kreis ist etwa zwei Jahre alt. Eigentlich ideales Restaurantquietschealter. Aber da sich alle abwechselnd um das Kleine bemühen und es bespaßen, hat der Bub keine Chance unleidlich zu werden. Er wird irgendwann nur müde und schläft im mitgebrachten Kinderwagen ein.
Am anderen Ende des Gastraumes schnattern die Franzosen, denen wir beim Wandern begegnet sind. Eine Kleinstfamilie mit Sohn und britischem Akzent fotografiert ihr Essen. Die Frau hört ihrem Mann aufmerksam beim Reden zu und beißt sich dabei auf die konzentriert heraushängende Zunge.
Ich brauche noch was zu trinken, um den Salzgehalt in meinem Körper zu verdünnen, und beschließe den Laden zu verlassen, damit ich die Wasserflasche aus meinem Rucksack austrinken kann. Weder Kuckucksuhrenausstellung noch Schwarzwälderkirschangebote können uns davon überzeugen, länger am Titisee zu weilen. Mit überhöhter Geschwindigkeit verlassen wir den Ort.
So ganz ungefährlich ist es am Titisee ja auch sonst nicht, wie ein Blick in die Badischen Zeitung aus dem Jahr 2014 eröffnet:
“Wie erst jetzt bekannt wurde lieferten sich vier Frauen am Freitagnachmittag
in Titisee eine veritable Schlägerei. Gegen 15 Uhr betraten sie die hiesige
„Hochschwarzwälder-Tafel“. Nach einem anfänglichen Disput verbaler Art –
die Beteiligten beleidigten einander übelst –
traf man sich am Ausgang des Gebäudes wieder.
Dort wurde einer älteren Dame zunächst absichtlich ein Fußtritt in den
Fersenbereich versetzt. Deshalb entbrannten neue Verbalentgleisungen
mit beleidigendem Inhalt. Schließlich beschuldigen sich zwei Kontrahentinnen,
die jeweilige Gegnerin sei an den Haaren zu Boden gezogen worden.
Am Boden jedenfalls wurde eine Dame mit einem Schuh am Kopf attackiert,
ihre Gegnerin im Gesicht gekratzt. Die ältere Dame, welche zuvor den Fußtritt verabreicht bekam,
half ihrer Begleiterin, vermutlich in Nothilfe, indem sie der Schuh-Schlägerin
mit der Krücke auf den Rücken schlug.
Weitere Ermittlungen müssen Klarheit in die gegenseitigen Beschuldigungen bringen. Zwei Damen wurden leicht verletzt und nach erfolgter Behandlung ärztlicherseits entlassen.”
Wanderer, der Du den Titisee besuchst: nehme dich in Acht!