„Volare – Oooo-ho“
————Domenico Modugno
„Viterbo- Oooo- no“
————Ich
Warum Viterbo nie in einem Schlager von Caterina Valente auftauchte, wird mir sehr schnell klar, als ich in der mittelgroßen Stadt nördlich von Rom Zwischenhalt mache. Wörter wie “Drecksnest”” und “Lumpengesindel” sind nicht schlagerkompatibel.
Viterbo ist eine alte Stadt, das sieht man sogar den neueren Bauten an. Italien, das Land, in dem man in Jahrhunderte verfallende Ruinen alter Gemäuer aus Antike, Renaissance und Klassizismus gleichermaßen bewundern kann und dabei anzuerkennen vergisst, dass der Italiener auch knapp fünfzig Jahre alte Wohnhäuser in wesentlich kürzerer Zeit in den selben Zustand zu versetzen vermag.
Irgendwann haben die Päpste hier für ein paar Jahre ihr Quartier aufgeschlagen. In Rom war gerade nichts los. Außerdem lockte der Ort damit, den Päpsten, die hier gerne Konzile abhielten damit, ihnen einen netten Palast zu bauen. Wer kann da schon Nein sagen. Und weil jeder gern mal Papst in Viterbo sein wollte, gelangten in knapp dreißig Jahren gleich acht Päpste in den Genuß, in Viterbo zu residieren.

Dabei lag in dieser Zeit eine Phase von 1000 Tagen, in den kein Papst regierte, weil die anwesenden Bischöfe nicht wussten, wen sie wählen sollten. Erst nachdem die Bischofskonferenz die Kardinäle bei Wasser und Brot zu mehr Zügigkeit in der Wahl zwang, suchten sie schneller nach einem Mann, der das Amt bekommen sollte. Der war gerade nicht da, pilgerte im Heiligen Land herum und erfuhr erst nach seiner Rückkehr von seinem Glück.Nach dreißig Jahren zog es die Kardinäle und den Papst wieder nach Rom. So recht wollten sich wohl die Kirchenchefs nicht mehr mit dem viterbösen Menschenschlag vertragen. Die bekannteste Person Viterbos ist eine literarische. Vitus von Viterbo spielte eine zentrale Rolle als erzkatholischer Fiesling in der Geschichte um die Kinder des Grals von Peter Berling, ein Mittelalterzyklus von wahrlich epischen Ausmaß, brillant erzählt und fundiert recherchiert. Warum Berling den windigen Intriganten Vitus ausgerechnet aus Viterbo kommen ließ, ist mir nach Betrachtung der Stadt nicht mehr ganz unklar.
Ich rolle über ausgeschlagene Asphaltstraßen ins Zentrum des Ortes, der größer ist, als ich erwartet hatte. Unser Hotel steht am Bahnhof. Es ist ein riesiger Kasten, kantig, mit wasserstockigen Flecken am Putz und er besitzt die größte Mobilfunkantennensammlung, die ich mit der Ausnahme im Gelände einer Fremdenlegionsausbildungsstätte in Südfrankreich je gesehen habe.
Das Hotelpersonal ist zunächst freundlich. Eine ältere Rezeptionistin geht mit einer Auszubildenden die Einweisung des Gastes durch. Wir bekommen ein Zimmer im dritten Stock zugewiesen, dem einzigen Stockwerk, das aktuell vermietet zu sein scheint. Es sind eigentlich zwei Zimmer. Geräumig, jeweils ein Sofa und ein Schreibtisch mit Glasplatte. Die Sofas sind bereits etwas durchgesessen und ein paar notdürftig gereinigte Stellen, lassen auf aktiven Besuch schließen.
Das Bad ist geputzt, aber nicht rein. Kalkige Stellen an den Ausflüssen und Hähnen verweisen auch hier auf die Glanzzeit der Räumlichkeiten in der Vergangenheit. Der Klodeckel wird von einer Zierbinde aus Papier, mit dem Aufdruck: “Garantiert Hygienisch” geschmückt. Davon möchte ich gern Kopien anfertigen und auf die Autobahntoiletten an italienischen Raststätten anbringen, denen der Begriff Hygiene noch nie begegnet ist. Aber das Wort stammt ja auch aus dem Griechischen.
Die Geräusche der Stadt werden durch dichte Fenster gedämpft, wie ich bemerke, als ich eins kurz öffne. Die Fenster gefallen mir.
Die Viterboer Altstadt wird von einer alten Stadtmauer umgeben. Das Innern der Altstadt mit seinen Kirchen, alten Gebäuden, Tordurchfahrten und Gassen ist als verkehrsberuhigt ausgewiesen. Das heißt hier im Klartext, hier kacheln die Autos – SUV’s, Kleinwagen, Transporter nur im gemäßigten Tempo durch. Die Fußgänger dürfen deshalb trotzdem nicht mit allzu viel Rücksicht rechnen. Man bremst zwar, wenn es eng wird, aber man hält nicht. Autohupen sind ein deutliches Indiz für ein Tempo in der Stadt, das man sich wünscht, aber nicht überall bekommt.
Ruhig ist es nur in den Kirchen. Mittelgroße Gebrauchskirchen, in denen sich viel Gemeindeleben abspielt. Das Gebet und die Beichte spielen hier noch eine funktionale Rolle im Leben der Menschen.

Im alten Papstpalast sind Floristinnen gerade dabei das ganze Kirchenschiff mit frischen Blumen auszuschmücken: Am morgigen Samstag wird geheiratet. Und diese Zeremonie nehmen die Leute hier noch richtig ernst.
In einer anderen Kirche liegt die Heilige Rosa aufgebahrt. Das Mädchen ist knapp 19-jährig Mitte des 13. Jahrhunderts gestorben und befindet sich in einem Stadium der Mumifizierung, bei dem es sich auch heute noch lohnt, mittels Röntgenuntersuchung zu erforschen, ob sich in ihren Inneren Organen noch Spuren von Restblähungen finden lassen. Rosa hat ein paar Wunder verrichtet. Das sicher nachhaltigste Wunder soll gewesen sein, Brot in Rosen zu verwandeln. Bei der schlichten Nahrungsmittelversorgung im frühen Mittelalter, wird man angesichts solcher Tat bestimmt vor Vergnügen hintenüber gekippt sein.
Das öffentliche Erscheinungsbild in Viterbo steckt voller Widersprüche.
Hier in Viterbo machen sich die Leute durchaus schick, bevor sie sich mit einem Eis neben eine überlaufende Mülltonne setzen. Sie betreiben hier schicke Läden mit Handytaschen im Erdgeschoß von alten Bürgerhäusern, von deren Fassaden der Putz bröckelt. Eine H&M-Filiale fällt sofort ins Auge, weil sie den alten Bau, in den sie sich eingewanzt hat, ziemlich verloren aussehen lässt. Läden für teure Designerklamotten ducken sich in alten Gemäuern, an deren Wänden Papieranzeigen erst kürzlich Verstorbener kleben.
Die Gassen und kleinen Sträßchen wirken ungepflegt. Der Steinboden fleckig und speckig. Papier und Plasteteile lungern herum und versuchen den Fußgänger ins Bein zu beißen.
Ich kenne Orte in Frankreich, die ähnlich strukturiert sind. Altstadtgassen mit modernem Einzelhandel. Allerdings habe ich dort nie so viel Müll gesehen und schon gar nicht so viel Gleichgültigkeit im Erscheinungsbild des Städtchens. Was mir in Frankreich charmant und pittoresk vorkommt, wirkt hier ranzig und schäbig. Auch da ist nicht alles sauber. Die Ranzigkeit französischer Orte wirkt im Gegensatz zu Viterbo liebevoll gepflegt.
Greifen hier wieder einmal nur die eigenen Vorurteile? Ich reise nicht nur, um mal aus Berlin rauszukommen, sondern auch um die mitgebrachten Klischees und Vorurteile zu überprüfen und sie gegebenenfalls abzulegen. Bedauerlich finde ich es immer dann, wenn diese bestätigt werden.
Schauen wir uns also mal in anderer Weise um, weniger fixiert auf das eigene Urteil. Offener für andere Lebensgewohnheiten.

An einem Platz gackern ein paar blonde Finninen herum, die sich mit ausladenden Sonnenhüten in ein Straßencafé setzen. Bei einigen hat die südliche Sonne bereits gute Arbeit geleistet. Natürlich sind sie froh über die Sonne, von der sie ja eigentlich im Sommer viel mehr haben, als die Südländer. Immerhin geht sie dort stellenweise gar nicht erst unter. Dafür ist dort am Nordpol natürlich für ein halbes Jahr das Licht weg. Wenige Meter weiter beobachte ein junger Mann in einer Gasse, der in Sichtweite von Spaziergängern an eine Häuserwand uriniert. Auf einem kleinen Platz bewacht die Polizei eine gerade im Aufbau befindliche Veranstaltung einer Partei, die die aktuelle Bürgermeisterwahl in Viterbo lautstark beeinflussen möchte. Ob sie liberal, links, demokratisch oder rechtsgerichtet ist kann ich nicht erkennen. Angesichts der enormen zahl an rechtskonservativen und nationalistischen Parteien hier im Land wäre eine Wette darauf aber ein kalkulierbares Risiko. Ein Mann versucht uns mit einem Werbezettel zu einer Stadtführung verurteilen. Wir lehnen dankend ab und schauen auf einen Stadtplan. Als wir uns wieder umdrehen, versucht es der selbe Typ noch einmal. Wir befinden uns an der Piazza della Morte. Ich will genauso wenig einen italienischen Führer, wie ich einen deutschen will. Mir reichen die eigenen Vorurteile.
Das Eis aus einer kleinen Eisdiele ist sehr schmackhaft. Es ist bereits das zweite Eis in Italien und bisher haben sie in dieser Hinsicht noch nichts falsch gemacht. Wir sitzen auf einer Eisenbank vor dem Geschäft und schauen hinüber zu einem Laden, der allerhand nutzlosen Tinnef vertreibt. Plasterevolver, Handytaschen, etc. Da dafür gerade kein Bedarf herrscht, sitzen die beiden tätowierten Vollbart tragenden Verkäufer vor dem Eingang und spielen wahlweise mit dem Taschentelefon oder ihren Muskeln, grüßen Vorbeigehende und schäkern mit Mädels. Eine der jungen Damen, die sich anschäkern lässt ist extrem gut gebaut und befindet sich in einem Dress, der ganz offensichtlich absichtlich eine Nummer zu klein gewählt wurde. Ich habe Schwierigkeiten, meinen Blick auf das Türschild gegenüber der Eisdiele zu fixieren. Ein Psychotherapeut arbeitet da, wie ich beiläufig lese.
Der Hunger, der trotz Eis allmählich aufkommt, kann noch nicht gestillt werden. Die meisten Restaurants öffnen erst gegen sieben oder acht Uhr abends.
Also wandern wir zunächst zurück zum Hotel, vorbei am Bahnhofsvorplatz, auf dem um diese Zeit mehrere deutlichst als afrikanische Einwanderer zu erkennende afrikanische Einwander stehen, die alle teilnahmslos in den Himmel gucken und manchmal beiläufig Passanten ansprechen. Ein Polizeiauto steht in der Nähe. Einer der Polizisten guckt in sein Telefon, ein anderer steht breitbeinig herum und tut so, als wäre er für aggressiv Herumlungernde eine Bedrohung. In klischeehafter Spießermanie greife ich schützend auf mein Portemonnaie.
Als wir einige Zeit später wieder an dieser Stelle entlang kommen, um in der Innenstadt doch noch ein geöffnetes Restaurant zu finden, stehen die selben Leute immer noch herum und versuchen so auffällig wie möglich unauffällig auszusehen. Die Polizei ist inzwischen abgezogen. Wir entdecken eine größerer Schar ausgelassener Uniformierter vor einer Pizzeria, wo sie lautstark etwas zu feiern haben.
Für uns findet sich ein sardisches Restaurant in einer Seitengasse nahe der Piazza della Morte. Neben der Tür präsentieren sich wieder zahllose teure Tote auf schulheftgroßen Anschlägen. Es ist im Stil eines Kellergewölbes eingerichtet und gut besucht. Bei der Essensbestellung tun wir uns mangels Sprachkenntnissen etwas schwer und bestellen drauflos, ohne zu wissen was Was ist. Die Bedienung erscheint im Doppelpack am Tisch, weil sie der Zeit ihr Bestellkonzept revolutionieren und auf Tablet umstellen. E-Tablet, nicht Serviertablett. Das klappt schon recht gut, muss aber noch vom zweiten Servicepersonalbeisteher kontrolliert werden. In einer der Kellnerinnen erkenne ich die junge Frau im zu engen Dress, auf die ich bereits am Nachmittag vor der Eisdiele mit heraushängender Zunge gestarrt habe. (Das Eis war aber auch wirklich lecker.) Man muss im Restaurant auch was fürs Auge präsentieren. Das graue Fleisch auf meinem Teller schmeckt zwar halbwegs, ist aber bei Weitem kein Hingucker.
Zurück im Hotel bleiben die Fenster zu. Das Viterböse Nachtleben ist laut. Es wird gerufen, diskutiert und mit Rollern gefahren. Die Liebe zum Zweitakter ist auch hier deutlich ausgeprägt.
Das Frühstück im Hotel kann ich nicht weiter empfehlen. Der Kaffee köchelt auf Dauerflamme in einer Großküchenkanne vor sich hin. Der Rest ist lieblos zusammengetragen. Verpennt räumt eine Kellnerin mit dem Gesichtsausdruck einer schlecht bezahlten Serviceangestellten leeres Geschirr weg.
Der Portier an der Rezeption, dem ich meinen Zahlungswunsch offeriere – ebenfalls eine schwer erlernte Floskel auf Italienisch – guckt nur kurz und bellt: “Numero della Camera”. Die dreistellige Zahl kann ich nicht aussprechen. Ich halte den Schlüssel hoch.
Auf dem Parkplatz stelle ich erleichtert fest, dass unser Auto noch alle vier Räder besitzt. Ich will hier weg und fahre prompt verkehrt in eine Einbahnstraße. Hupen, Kopfschütteln und beschämtes Wenden meinerseits bringen mich aber schließlich auf die Autobahn Richtung Napoli.
Trotzdem mir kein Viterborianer irgendetwas getan hat, ist Viterbo keine Stadt, die ich dringend ein zweites Mal sehen muss.
