„Ist das Kunst oder kann das weg?“
————Mike Krüger
Der Gegenwartsmensch benötigt Spezialeffekte, um ans Ende seines Fassungsvermögens zu gelangen.
Wer im Theater und Filmbereich arbeitet, weiß, wie schwierig es ist, heute jemanden zum Staunen zu bringen. Ganze Industriezweige beschäftigen sich damit, neue Möglichkeiten zu erfinden, den Menschen ein »Oho« von den Lippen zu nötigen. Die »Showtech«, die Messe für Bühnen- und Veranstaltungstechnik, die jedes Jahr stattfindet, ist eins dieser Wallfahrtsorte der Spezialeffektanwender. Dort werden die neuesten technischen Wunderwaffen im Kampf gegen das Gähnen des Zuschauers zur Schau gestellt.
»Bühnenverwandlungen – jetzt noch unsichtbarer!« »Unglaubliche Lasershoweffekte – jetzt noch unglaublicher!« »Neuestes Lightshow-Equipment – jetzt noch neuer!«
Alles schön und gut und teuer und in Zeiten der abnehmenden Kulturfinanzierung nur noch für investitionsstarke Privatveranstalter erschwinglich oder für hochsubvensionierte Opernhäuser. Doch meist regiert in öffentlichen Häusern das Sparschwein, dort benötigt man das Geld eher für die hohen Gagen.
Doch es gab Zeiten, da sah alles anders aus, finanziell und technisch. Zum Beispiel im Barock. Damals ließ sich das Publikum mit schlauen Einfällen eher beeindrucken, auch wenn es insgesamt undisziplinierter im Zuschauerraum zuging, als heute. Spezialeffekte hatten damals ganz andere Ausmaße und hielten den barocken Theaterbesucher bei Laune und manchmal vom Essen ab.
In Cesky Krumlow kann man auf eine Zeitreise gehen. Der Besucher muss nur das Barocktheater der Stadt betreten und findet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder. Also setzen sie sich ihre weiße Lockenperücke auf, pudern sie sich und kleben sie sich einen Schönheitsfleck an die Wange. Lassen sie sich von ihren Bediensteten die entsprechende Garderobe auf den Leib ziehen und treten sie durch den Haupteingang dieses in seiner Art einmaligen barocken Theatergebäudes, das es in Europa noch zu besichtigen gibt.
Es riecht ein wenig feucht und muffig und sobald wir die Tür hinter uns schließen und die warme Luft des Tages ausschließen, wird es auch etwas kühl. Spärlich ist das Licht an den Säulen, die die Emporen tragen. Lassen wir nun die Jahrhunderte hinter uns und auch unser Frösteln.
Wir schreiben das Jahr 1770. Ein Abend in Böhmisch Krumau verspricht zu einem gesellschaftlichen Ereignis zu werden. Besonders, wenn es gilt eine Theateraufführung zu besuchen. Im Theater ist alles hell erleuchtet. Es riecht nach Wachs. An den Säulen hängen zahlreiche Kerzen, auf der Bühnenrampe ebenfalls. Das Publikum sitzt auf Bänken, die einen guten halben Meter über dem Boden auf einem Podium stehen. Damit erreichen sie jenes erhöhte Niveau, welches auch die Bühne besitzt. Niemand muss nach oben schauen, außer das Orchester, das selbstverständlich auf der tieferen Ebene agiert. Der Vorhang, ein heller Prospekt, auf dem eine auf einer Wolke schwebenden Harfenspielerin abgebildet ist, verdeckt noch das Bühnenbild und er wird es solange verdecken, bis sich der Fürst Joseph Adam von Schwarzenberg in seiner Loge zeigt. Ich wandle durch das Publikum und grüße den Hofstaat, der seinerseits zurückgrüßt. Manierlich, geziert, arrogant. Der ganze Adel ist versammelt und wartet auf Belustigung.
Ein Singspiel steht auf dem Programm. Ein Neueres. Hoffentlich lässt es uns der Hausherr bis zum Ende betrachten. Manchmal, wenn seiner Exzellenz ein Spiel nicht gefällt, wenn er müde vom Herumherrschaften ist oder wenn er von oben zulange auf das Dekolletee einer Hofdame geglotzt und nun dringend unaufschiebbare Geschäfte zu erledigen hat, dann zieht er laut den Vorhang seiner Loge zu und geht. Dem Publikum ist es in solch einem Falle strengstens untersagt zu klatschen und den Schauspielern wird nun auch kein Lohn gezahlt. Dabei liegt es manchmal wirklich nicht an den Spielleuten. Zuweilen jedoch, wenn der Herr satt und auch sonst rundum zufrieden ist, vergibt er schon mal ein hohes Lob, das mit einem »wahrlich vortrefflich gespielt« jeden mittellosen Schauspieler in höchste Verzückung geraten lässt.
Das Bühnenportal sieht schmuck aus. Viele Verzierungen, gewundene Blumen, Masken lassen sich erkennen und doch, es ist keine teure und schwere Stuckarbeit, sondern bemalte Leinwand, die von der Saaldecke herab hängt und die Portalseiten schmückt. Es sind hervorragende Malerarbeiten, die auf eine hohe künstlerische Fertigkeit schließen lassen. Der Fürst hat eigens zwei Wiener Theatermaler kommen lassen, die die Innenausstattung so plastisch wie möglich gestalteten.
Der Vorhang hebt sich.
Zu sehen ist ein Marktplatz, der sich weit in den Hintergrund zieht. Rechts und links stehen die Häuser der Bürgerschaft, von denen jeweils eine Seitenansicht zu erkennen ist. Sie säumen den Marktplatz und werden nach hinten immer kleiner. Vorn stehen zwei erwachsene Schauspieler und erzählen etwas. Im Bühnenhintergrund steht ein Marketenderwagen, der mir bis zum Bauchnabel reicht. Ein paar Kinder in Erwachsenenkleidern stehen dort. Der Effekt ist erstaunlich. Es sieht aus, als wären sie Erwachsene, die weit im Hintergrund stehen. Die Perspektive ist unglaublich. Die Prinzipien des barocken Illusionismus werden hier perfekt beherrscht.
Es wird ein wenig gesungen. Dann ist das erste Bild vorbei und das Bühnenbild wird umgebaut.
Wie von Geisterhand wechselt die Dekoration. Hinter jeder Seitenbühnendekoration steht ein Mensch und löscht die kleinen Kerzen, die die dahinter stehende Dekoration anleuchtet. Während sich die gerade benötigte Dekorationswand auf die Bühne bewegt, verschwindet die abgespielte in die Seitenbühnen.
Am Bühnenhimmel entschwinden Soffitten, die die Deckendekoration ausmachten. Andere Stoffe senken sich und auch das Hinterbühnengemälde wird gewechselt. Innerhalb von 12 Sekunden befinde ich mich in einem Bühnenbild, das ein Gefängnis darstellen soll. Rechts und links in den Wänden vermutet man die schmachtenden Gefangenen. Der Hintergrundprospekt stellt einen Treppengang dar, der so plastisch wirkt, dass man sich darin zu verirren fürchtet.
Ich mogle mich am Orchestergraben vorbei. Rechts neben dem Orchestereingang ist eine schmale und sehr niedrige Holztür. Sie gibt nur schwer nach und quietscht verräterisch. Als ich sie hinter mir schließe, befinde ich mich auf der anderen Seite der Theaterwelt. Hier wird Theater gemacht. Vor mir befindet sich die Unterbühne. Kräftige Männer bedienen hier die hölzerne Bühnentechnik.
Die Seitendekorationen sind auf Holzrahmen gespannt. Diese Rahmen enden unter der Bühne. Die Rahmen selbst stehen auf schmalen Schienen. An den Außenseiten und an den Innenseiten der jeweiligen Dekorationsrahmen befinden sich Ösen. Will man eine Seitendekoration bewegen hängt man, je nach Richtung, in die der Rahmen gezogen werden soll, ein Hanfseil ein. Soll es von der Bühne weggezogen werden, hängen die Techniker das Seil an den Rahmen, das über eine Umlenkrolle geleitet, hinter der Dekoration lagert. Soll die Dekoration auf die Bühne, wird ein Seil auf der Innenseite eingehangen. Alles Seile sind auf einer großen Holzwinde in der Mitte des Raumes gewickelt. Mit einer einzigen Drehbewegung werden die Dekorationen gleichzeitig auf bzw. von der Bühne gezogen. Nach dem Umbau werden die Leinen gelöst und wieder auf die Länge zurückgedreht, die man für den nächsten Umbau benötigt.
Auf der Bühne soll ein Teufel erscheinen. Vier Versenkungen stehen dem Theater zur Verfügung. Auf Bühnenniveau wird eine Klappe geöffnet, der Herr Teufel stellt sich auf die dem Bühnenboden ähnelnde Fahrstuhlklappe im Keller und drei kräftige Herren laden Steingewichte auf eine Zugvorrichtung. Wenn sie das Gewicht des Teufels erreicht haben, das er selbstverständlich exakt und ohne Eitelkeiten anzugeben hat, entfernen ein Techniker die Verriegelung und der Teufel erscheint auf der Bühne. Soll er wieder verschwinden, so geschieht dies auf umgekehrte Weise.
Im vorderen Bereich der Bühne sitzt die Souffleuse. Sie kann ihr kleines Kabäuschen nur über die Unterbühne erreichen. Dann sitzt sie in dieser Kammer still, wie auf einem kleinen Klohäuschen. Sie kann sich sogar von innen einschließen. Doch auch von außen ist die Kabine zu verriegeln. Ungünstigen Falls kann sie nicht wieder weg.
Ich steige eine Leiter im Seitenbühnenbereich hinauf und gelange auf den Schnür- und Rollenboden. Hier oben werden alle hängenden Dekorationen bewegt. Die Soffitten und Vorhänge sind auf lange Latten gebunden. Diese wiederum hängen an mehreren Seilen, die über Rollen zur Seite geführt werden, wo man sie über eine Gewinderolle auf- oder abwickelt. Es ist eine mühselige Arbeit, die Luft ist stickig, weil alle warme Luft nach oben zieht. Auch führt hier ein Kamin durch, der bei Bedarf geheizt wird. Schließlich will der Adel nicht frieren.
Es gibt allerhand Mittelchen, mit denen die einfachsten Spezialeffekte erzeugt werden können. Eine Windmaschine z.B.. Ein Holzrad mit einer Kurbel. Über das Holzrad ist grobes Leinenzeug gespannt. Dreht man das Rad, reibt es sich am Stoff. Das Geräusch klingt nach Sturm. Ähnlich funktioniert eine Regenmaschine. Hier ist es ein Holzrad, in dessen Innern sich Sand und kleine Steinchen befinden.
Durch das Dach des Theaters führt ein Gang, der dem jeweiligen Schlossherren ermöglicht, vom Schloss ins Theater zu gelangen oder wahlweise durch das Theater hindurch direkt in den Schlossgarten. Unbehelligt von Pöbel oder lästigem Hofvolk. Im Schloss endet dieser Gang im Maskensaal, dem ich mich ein anderes Mal zuwenden will. Ich schleiche mich wieder durchs Publikum hindurch, beobachte die tuntigen Herren beim Luftfächeln. Sie betrachten das Geschehen mit einiger Arroganz im Gegensatz zu ihren weiblichen Begleiterinnen, die häufig ein »Ah« und Oh« ausrufen, was nicht immer auf das Geschehen auf der Bühne zurückzuführen ist.
Mit welchen einfachen technischen Mitteln einst und eigentlich auch heute noch Theater möglich ist, ist wahrlich faszinierend. Doch heute ist schwere Theatertechnik das angesagte Mittel und alles verlässt sich darauf, dass diese funktioniert. Und häufig wissen die Intendanten und Regisseure nicht einmal, welche Möglichkeiten diese Technik bietet. Zum einen ist das technisch Verständniss vieler Kunsthausbetreiber ganauso arg begrenzt, wie deren kreativer Einfallsreichtum, zum anderen wissen sie ihre begrenzten Fähigkeiten nicht einmal mit den vorhandenen Mitteln zu strecken. Manchmal ist es allein das Beharren auf den Begriff »Kunst«, der die Kreativität tötet. Großartige Kulissenmalerei wird immer seltener, denn vielerorts werden nur noch Blechungetüme aufgetürmt, Videos bemüht und mit minimalistischen Mitteln Bedeutungsloses dargestellt. Das ist bei einigen Theatern durchaus angemessen, da auch die Stücke immer bedeutungsloser werden. Provokantes Theater, das keinen mehr provoziert. Tanztheater wird vielerorts nur noch nackt aufgeführt und wenn sich ein Schauspieler geniert, auf der Bühne an sich herumzuspielen, verläuft seine Besetzungsliste in Zukunft etwas flacher.
Im Barocktheater sollten die Singspiele Lust auf derbes Tun am Hofe mit- und untereinander hervorlocken. In heutigen Theatern, die sich für zeitgemäß und anspruchsvoll halten, treiben es die Akteure gleich selbst auf der Bühne. Titten und Ärsche, Blut und Gekröse. Nackte Haut und Spezialeffekte aus der Dose. Verachtet wird das Publikum, das sich ob diesen Tuns jedoch seltsamerweise ernstgenommen fühlt. Es gilt im ernsthaften Theater, wie auch im Kabarett, je ärger die Beleidigung, desto größer die Wertschätzung.
Ich glaube, ich bin wieder in der Gegenwart angekommen. Die junge Frau, die die Führung durchs Theater begleitend kommentierte, bedankt sich für den Besuch dieser »Biene«, wie sie sich mit ihrem tschechischen Akzent ausdrückt.
Wer möchte, der kann das Barocktheater in Cesky Krumlow besuchen. Führungen gibt es jede Stunde. Man bezahlt sie an der zentralen Museumskasse. Dort kann man auch die Sprache buchen, in der die Führung stattfinden soll. Tschechisch, Deutsch und Englisch werden regelmäßig angeboten. Es lohnt sich.
Leider ist das Fotografieren für private Zwecke im Schlosstheater nicht erlaubt und ein bekennender Spießer, wie ich, hält sich respektvoll daran. Bilder und Erklärungen gibt es im Netz aber ein paar. Empfehlenswert für Freunde des Barocktheaters ist die Seite: http://www.baroquetheatres.com/ auf der neben dem Theater in Krumlow auch noch ein paar weitere altehrwürdige Theater zu erkunden sind.