Ein Schloss im Spreewald
Mehr über einen Winteraufenthalt im Schloss Lübbenau lesen Sie hier:
Frost auf den Fließen
Das Schlosshotel
Schlosspark mit Gräfin
Abends im Schloss
Frühstück mit Leinöl
Moorwanderung
Frost auf den Fließen
16. Februar 2017
Wo kommen nur die vielen lauten Menschenmassen her, die an einem warmen Sommertag durch die Fließe und Kanäle des Spreewalds geflößt werden und wohin sind sie entschwunden, wenn man an einem Februartag bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt den verwaisten Spreewaldhafen Lübbenau besucht.
Der Zeitpunkt für einen Ausflug in den Spreewald ist vielleicht nicht ideal gewählt, aber was soll’s. Resturlaub und ein paar spontane Tage in Malerklamotten machen es notwendig andere Luft zu atmen, als die von Leim und Berliner Alltagsgerüchen geschwängerte. Der Spreewald ist ohnehin immer erste Wahl, wenn Stadtflucht unabdingbar wird.
Jetzt im Februar ist es nicht nur ruhig im Spreewald, sondern fast wie ausgestorben. Ein paar Waldpfleger kämmen sich zwar mit Kettensägen durchs Unterholz, aber das halten sie auch nur in den Mittagsstunden durch. Die Fließe sind zum Teil gefroren, aber nicht so stark, dass man darauf Schlittschuhlaufen könnte. Also ist die Ausflugsidee, Spreewald on Ice auch nicht attraktiv genug, um Leute anzulocken.
So bleiben die meisten Geschäfte dicht, die eher den Touristen zugedacht sind und auch ein Großteil der Rast- und Gaststätten wünscht den Besuchern noch immer ein kreidegeschriebenes erfolgreiches Neues Jahr und freut sich auf ein Wiedersehen im Frühjahr 2017.
Soviel Ruhe kann nur gut sein.
Die Wege rund um Lübbenau, die in den Spreewald führen, sind etwas matschig. Die Sonne steht dieser Tage doch schon hoch genug, den Frost von der Oberfläche der Wege zu jagen. Der restliche Schnee taut an und auf, der Boden wird nass und glitschig. Manche kleine Eisfelder bleiben aber hartnäckig glatt. Die Feuchtwiesen und Überflutungsfelder stehen knöcheltief im Eis. Aufgetürmte Strohballen stehen wie gefrorene Glocken inmitten dieser weißen Eisfelder. Reiher und Schwäne fliegen geschäftig über das Biosphärenreservat und tatsächlich sehe ich bereits ein paar im Formationsflug ziehende Wildgänse am Himmel. Wenn ich den aufgeregten Meisen zuhöre, den klopfenden Spechten und ganz tief einatme, ist da schon ein Hauch von Frühling zu spüren?
Im Ort jedenfalls ist davon noch nicht viel zu bemerken. Nur am Marktplatz sind Intersport, ein Karnevalskostümverleih und drei Lokale offen. Zwei Lokale stehen Wand an Wand, wobei eines um 15:00 Uhr schließt und eines mit gemischtem Essen lockt. Hinter der Bar wartet ein bis zum Hals tätowiertes Mädchen darauf, dass wir uns entscheiden, was wir wollen. Selbstgemachten Kuchen (zwei Sorten) oder Deftiges von der Karte. Es ist voll und eng und eine Spur rustikaler, als ich es im Moment benötige. Meine Herzdame entscheidet sich für die Flucht und wir landen im benachbarten Bäckerladen, wo eine große Tasse Milchkaffee und zwei Stücken standardisierter Obstkuchen unseren deutlich drängenden Bedürfnissen nach verwerflichen zuckerlastigen Produkten und eine geregelt zugeführte Menge an Koffein gerecht werden.
Ausreichend gezuckert begeben wir uns zu unserer Herberge, um dort mal eben einzuchecken. Nichts aufdringliches. Eher ländlich rustikal.
Das Schlosshotel Lübbenau.
Das Schlosshotel

Und beim Schlosshotel Lübbenau kann man wirklich nicht meckern.
Das Schlosshotel Lübbenau schmückt sich mit vier Sternen. Wie breit gefächert die Qualität innerhalb des Vier Sterne Fensters ist, erstaunt mich immer wieder. Häuser, die freundlich und sauber sind, mit unaufdringlicher Zuvorkommenheit glänzen und außerdem Charme und Stil besitzen, tragen diese Sterne zurecht. Andere Häuser, die ich besuchte und die ebenfalls mit ihren vier Sternen angeben, kommen dagegen nicht über den Charme einer Neubauklitsche mit maroder Heizung und maroder Arbeitsmoral der Angestellten hinaus.
Im Schlosshotel Lübbenau stimmt dagegen beinahe alles. Es glänzt im aristokratischen Stil des Adelsgeschlechts, das hier einst lebte. Schlossherren waren und sind wieder die Grafen von Lynar. Die von Lynars waren einst als Baumeister in der nördlichen Toskana ansässig. Irgendwie sind sie in die Region des Spreewaldes gekommen, wo sie schließlich heimisch wurden und sich ein herrschaftliches und damit standesgemäßes Schloss hinstellten. Das Schoss besteht aus einem enormen Treppenhaus und zwei im stumpfen Winkel auseinander driftende Flügel. Zahlreiche Lynars lebten hier über die Jahrhunderte und hängen in Öl eingelegt als Schinken an den Wänden. Der letzte bekannte Lynar hieß Wilhelm Graf zu Lynar und gehörte zur Schar der Adligen um von Stauffenberg, die 1944 das Attentat auf Hitler vergeigten. Ein Teil der Planungen zur Diktatorenbeseitigung fanden im Schloss Lübbenau statt. Nach dem misslungenen Attentat enteigneten die Nazis das Schloss, um dort eine Außenstelle des Reichsluftwaffenministeriums unter zu bringen. Nach dem Krieg machte das Schloss die tragische Karriere vieler Adelshäuser im Osten durch. Da wo einst Edle Holzmöbel protzten, gammelten nun Resopaltische rum. Pflegeheim, Kinderheim, Mütterheim hießen die Zwischenstationen, dann wurden die Örtlichkeiten vernachlässigt und kamen so herunter, dass die Ortswirtschaft um den Lübbenauer Bürgermeister den Abriss beschloss, um an dieser Stelle einen wichtigen Punkt für die Kindesertüchtigung zu gestalten: einen sozialistischen Rodelberg. Eine brillante Idee im schneesicheren Brandenburg. Zähflüssige Bürokratie und der Bedarf an Schulungszentren verschonte das Schloss vor der Zerstörung. Nach dem Mauerfall konnten die Erben derer von Lynar das Schloss zurück erwerben, denn die Enteignung fand im Dritten Reich statt und nicht in der DDR. Ein Rechtsfakt, der kaum Spielraum offen ließ. Die Lynars renovierten das Schloss von Grund auf und bauten es zu einem piekfeinen Vier-Sterne Hotel um. Orangerie und Marstall und die Alte Kanzlei gehören heute dazu.

Die Orangerie ist heute mit gehobener Gastronomie besetzt. Im Marstall befinden sich ebenfalls Apartments, die barrierefrei erreichbar sind. Die Alte Kanzlei soll zum Schlossmuseum werden. Als Ort der Entspannung und gehobenen Unterbringung ist das Schloss also kein übler Ort.
Der Eingang des Hotels befindet sich auf der Hofseite. Als ich ihn betreten will, posieren acht schick zurecht gemachte Menschen vor der Tür. Ein junges Paar und drei Paare gehobeneren Alters. Umflattert werden sie von einer Fotografin, die ein Blumengebinde von Frau zu Frau reicht, um sie dann mit dem jeweiligen Partner zu fotografieren. Ich erbitte mir Durchtrittserlaubnis und stehe vor einer riesigen Holztür deren Türklinken sich etwas oberhalb meiner Stirn befinden. Ich komme gerade so ran und frage mich, wie man auf die Idee kommt, Türklinken auf dieser Höhe zu postieren. Sind die Hausherren früher hier mit dem Pferd rein?
Direkt hinter dem Eingang empfangen freundliche Rezeptionisten den Gast. Das Einchecken geht zügig und ist informativ genug, dass fürs Erste keine Fragen offen bleiben. Auch wenn ein Fahrstuhl angeboten wird, benutzen wir die große Holztreppe, die die Breite des Turmhauses vollständig einnimmt. Die großen Fenster reichen vom Erdgeschoss bis unters Dach und wirken wie aus einem Stück. Selbst an den grauesten Tagen ist das Treppenhaus hell. An den Wänden hängen große Porträts der Schlossherren und -damen, die sich hier einst zu Hause fühlten. Das alte Holz der Treppen stöhnt unter den Schritten, wie jemand, der das schon sehr lange aushält. In den Fluren, die zu den einzelnen Zimmern führen, schmücken Schwarz-Weiss-Fotos aus den frühen Dreißiger Jahren die Wände. Abgebildet sind meist Gebäude auf dem Schlossgelände und Szenen aus dem täglichen Leben. Damalige Angestellte des Schlosses sind beim Arbeiten und bei Pausen zu sehen. Auch typische Spreewaldfeierlichkeiten, in denen die sorbischen Trachten eine Rolle spielen, kann man betrachten. Am Ende der Zimmerflucht steht ein riesiger Blumenstrauß unter dem Fenster. Alles wirkt hell und sauber.
Unser Zimmer besteht aus zwei geschmackvoll eingerichteten Räumen und einer Nasszelle. Das Bad ist sehr klein. Ein Manko. Ich bin nicht sehr groß und auch noch nicht besonders ausladend. Aber gewichtigere Leute als ich dürften sich schwer aus der Nische zwischen Klopapierrollenhalter und Dusche wieder heraushieven können, wenn sie sich auf dem Toilettensitz erstmal eingeklemmt haben. Der Rest der Suite ist allerdings angenehm. Das Schlafzimmer ist funktionell und wirkt nicht beengend. Der zweite Raum, eine Art kleiner Salon besitzt eine Couch, die in ihrer Form auch in den frühen Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hätte hier stehen können. Das gleiche gilt für zwei kleine Sessel und einen Couchtisch. Die Minibar ist gut bestückt, der Fernseher modern, aber uninteressant für mich. Am anderen Ende des Zimmers steht ein ausreichend großer Schreibtisch, der vor einem großen Spiegel steht. Hier könnte sich ein eitler Autor prima beim Schreiben beobachten und am Ende nichts zustande bringen. Der Vorteil ist allerdings, das der Spiegel genau gegenüber der Fenster steht und das Tageslicht auf den Schreibtisch reflektiert. Es ist bei Tage ausreichend hell im Raum. Die Fenster sind hoch, doppelflüglich und gehen zum Hof hinaus. Ich kann von hier oben auf die Orangerie sehen, den großen Spreefließ am Hafen erkennen und die enorme Erfolge der Maulwurfszucht auf der Wiese vor dem Hotel bewundern.
Diese und den ganzen Schlossgarten will ich mal genauer in Augenschein nehmen, solange es hell ist, bevor ich weitere Annehmlichkeiten des Schlosses, wie die Gewölbesauna, das Restaurant und die Bar besuchen werde.
Schlosspark mit Gräfin
18. Februar 2017
Es ist ein Februartag, der zu den wenigen schönen gehört. Ein blauer Himmel blitzt und das dünne Eis auf den Fließen glitzert trügerisch einladend. Die Wege sind je nach Lage matschig oder vereist. Auf jeden Fall sollte man seine Schritte mit Bedacht setzen. Lenkt man seine Schritte vom Haupteingang des Schlosses zum Marstall, so findet man rechter Hand das große gusseiserne Schlosstor, das von einer kronengeschmückten Schlange verziert wird. Gleich daneben steht eine Statue, die den Stammvater des Geschlechts der Lynar darstellt, Rochus Quirinus Graf zu Lynar. Der hat zwar nichts unmittelbar mit dem Bau des Lübbenauer Schlosses zu tun, die Grafschaft Lübbenau wurde erst 30 Jahre nach dem Tod Rochus’ von der Witwe eines seiner Nachfahren erworben. Rochus Quirinus Graf zu Lynar stammte aus der Toskana und wurde in Florenz zusammen mit Cosimo de Medici erzogen. Er erwarb sich nicht nur einen Sack voll Lorbeeren als Militär, sondern verfügte auch über ein hervorragendes Ingenieurswissen, besonders auf dem Gebiet der Militärarchitektur. Er kümmerte sich um die Verbesserung der Festungsanlagen August des Starken und gestalte in der sächsischen Residenzstadt Dresden das Zeughaus, das heutige Albertinum um und war Bauleiter am Berliner Stadtschloss. Sein bekanntestes Bauwerk ist die Spandauer Zitadelle. Die Büste des Grafen ist ein Geschenk von Kaiser Wilhelm II. aus dem Jahre 1903. Es entging nur knapp der üblichen Einschmelzung von Metallbüsten der Kaiserzeit in der rohstoffknappen DDR. Man kann verstehen, dass die späteren Grafen von Lynar ihrem berühmtesten Ahnen einen Platz an der Sonne vor dem Eingang zu Schlosspark gönnen und die Bronzebüste nach der Wende wieder auf den einstigen Sockel stellten.
Vorbei am Fachwerkbau des Marstalls, der heute mit kinderfreundlichen und barrierefreien Urlaubsapartments ausgestattet ist, gelangt man zu Orangerie. Im barocken Gartenbauensemble war die Orangerie ein wichtiger Ort, um die mediterranen Pflanzen, die im Sommer den Schlossgarten aufhübschen sollten, über den strengen deutschen Winter zu retten. Heute ist dieser imposante klassizistische Bau ein Veranstaltungsort für Feste und Feiern mit gehobene Gastronomie. Zwölf dorische Säulen stützen das Dach auf der dem Hof zugewandten Seite.
Der Schlosspark entspringt einer Idee Lennés, dem Popstar der Garten- und Landschaftsplanung im frühen 19. Jahrhundert. Um 1820 wurde der Park zwischen Spreewaldflussläufen und weiten Wiesen im Stil des englischen Landschaftsgartens angelegt. Zu dieser Zeit bekam das ehemalige Wasserschloss auch einen grundlegenden Umbau verpasst. Es war eine von Romantik geprägten Zeit. Die Gebrüder Grimm hatten 1810 ihren Bestseller “Deutsche Hausmärchen” auf den Markt gebracht und das Ideal des deutsche Adels verklärte sich gerade ins märchenhafte. Das Schloss wurde beseelt vom Renaissancegedanken umgestaltet und bekam zu seinem neuen Chic auch noch zwei Dornröschentürme an die Spitze gesetzt. Heute würde man diese Form von romantischer Bauweise als eine Art snobistischen Retrostil ansehen. Damals wie heute war so was total angesagt.
Wir wandeln noch ein wenig weiter durch den Park. Ein kleiner Fließ trennt den Park von der Straße, die ins abgelegene Spreewaldörtchen Lehde führt. Ein Zaun scheint nicht notwendig, denn man muss schon mutwillig nass werden wollen, um ihn zu überspringen. Abgesehen davon ist der Park von verschiedenen Seiten aus öffentlich zugänglich und steht allen offen, nicht nur den Hotelgästen. Eine geschwungene weiße Brücke überspannt ein weiteres kleines Fließ, das einen Teich speist. Ein paar Enten lümmeln im Wasser und von einem nahen Baum glotzt ein Kormoran herab. Das ursprüngliche Gesicht des Parkes, so wie es sich Linné einst ausgeheckt hatte, ist heute kaum zu erkennen. Die Vernachlässigung nach dem Kriegsende ließ viel Raum für Wildwuchs. Alte Sitzgruppen verschwanden, Bäume und Sträucher, die hier nicht angesiedelt waren, kamen zu Besuch und blieben. Die heutigen Besitzer des Schlosses, ebenfalls Nachfahren der Lynars, planen unter Einbeziehung von Lübbenauer Stadtverwaltung und einem Landschaftsarchitekten aus der Region, den Park schonend wieder ein der Historie entsprechendes Lifting zu verpassen. Hier drängt sich die Floskel: “Man darf gespannt sein” förmlich auf. Die gräfliche Familie scheint allerdings ein großes Interesse am gepflegten Image ihres Besitzes zu haben. Das Engagement ist groß und das Hotel in seinem Ruf und seinen Leistungen hervorragend. Ein gutes Image ist auch ein gutes Kapital.
Nachdem wir die Brücke hinter uns gelassen haben, leuchtet eine kleine Sitzgruppe in den wärmenden Strahlen der Spätwintersonne. Da der leise Hauch von Frühling nur von ganz hartgesottenen Gegenwartsverächtern ignoriert werden kann und wir nicht dazugehören, setzen wir uns und genießen das Schnattern der Enten, das Zwitschern der Meisen, das Hämmern der Spechte und den multilinguale Gesang des Kleibers. Vogelstimmenbeschreibung ist gerade beim Kleiber schwierig, da er einfach keine Lust hat einsilbig zu sein oder ornithologisch vorbildlich seinen Namen zu singen, wie etwa der Kuckuck. Anerkannte Ornithologen behaupten, dass des Kleibers Gesang etwa so klingt: „djüdjüDJÜ djüdjüDJÜ“, wobei die Großschreibung am Ende des Verses zu beachten ist. Ich will das ja nicht in Frage stellen. Ich habe nur den Eindruck, dass Vogelgesang und deutsche Rechtsschreibung kein bisschen zusammen passen. Wenn sie wissen wollen, wie sich der Kleiber anhört, gehen sie im Frühling in einen Park, suchen sie nach einem Vogel mit spitzen Schnabel, der kopfüber einen Baumstamm herunter klettert und eine Art schwarzer Zorromaske über den Augen trägt und hören sie dann einfach zu, was er zu sagen hat.
Ich lausche gerade den Klängen aus dem Geäst und blicke über die Wiese, die auch hier von arbeitsfreudigen Maulwürfen gestaltet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkes nehme ich eine Gestalt wahr, die auf den ersten Blick nicht hierher zu passen scheint und auf den zweiten Blick sehr wohl und vielleicht noch besser als wir hier her zu passen scheint. Zuerst denke ich an eine Fata Morgana. Doch da wir uns im beinahe menschenleeren Schlosspark eines europäischen Adelsgeschlecht befinden und nicht in einer überfüllten Flüchtlingsaufnahmestelle mit überwiegend morgenländischer Klientel, dürfte dieser Gedanke ausscheiden. Es scheint ein wandelnder Schlossgeist aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Ein Kopfputz aus weißer Spitze auf einer dunklen Kappe sitzt auf braunen Locken. Ein schwerer schwarzer Mantel bedeckt kaum das darunter hervorbauschende rot-weiß berüschte Kleid mit einer ausladenden Krinoline. In der linken Armbeuge hängt eine braune Tasche. In der rechten Hand trägt die Person einen geschlossenen Schirm. Sie läuft nicht durch den Park, sie spaziert auch nicht, sie schreitet langsam, fast schwebt sie über die Wege. Sie biegt auf den kleinen Weg ein, der zu der weißen Brücke führt. Dann entschwindet sie aus meinem Blickfeld und kehrt für eine Weile nicht wieder. Ich stehe auf, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht doch halluziniere. Ich hätte vielleicht nicht Downton Abbey und die Verfilmung des Jane Austen Romans Stolz und Vorurteil gucken sollen. Das Zeug verkleistert einem die Synapsen mit Romantikschleim. Das habe ich nun davon. Jetzt sehe ich im Schlosspark ein Gespenst und analysiere dessen schicke Garderobe. Allerdings wird das Gespenst recht real, als es von der Brücke steigt und wenig später unseren Weg an einem Gedenkstein kreuzt. Das Gespenst entpuppt sich als eine Frau im gehobeneren Alter. Das Ansprechen der Frau ist etwas kompliziert, da sie erwartungsvoll in unsere Richtung schaut und wir sie anstarren. Irgend ein Gesprächsfluss muss nun in Gang kommen und ich bin mir nicht sicher, welchen Duktus dieser haben sollte. Sprechen wir sie nun im gewöhnlichen Stil der Gegenwart an oder befindet sich die Frau vielleicht tief in ihrer Rolle als spätbarocke Hofdame und wir sollten es irgendwie auf Piekfein versuchen?
“Guten Tach, die Dame” entfährt es mir. “Sie habe sich aber fein rausgeputzt”, lobt meine Herzdame die Frau.
“Ja, wa. Muss man ja ma, wenn so’n schicker Schlosspark zu haben iss.”
Oh, denke ich. Das ist aber ein radikaler Knick. Doch vielleicht hat die Hofschranze von anno Zopp ja auch nur klassischen Dialekt gesprochen. Der eher gewöhnliche Tonfall im Kostüm des Rokokochics setzt sich noch etwas fort. Die Dame outet sich als Sängerin, die Kammermusik aus dem 18. Jahrhundert vorträgt. Da gefällt es ihr, im historischen Ambiente auch mal historische Kleider an die moderne Luft zu führen und sich ein bisschen in gefühlter Vergangenheit zu ergehen. Vielleicht in Zeiten, in der man beim Spaziergang noch das Wetter im Original genossen hat und nicht die Idee eines möglichen Wetters auf einer Smartphone-App mit der Realität abglich. Es ist ein Spleen, den die Dame auslebt, aber ein sehr eleganter und stilvoller, der hier zu Haus und Landschaft passt. Sie versucht keine historische Figur nachzustellen, da sie Angst davor hat, deren dunklen Geheimnisse zu übernehmen. Sie verweist dabei auf lösungsorientierte Gruppenaufstellungen und der Gefahr sich mit Wiedergängertum zu infizieren. Deshalb stellt sie sich als Gräfin von und zu und was weiß ich zu Cosel oder Koslosky vor. Irgend was polnisches jedenfalls. Ihren Geburtstag will sie hier feiern. Nicht als rauschendes Fest, denn sie scheint allein ins Schloss angereist zu sein. Das Gespräch kommt ins Stocken, als ich auf die Tafel des Gedenksteins schaue, an dem wir halt gemacht haben.
“Wer wird’n hier ausgestellt”, fragt die Coseln.
Ich lese vor:
“Zum Gedenken an Freiherr von Zeidlitz und Neukirch, genannt Hegewald, dem Förderer des kontinentalen Vorstehhundes und der nach ihm benannten Hegewaldzuchtprüfung.” Die untere Tafel beinhaltet das Gelöbnis der Jünger Hegewalds in dem sie sich zur »Deutschen Heimat bekennen« und dazu, “den vierläufigen Freund, den Deutschen Jagdgebrauchshund als unentbehrlichen Helfer waidgerechten Jagens zu förden, zu hegen und zu Pflegen im Geiste Hegewalds.”
Amen.
Wir verabschieden die Coseln, da sie in ihrer Kledasche ohnehin nicht mit uns hätte mithalten können und lustwandeln zügigen Schrittes Richtung Parkplatz, um unsere eigene Kledasche aus dem Fahrzeug raus und aufs Zimmer rauf zu bringen. Dazu müssen wir einmal um den Teich herum, am Ballsaal - einem sympathischen Anbau an der Turmseite des Schlosses - vorbei und durch die Dirk-Lehmann-Straße. Wir wissen nicht, wer Dirk Lehmann ist. Der olle Fußballertorwart war es wohl nicht, der hieß Jens. Außerdem sollte man niemanden eine Straße widmen, der noch lebt, dachte ich. Überhaupt sollten unter Straßenschildern, die Personen gewidmet sind, Geburts- und Todesdatum stehen und seine Funktion, die ihn so aus der Gesellschaft heraus stechen lässt, dass man ihm eine Straße widmet. Nun, Straße ist zu viel gesagt. Es ist ein gepflasterter Durchstich durch eine Hecke, der auf den Parkplatz führt. Zu schmal, um nebeneinander her zu gehen und zu kurz, um drei ausladende Schritte zu machen. Stunden später lese ich in einem Informationsblättchen, dass Dirk Lehmann der aktuelle Küchenchef ist. Und so wie er kocht, finde ich, hätte er eine weitaus längere Straße verdient.
Abends im Schloss

18. Februar 2017
Nach der Begegnung mit der vermeintlichen Gräfin und der Aussicht, demnächst ein Restaurant zu besuchen, dessen amtierenden Küchenchef eine eigene Straße gewidmet ist, bringen wir unsere Reiseutensilien ins Schloss. Im ersten Stock führt die breite Schlosstreppe auf die großflügeligen Holztüren des Balkonzimmers zu. Ein Schild mit dem Hinweis, bitte nicht zu stören, steht vor der Tür. Derzeit findet in dem Raum eine standesamtliche Trauung statt. Hier drin werden sicher die vier Paare hocken, die vorhin noch vor der Schlosstür mit der Fotografin geschäkert haben. Der Gang zum rechten Flügel, den ich neugierig inspiziere, besitzt keine Wohnräume, sondern ist in verschieden große Seminarräume aufgeteilt. Wer Grund zum Tagen hat, kann das hier in unterschiedlichen Größenordnungen tun. Von kleinen Gruppen bis zu einer überschaubaren Kongressgröße können sich hier Leute versammeln, um Probleme zu lösen, Produkte zu präsentieren oder ihre Wichtigkeit zu feiern. Neben den Räumen im ersten Stockwerk, steht diesen Zwecken auch der große Ballsaal im sogenannten dritten Flügel, dem Anbau unterhalb der beiden Türme zur Verfügung. Dieser Saal kann bis zu 250 Personen Platz bieten. Rings um das Parkett herum gehen große Terrassentüren auf den Park hinaus. Banketts sind hier denkbar, Ballnächte, wie das Tangowochenede Mitte März 2017 oder das Kriminaldinner "Kreuzfahrt ins Grab", das im Januar hier stattfand.
Aber ich rüttele gerade an den Türen im ersten Stock und komme an die Tür zum Waschraum und den Toiletten. Die Innenausstatter des Hotels sind geschmacklich von den Azuleos, der mediterranen Fliesengestaltung in Portugal und Spanien, angetan. Entsprechend opulent eingerichtet ist hier der Waschraum. Dieser sieht komplett anders aus, als man sich ein gewöhnliches, funktionelles Tagungsklo vorstellt.
Die gleiche Opulenz überrascht mich in der Gewölbesauna im Keller. Hier kann man eine Dampfsauna und eine Holzsauna nutzen, sowie in zwei Ruheräume tatsächlich Ruhe finden. Getränke, von kostenlosem Wasser oder Tee, bis zu bezahlbarem Weizenbier stehen zur Verfügung. Als Lesestoff für den erhitzten Ruhesuchenden gibt es das Magazin National Geografic zu entdecken. Nicht gerade das Fachmagazin, das sonst in Kosmetikecken für geistlose Entspannung sorgt, sondern durchaus anspruchsvoller Lesestoff.
Auch wenn die Saunabelegschaft darauf hinweist, die hoteleigenen Handtücher so ökonomisch wie möglich zu nutzen, liegen auf einem Tisch vor den Duschen so viele strahlend weiße Handtücher, wie das Herz nur Essen kann. Die Fliesengestaltung ist auch außerordentlich stilvoll und verwöhnt das Auge. Oberhalb des Fliesenspiegels kann man die Arbeit früherer Architekten bewundern. Gewölbemauerei war vor Jahrhunderten handwerklicher Standard. Nach Jahren der Betonplatte gibt es heute auch wieder Handwerksbetriebe, die sich mit Gewölbemaurerei beschäftigen, allerdings sehen sich diese heute eher als architektonische Künstler.
Ich liege nach einem schweißtreibenden Saunagang auf der Ruheliege und betrachte das Mauerwerk. Müde kreisen meine Gedanken um das Thema Schlossgewölbe. Es ist eine Art Kreuzgratgewölbe mit Rundbogendurchlässen, denke ich mir, aber ich kann mich auch irren. Mir dämmert, dass ich mich in einem Schlosskeller befinde, einem Ort, den ich aus literarischer Sicht eher mit hochpreisigen Weinsammlungen auf der einen Seite und mit Verliesen, Ratten, Spinnennetzen in Ausmaßen, die für Fischereibetriebe interessant sind, schimmligen Komplettausgaben der Völkischen Allgemeinen und des Neuen Deutschland, sowie mit in zugemauerten Hohlräumen zusammengekauert hockenden missliebigen Gästen, die zu heftig genörgelt haben, in Verbindung bringe. Ich lausche in die Stille, höre aber niemanden klopfen. Warum auch. Selten habe ich einen Ort unterhalb der Grasnarbe gefunden, der so anheimelnd und sauber ist.
Später besuchen wir das Restaurant. Es wirkt erstaunlich klein für ein solch großes Haus. Trotzdem ist es nicht überfüllt. Nun ja. Es ist Mitte Februar und die Gästezahl hält sich in Grenzen, aber das Restaurant ist auch Besuchern zugänglich, die nicht im Hause wohnen und bei der Qualität der Speisen hätte ich einen größeren Zulauf erwartet. Ich bin aber ganz zufrieden, dass es angenehm leer ist. Wir setzen uns an den reservierten Tisch und studieren die Speisekarte.
Die Chefkellnerin ist eine große Frau in unserem Alter. Die Tracht, die sie und ihre Mitarbeiter tragen, sieht so aus, wie man sie sich von Bediensteten einer Schlossküche vorstellt. Ein etwas derbes grünes Kleid und eine Schürze darüber. Rustikal, doch auch hier stilvoll ausgewählt. Die Kellnerin besitzt diese seltene Mischung aus respektvoller Zurückhaltung und bodenständiger Vertraulichkeit. Weder unterwürfig, noch von oben herab. Sie merkt sich alle Bestellungen, vom Getränk bis zu Dessert, ohne irgendwas zu notieren und das auch am Nachbartisch, an dem die kleine Hochzeitsgesellschaft sitzt und heftig über Klassiker des Horrorfilmgenres, wie “Der Weiße Hai” und “The Fog - Der Nebel des Grauens” diskutiert. Interessante Gesprächsführung im Kreise Frischvermählter. Wobei es sich bei den Frischvermählten hier um ein Pärchen handelt, welches auch eher ein spätes, zweites oder drittes Glück gefunden zu haben scheint.
Das Essen, das man uns serviert, wird zunächst unter einer Edelstahlglocke versteckt gehalten. Beide Hauben werden zum selben Zeitpunkt gelüftet. Während meine Herzdame ein leckeres Menü mit Wild gewählt hat, bin ich mit dem heimischen Fisch sehr zufrieden. Die Anrichtung der Speise ist gourmetküchenmäßig übersichtlich. Der Teller quillt nicht über und trotzdem wird man satt. Mein Zanderfilet hat eine Beilage aus Rote Beete Püree. Ich bin eigentlich kein Freund der spröden Roten Beete, werde hier aber restlos davon überzeugt, dass ich dem Gemüse damit Unrecht tue. Regionales Dessert gibt’s im Anschluss: Hefeplinsen. Als ich noch regelmäßig im Sommer zu meiner Tante geschickt wurde, die hier in der Nähe des Spreewalds lebte, bekam ich das öfter mal serviert. Ich konnte davon nie genug bekommen, aber leider war die Menge immer reglementiert. Neben Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl, zählt der Hefeplins zu den frühen kulinarischen Prägungen meiner Kindheit, die mich heute noch aufs Angenehmste begleiten.
Gut gesättigt begeben wir in den Nachbarraum. In Roccos Bar, um uns einen gehobenen Absacker zu genehmigen. Roccos Bar ist eine Cocktailbar von der Größe eines kleinen Varitétheaters. Aber anders als im Berliner Chamäleon, das räumlich gesehen, die gleichen Ausmaße aufweist, stehen hier weniger Stühle und Tische. Stattdessen kann man in Ledersesseln sitzen oder in kissengetränkten Coucharrangements versinken. Neben der Treppe, die von der Hotellobby in die Bar hinabführt, steht in einer Nische ein Piano, das heute leider nicht bedient wird. Gelegentlich spielt hier auch ein Jazzensemble. Heute tropft nur angenehme Loungemusik aus der Decke, Musik mit einer leichten Note Brazilectro. Der Barkeeper beruhigt eine Gruppe niveauvoll krakelender Jungs um die Vierzig und serviert uns dann einen 12 Jahre alten Whisky sowie einen gut gekühlten Baileys. Wir genießen das Ambiente, steigen dann aber doch irgendwann hinauf in unsere Suite.
Im Schubfach des Nachtschränkchens neben meinem Bett finde ich etwas, was ich schon seit Jahren nicht mehr in Hotelzimmern vermisst habe: ein Neues Testament in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Ich schlage den französischen Teil auf und bin bereits vor Ende des ersten Verses eingeschlafen. Leider schlafe ich nicht sehr lange, da ich das Bett nicht sehr bequem finde. Ich werde morgen früh gleich mal kontrollieren, ob sich unter der Matratze nicht etwa eine Erbse befindet.
Frühstück mit Leinöl
19. Februar 2017
Nach einer nicht ganz als angenehm anzusehenden Nacht, ich habe kaum geschlafen, weil das Bett mich nicht ließ, versöhnt mich das Frühstücksbüfett im Raum neben dem Restaurant. Es ist reichhaltig und darauf ausgelegt, das Frühstück zu übertreiben. Liebevoll sind Obst, Käse, Müsli, Wurst und Marmelade angeordnet. Frischkäse und Kräuterquark stehen zur Verfügung. Wahlweise auch mit Leinöl. Aus einer sehr, sehr kleinen Flasche. Die bekomme ich erst nicht auf, weil sie sehr ölig ist. Und als ich sie endlich geöffnet habe, ist sie leer. Schade. Die Brötchen und das Brot riechen wie frisch gebacken. Eilfertig wird uns Kaffee angeboten, der schmeckt, als wäre er ebenfalls frisch gemahlen. Der Raum ist in den Farben des Waidmannes gehalten. An den Wänden hängen kleine Lampe, deren Schirme auf stilisierten Jagdhörner sitzen. Bilder von Jagdszenen zieren die Wände, die in einem öligen, aber ansprechenen Grünton gestrichen sind. An einer Wand ist selbstverständlich ein Geweih angebracht.
Beim Frühstück kann ich in Ruhe all die anderen Gäste begutachten, die hier übernachten. Uns gegenüber sitzt ein extrem dünner Mann mit einer Frau. Er streicht liebvoll über seine Smartwatch und teilt der Frau mit, welche Daten über seinen Nachtschlaf die Uhr ihm gerade mitteilt. Vier Stunden am Stück und dann noch mal drei Stunden unterbrochen. Kalorienverbrauch in der Nacht lag bei irgendwas, was ich akustisch nicht verstehe. Die Frau schaut ihm mit einer Mischung aus Faszination und Langeweile an. Warum man sich von intelligenten Armbändern erzählen lassen muss, wie man sich fühlt, verstehe ich nicht so ganz. Wenn ich schlecht geschlafen habe, merke ich das schon. Dass die beiden vielleicht noch nicht sehr lange miteinander die Hotelbetten zerwühlen, ergibt sich auf die Frage nach dem Frühstücksgetränk. Sie steht gerade am Büfett, als der Kellner kommt und er ruft ihr die Frage zu: “Wie trinkst du eigentlich deinen Kaffee?”
Im Nachbarraum trifft sich eine Seminargruppe, deren Vorsitz ein ehemaliger innerparteilicher SPD-Kandidat für das Berliner Bürgermeisteramt innehat. Der scheint schon mit dem Taschentelefon in der Hand aufgewacht zu sein und schnattert munter in das Gerät, während ein weiteres Mitglied des SPD-Gruppenrates ziemlich zerknautscht vor dem Büfett herumlümmelt. Mit einer Hand in der Tasche seiner alten Jeans greift er mit der anderen lässig in die Auslagen. Ein dritter Seminarjugendlicher mit engem T-Shirt über dem durchtrainierten Oberkörper, findet es schick, überall, auch beim Essen eine Schiebermütze auf dem Schädel zu tragen. Ich weiß nicht, ob er in der Seminargruppe der Aktenfrosch ist, aber egal, Mütze tragen im geheizten Frühstücksraum hält mein altes spießiges Gemüt für eine besonders dämliche Form der Eitelkeit.
Da ist mir die spleenige Eitelkeit der Gräfin vom gestrigen Tage lieber. Die Gräfin kommt dann ebenfalls in den Frühstücksraum und setzt sich an einen Solotisch. Heute trägt sie schwarze Jeans, schwarzes Sweat-Shirt und schwarze Haare. Im Herausgehen grüßen wir und beglückwünschen sie zu ihrem Geburtstag. Ob sie heute wieder in schicker Garderobe anzutreffen sei, wollen wir wissen.
“Ma sehn, ob ick ma heute 'n Kleid überwerfe. Aber bietet sich ja an. Ick mach nachher ne Kutschfahrt. Ick kann Ihnen ja winken, wenn ick se sehe.”
Später sehen wir sie tatsächlich, wenn auch noch nicht in der Kutsche, aber in einem schwarzen langen Kleid, dessen rüschiger Saum knapp über dem weichen Boden rauscht, den Mantel geschlossen, eine dunkle Haube und ein Regenschirm im Arm. So schreitet sie durch das große Tor zum Schlosspark hinaus in den Ort, während wir uns auf einen kleinen Spaziergang durch das Innere des Spreewaldes begeben, der am Ende etwas länger wird, als wir beabsichtigten. Doch davon ein andermal mehr.
Moorwanderung
19. Februar 2017
Wenn man den Kahnhafen in Lübbenau hinter sich lässt und sich den wegweisenden Schildern Richtung Innerer Spreewald, also zu den Dörfern Lehde, Leipe und dem Kurort Burg/Spreewald anvertraut, kann man sich eigentlich nicht verlaufen. Da die meisten Wege rechts und links von Flussläufen und Fließen gesäumt sind, landen alle Wege irgendwann an einem neuen Wegweiser oder im Wasser. Es sei denn … . Nun gut.
Es soll ein kleiner Spaziergang werden. Bis Burg-Hafen sind es etwa 11 km. Dort gibt es ein kleines Café, das lecker Kuchen im Angebot hat. Als Fernziel klingt das machbar.Danach wieder zurück zulaufen, erschrickt kilometerorientierte Wanderer wie uns kaum. Als Jahreswandereinstieg im harmlos flachen Spreewald also keine Hürde. Aus Lübbenau führt ein sehr langer, sehr gerader und sehr schöner Weg bis Leipe. Hohe Bäume säumen ihn. Beidseitig begleiten den Weg Fließe, so dass er wie ein Damm zwischen den Wassern verläuft. Hin und wieder sorgt eine Brücke für einen kleinen Anstieg. Unter uns gurgeln die Wasserwege entlang, die wir im Sommer gern mit dem Kanu abfahren. Der Weg ist ein Lehrpfad. Es hängen immer wieder Schilder an den Bäumen, die auf die Tierwelt des Spreewaldes hinweisen. Mal erklären sie die heimischen Vögel, mal das Wild und welche Spuren sie hinterlassen und mal die Vielfalt des Baumbestandes. Wegweiser tauchen sporadisch auf. Eine der Tafeln weist einen interessanten Schreibfehler auf. Lübbenau wurde dort versehentlich verkürzt und wirkt in der Schreibweise "Lübbeau" wie ein Dorf in einer hügeligen Gegend der Provence. Da es nicht sonnig ist und kleine angedeutete Schauer den Wanderweg schön feucht halten, hält sich die Schar der Waldbesucher in Grenzen. Eine Joggerin kommt uns mit ihrem Hund entgegen. Ein Radfahrer quietscht geschäftig Richtung Leipe. Das war es. Der Wald scheint nur für uns da zu sein. Alle 800 Meter steht eine Bank, ein Papierkorb und ein Schild mit dem Hinweis “Rettungspunkt”. Darunter steht die Standortnummer, die bis Leipe L1 - L19 heißen und, für die, die sie nicht auswendig kennen, die Nummer des Rettungsdienstes. Eine Luftpumpe liegt verloren am Wegesrand. Ich schleppe sie mit bis zum Ortsrand von Leipe. Sonst passiert hier nichts Aufregendes. In Leipe hat erwartungsgemäß alles zu. Die Saison beginnt im April, wenn die Boote rausgelassen werden, denn der bevorzugte Wanderweg ist die Spree. Die Gaststätte am Spreeknick kurz vor der Schleuse, die im Sommer vor Besuchern nur so brummt, liegt verlassen am Wasser. Kein Lübbenauer Babbenbier, keine rote Brause, kein Quark mit Leinöl. Nichts.
Wir betrachten am Straßenrand ein Wartehäuschen für den Schulbus. Das dient auch als zentraler Anschlagplatz für Ortsnews. Dankesschreiben für eine gelungene Geburtstagsfeier hängen da und der Plan für die kommenden Feierlichkeiten, wie Kinderfasching, Männerfastnacht, Frauentag, Zampern und Rudelübergabe. Mit der Rudelübergabe an die Fährleute durch den Bürgermeister eröffnet in jedem Jahr die Kahnfahrersaison. Inoffiziell fahren allerdings auch im Winter vereinzelt Kähne durch den Spreewald. Mit Decken zum Außen wärmen und Schnäpschen zur inneren Erwärmung. Das Zampern ist dann noch ein anderer Spaß, den wir einen Tag später in Lübbenau näher betrachten können. Heute ist hier jedoch rein gar nichts los und wir ziehen weiter, bis wir an ein Schild gelangen, das uns mehrere Wege weist. Nach Burg-Kuchen geht es geradeaus. Der Hunger ist nach dem reichhaltigen Frühstück allerdings klein, bis gar nicht vorhanden. Der andere Weg soll laut Wegweiser über einen Rundwanderweg zurück nach Lübbenau führen. Zwölf Kilometer steht dran. Klingt vernünftig. Dafür veranschlagen wir zweieinhalb Stunden. Kuchen gibt es auch in Lübbenau. Wir schreiten also beherzt aus und lassen eine Wassermühle hinter uns. Die Dubkaumühle samt Gasthaus ist ohnehin geschlossen. Im Sommer ist es ein beliebter Anlaufort für radfahrende Touristen. Kurz hinter der Mühle treten ein paar Gallowayrinder durch den Matsch. Diese schottische Rindersorte scheint sehr robust zu sein. Sie wird auch im Winter gern draußen gehalten. Die Viecher erinnern mich etwas an den Wookie aus Star Wars. Ein dickes Zottelfell hängt den Tieren vom Leib. Frieren dürften die damit nicht. Wir überqueren über eine der hübschen Spreewaldbrücken einen Wasserlauf, der den Namen Schweißfließ trägt. Ich erspare mir irgendwelche Gedankenspiele.
Der Weg führt uns an Feldern vorbei zur Radduscher Buschmühle. Diese liegt am Südumfluter, einem der drei Hauptarme der Spree, die den Spreewald umschließen bzw. durchziehen. Der Südumfluter bildet, wie es der Name schon verrät, den südlichen Rand des eigentlichen Spreewaldes. Die Buschmühle war bis in die dreißiger Jahre wie viele andere Orte in der Region nur mit dem Kahn zu erreichen. Sie diente als Öl- und Getreidemühle zugleich und die Bauern mussten manchmal länger mit ihrem Getreide ausharren, bis sie an der Reihe waren. Die Zeit vertrieben sie sich mit Schmalzstullen, Gurken und Bier. Das war hier möglich, denn die Buschmühle besaß ein Schankrecht. Von der Buschmühle halten wir uns rechts und wandern am Südumfluter entlang. Zwar stand am Wegweiser nicht mehr Lübbenau, sondern nur noch Rundwanderweg, aber der Hinweis stand ja an der letzten Kreuzung auch. Ein einsamer Angler hält seine Rute ins Wasser. Die Bäume sind hoch und mächtig, manche weisen Spuren von Biberfraß auf.
Auch hier laufen wir wieder wie über einen Damm, denn links zieht sich erneut ein schmaler Flutgraben am Weg entlang. Dieser Graben trägt, wie ich später herausfinde den seltsamen Namen A-Kamske-Graben. Warum der so heißt, verrät mir das Internet auch nicht spontan, aber ich könnte dem Leser nach meiner Recherche verraten, welche Postleitzahl der Graben hat. Falls mal jemand dem Biber vor Ort einen Brief schreiben möchte. Biber sehen wir nicht. Dafür leuchtet etwas Weißes auf der Wiese. Beim Näherkommen mache ich das weiße Tier als einen Silberreiher aus. Genau wie der Graureiher ziehen diese Vögel nicht mehr über den Winter davon und gehören zudem zu den wenigen Vögeln, die man nicht als gefährdet einstuft. Ist ja auch mal schön zu lesen. Der Reiher steigt auf und setzt sich einige Meter später wieder in die Wiese. An dem Ort, an dem er abhob, erkenne ich ein paar seltsam aufragende Grasbüschel. Ich schaue durch mein Okular und die Grasbüschel schauen mit rattigen Nasen und dunklen Augen zurück. Als Stadtmensch bin ich immer wieder entzückt Wildtiere zu beobachten. Leider kann ich das nicht leise. Ein freudiges “Oh, guck mal da. Nutrias”, lässt die vier Viecher schnell in den nächsten Bach flitzen. Es platscht kurz und die Naturbeobachtung beschränkt sich wieder auf Sträucher.
An einzelnen Stellen hat die Forstwirtschaft Bäume gefällt. Auffallend ist die Farbe des Holzes und der Sägespäne. Ein gelb-oranger Ton leuchtet an den Stellen, wo die Kettensäge wütete.
Wir laufen noch ein paar Kilometer weiter, bis wir wieder an eine Brücke gelangen. Der Wanderweg am Südumfluter endet hier und wir müssen ihn wieder überqueren. Laut meinem Navi ist Lübbenau nur noch zwei knappe Kilometer links von uns. Ein mit einer Wanderwegmarkierung versehener Pfad führt über eine Brücke. Als wir von der Brücke runterschauen, kann ich nur noch vermelden: “Da haben wir den Salat”. Der Weg verschwindet in einer überfluteten Wiese, die in wunderschönem leicht überfrorenen Weiß glänzt. Uns bleibt also nicht weiter übrig, als auf dem Forstweg auszuweichen, der uns parallel zum ersten langen Wanderweg wieder nach Leipe führt. Keine fünfhundert Meter links von uns führt er mit seinen netten Rettungsstellenhinweisen direkt nach Lübbenau, doch dazwischen liegen brückenlose Fließe, Wald und Moor.
Das erste Moor, das wir passieren heißt Sauenmoor. Das Sauenmoor ist eines von mehreren kleinen Moorgebieten auf dem Moorlehrpfad, der von Raddusch aus durch den Spreewald führt. Man sollte hier nicht an die gespenstischen Moore denken, die Edgar Wallace und ähnlich Kriminalgroteskenschreiber ersonnen haben, um Leute verschwinden zu lassen. Es ist auch nicht mit dem Dartmoor in Englands Süden zu vergleichen, wo man besser nicht vom Wege abkommen sollte. Da kann es schon mal passieren, dass einem ein überraschtes "Oh" entfleucht, während man langsam vergluckert. Die Moorlandschaft im Spreewald hat unter der landwirtschaftlichen Nutzung und dem jahrelangen Torfstich sehr gelitten. Das Moor ist hier, wie im benachbarten Hirschmoor bestenfalls noch 100 cm tief. Dann stößt man auf eine wasserundurchlässige Tonschicht. Wer also auf eigene Gefahr ins Moor geht, darf je nach Körpergröße bis zum Bauch versinkend in Panik geraten, bevor seine Füße beim Strampeln festen Boden berühren. Ab da sollte er sich Gedanken machen, wie er aus der Grütze wieder rauskommt.
Moore sind interessante ökologische Beispiele dafür, auf welch vielfältige Weise die Natur ihren Kreislauf in Schuss hält. Während der bekannte Weg des Wasserkreislaufs aus Verdunstung und Niederschlag besteht und der des Vergehens von Leben sich in der Verwandlung eines Körpers zu Erde äußert, stellt sich das Moor diesem gängigen System gegenüber etwas bockig an. Niederschlag kann dort nicht in dem Maße verdunsten, wie anderen Ortes, wo das Land trocknet, weil der Boden entweder durch Grundwasserzufuhr ständig gesättigt ist oder die Gegend ohnehin von mehr Niederschlag verwöhnt wird, als sie wieder wegschicken kann. Pflanzen verrotten dort nicht vollständig. Dadurch speichern sie ihr angesammeltes CO2 und geben es nicht an die Umwelt ab. Die Feuchtigkeit bringt zudem mehr Pflanzen zu Tage, als sich zersetzen können. Die organischen Ablagerungen werden schließlich zu Torf. Die Torfschicht wächst sehr gemütlich. Von einem Millimeter pro Jahr redet die Wissenschaft. Lässt man dem ganzen etwas Zeit, so ein paar Milliönchen Jahre, entsteht Kohle. Die kann man dann verbrennen und das ganze gespeicherte CO2 wieder an die frische Luft setzen. Man kann aber auch einfach nichts machen und dem Moor beim Wachsen zuhören. Es ist ein wunderbar ruhiges Gebiet, da sich außer ein paar Wildvögel hier kaum jemand rumtreibt. Wenn es im Sommer etwas trockener ist, kommen noch Unke, Mücke, Reh und Fuchs dazu. Aber im Winter lässt sich bestenfalls mal ein Wildschwein sehen, um am Rande des Moores ein bisschen Rumzusauen.
Es sind ein paar Kilometer zu laufen, bis wir wieder an die Kreuzung des Rundwanderweges gelangen. Unterwegs können wir Wildgänse beobachten, die auf dem Rückflug aus den Winterquartieren über uns herumgackern. Klopfende Spechte gibt es viele. Bunt-, Grün- und Schwarzspecht lassen sich blicken. Hinter der Dubkowmühle mit seinen Gallowayrindern, die wir nun wie alte Bekannte begrüßen, kaspert ein Schwarm Schwanzmeisen durchs Gehölz. Am Ortsausgang von Leipe, dessen Kneipenschließzeiten ich jetzt weniger sympathisch finde, als auf dem Herweg, liegt noch immer die Luftpumpe, so wie ich sie abgelegt habe auf einem Gully am Wegesrand. Entlang des ewiglangen geraden Leiper Weggrabens führt uns die Wanderung zurück nach Lübbenau. Ein Graureiher begleitet uns ein Stück, fliegt auf und setzt sich dann alle fünfzig Meter wieder ans Ufer, bis wir nahe genug sind. Dann huscht er wieder ein Stück weiter. Jetzt beginnt es auch noch etwas zu regnen. Und endlich erscheint das Rettungsschild Nummer drei an der Brücke. Nun geht es über die beiden Brücken am Hafen und über die Hauptspree hinüber. Spontan beschließen wir, nicht mehr zum Kuchenessen in die Innenstadt zu laufen. Auch weil mir diese letzte Brücke, von der aus wir direkt zur Orangerie unseres Schlosses gelangen, jetzt arg hoch und steil erscheint. Im Schloss habe ich die vielen Holzstufen hinauf in den zweiten Stock in diesem Moment nicht mehr ganz so lieb, wie am Morgen. Im Hotelzimmer reiße ich die Schuhe von den Füßen und die Minibar auf. Egal was es kostet. Eins der beiden kleine Biere ist meins. Beim nächsten Mal sollten wir uns auch für so einen kleinen Spaziergang eine Flasche Wasser mitnehmen. Mein Wandernavi gibt allerdings nur enttäuschende 27 Kilometer aus. Gefühlt waren das viel mehr.