Mehr über drei ernüchternde Tage auf Rügen lesen Sie hier:
Die Idee
Der Auftritt
Die Anreise
Die Ankunft
Der Strand
Das Zimmer
Der Nachmittag
Kaffee und Kuchen
Vier Sterne die nicht glänzen
16. November 2015
Drei Tage am letzten Zipfel der Insel Rügen. Ein Wellness-Ressort der Firma Lindner Hotel und SPA Gruppe. Drei Tage, die erholsam hätten sein sollen.
Und das wurde daraus:
DIE IDEE ...
»Schatz, du wirst 50«, erinnert mich meine Herzdame säuselnd. »Da solltest du dir mal was Besonderes gönnen. Was Entspannendes.«
Wie recht sie hat. Spontan fällt mir der Begriff Wellnesswochenende ein.
Ich sehe mich bereits auf einer himmlisch bequemen Massageliege ausgestreckt. Wissende Hände umschmeicheln meine nach Erholung lechzenden Gliedmaßen und durchwalken die malträtierten Muskelgruppen, während mir ätherische Öle und meditative Musik das Hirn vernebeln.
»Dem Antrag auf Wellness wird stattgegeben«, rufe ich begeistert.
Von einer Welle der Vorfreude überspült, tauche ich in die Tiefen des Internets hinab, um einen dem Anlass angemessenen Ort zu ergründen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin nicht aus auf den Luxus eines hundert Sterne Hotels mit einer Klospülung auf Champagnerbasis und Bettlaken aus purem Gold. Aber ein bisschen was Nettes wäre schon schön. Vielleicht ein Ort, wo das Essen liebevoll angerichtet ist, wo der Kellner lächelnd nachschenkt, wenn es an der Zeit ist und die Mitarbeiter an der Rezeption einen guten Tag wünschen und es meinen. Ein Ort, wo Zuvorkommenheit und Privatsphäre gleichermaßen gewürdigt werden.
Mit solcherlei Holzwolle im Kopf suche ich einen Ort, der nicht weiter entfernt ist, als drei Stunden Autofahrt.
top
DER AUFTRITT ...
Nach zahlreichen Stunden mit lustigen Katzenvideos finde ich mich auf der Webpräsentation eines Wellnesstempels am hintersten Zipfel der Insel Rügen wieder.
Der Webauftritt des Hotel & SPA Ressorts Rügen verspricht in professioneller Gestaltung: »... himmlische Ruhe in der malerischen Landschaft des Buger Boddens mit fantastischem Blick auf die Insel Hiddensee«.
Fotos vom Wellnessbereich leuchten im Lagunenblau der beiden Pools, von denen einer sanft die Außenfront des Badehauses umfließt, während der Innenpool still schimmert.
In hellen Farben präsentieren sich die Fotos der Lobby, die nahtlos in ein großzügiges Restaurant übergeht. Der Wintergarten, der sich an das Restaurant anschließt, lockt mit einem Blick auf das Wasser der Ostsee.
Dem Werbeslogan der Lindner SPA Gruppe:
»Nicht nur besser. Anders«
bin ich angesichts dieser Bilder schnell erlegen und bereit mir mit meiner Süßen den runden Geburtstag zu versüßen.
Ich buche drei Nächte mit Halbpension über alltours zu einem gemäßigten Preis.
top
Im wunderschönen Monat November ist es soweit. Wir schieben eine CD mit unseren Lieblingsliedern ins Autoradio und düsen über eine traumhaft leere Autobahn durch die mecklenburgische Landschaft. Rechts und links fliegen Felder, Kühe und Windkrafträder vorbei. Wir stellen uns vor, wie die folgenden Tage werden könnten. Wer fährt schon im November an die Ostsee? Wahrscheinlich werden wir die einzigen Gäste sein. Welch himmlische Ruhe herrschen wird. Hoffentlich wird für uns überhaupt gekocht.
Nach langen trostlosen Kilometern zwischen Pasewalk und Greifswald taucht am Horizont die riesige hellblaue Wand der ehemaligen Schiffbauhalle der Stralsunder Werft auf. Die Türme der Kirchen stechen in den wolkenverhangenen Himmel und dann befinden wir uns auf dem geschwungenen Bogen der neugebauten Brücke über den Strelasund. Kurze Zeit später rollen wir auf die Insel Rügen.
Die Straßen auf der Insel sind an diesem Samstag nicht besonders voll. Das ländliche Rügen schläft.
Ankündigungsschilder für das Lindner-SPA-Ressort schreien uns allerdings vom Straßenrand in Trent an. Nach einiger Zeit erkenne ich am Horizont die Silhouette des Haupthauses. Sie sieht genau so aus wie im Internet.
Ein schmaler Pflasterweg führt uns abrupt von der Straße weg aufs flache Land zum Ortsteil Vaschwitz.
Ein Gästeparkplatz des SPA-Ressorts verbirgt sich hinter tropfenden Büschen und Bäumen und ist kaum befestigt. Der Nieselregen hängt wie ein Schleiervorhang vor dem Haupteingang.
top
Wir betreten das Wellness und SPA Hotel Lindner durch eilfertig zur Seite schlurrende Automatiktüren. Nun befinden wir uns endlich in der großen Halle des Haupthauses. Direkt mittig winscht ein gläserner Fahrstuhl geräuschlos ein extrem dickes Pärchen in Bademänteln auf eine höhere Ebene. Zwei Familien versinken gelangweilt in den Lobbysofas. Es ist 15:00 Uhr. Ich höre Kaffeetassen klappern. Wir schreiten mit gezücktem Reisegutschein zur links hinter ein paar Säulen versteckten Rezeption. Am Computerbildschirm hockt ein vollbärtiger Rezeptionsnerd. Akzent und Namensschild verweisen auf dessen spanische Herkunft. Mit einem gestanzten Lächeln wünscht er uns einen guten Tag.
»Hatten Sie eine gute Anreise« fragte er mit gut einstudierter Höflichkeit.
»War ok«, antworte ich.
Er unterzieht unsere Unterlagen einer eingehenden Untersuchung, hämmert etwas in den Computer und teilt uns ohne den Gesichtsausdruck auch nur ansatzweise zu variieren mit:
»Ihr Zimmer ist noch nicht fertig. Kommen Sie doch in einer Stunde wieder.«
Der Bartwichtel drückt uns einen Halbpensionsessensgutschein für den heutigen Abend in die Hand und verneint, die Frage, ob wir, da wir für drei Tage gebucht hatten, auch Gutscheine für die anderen beiden Tage bekommen würden. »Nein. Ich hab hier nur den einen im Buchungsmaterial vermerkt.« »Aber wir haben doch für drei Tage gebucht, inklusive Halbpension.«
Er guckt auf den Reisegutschein, als würde er dort eine Lösung des Problems finden, aber da das Problem nicht der Gutschein, sondern wir sind, kann er nichts Zufriedenstellendes finden.
Leider ist weit und breit keine Empfangschefin in der Nähe. Ich wünschte, sie käme mit der besänftigenden Erklärung: »He is from Barcelona« aus dem Büro.
Wir spazieren verstört durch die Halle, an den kaffeetassenklappernden Gästen vorbei durch den Wintergarten. Dort wollen wir zur Tür hinaus, um uns die entfernt grau schwappernde Ostsee anzuschauen. Die Tür ist verschlossen. In einem abseitigen Treppenflur finden wir einen Ausgang, der uns an die regengesättigte Luft lässt. Der grasfeuchte Weg führt uns an matschigen Beachvolleyballplätzen vorbei direkt an den Strand.
top
Der Strand ist eine kleine, fünf Meter breite aus dem Schilf gehackte Versandung, die nicht auf die Ostsee, sondern auf den Rassower Strom führt. Schwäne und Möwen treiben in der flachen Dünung. Hinter dem Nebelschleier und der vorgelagerten Halbinsel Bug erkenne ich die Erhebung des Hiddenseer Dornbusches mit dem ehemaligen Kachelmannleuchtturm. Man lockt hier mit der Ostsee und findet eine von Seevögeln vollgeschissene Brackwasserlagune. Wie schön muss es hier im Sommer sein, wenn Kind und Kegel in Schlamm und Schnodder dümpeln.
Vielmehr lässt sich im Außenbereich weder anstellen noch ansehen. Wir kehren unter die vier Sterne zurück und gesellen uns zu den kaum noch aus den Sitzkissen der Lobbysofas herausschauenden anderen auf ihre Zimmer wartenden Familien. Diese werden nach und nach mit der Aussage aus ihren Sitzgruppen geködert, dass ihre Zimmer nun fertig wären. Wir dürfen noch eine halbe Stunde in den Kissen wühlen.
Doch irgendwann gehören auch wir zu den Privilegierten, die Letzten in der Gruppe. Der kleine, der sehr kleine Spanier kommt mit einem goldenen Schlüsselchen angeklimpert.
top
Es ist kurz vor vier. Wir dürfen. Unser Zimmer ist für durchschnittlich große Menschen geräumig, wenn auch nicht üppig. Ein Wäscheschrank mit Falttüren steht an der schmalsten Stelle des Raumes. Er ist von innen beleuchtet. Das Bett steht quer und füllt den Raum gut aus. Der Teppich ist rot gestreift und weist keine deutlich auffallenden Flecken auf. Vor dem Fenster steht ein Sekretär. Klappt man dessen Schreibplatte hoch, verwandelt sich das ganze Ensemble in ein Frisiertischchen mit rundem Spiegel. Das ist originell. Allerdings verstellt das Gerät den Zugang zur Terrasse und muss deshalb zügig weichen. Wir schieben es an eine freie Wand neben dem Bett. Weniger stilvoll ist der zu groß geratene Flachbildfernseher, untergebracht auf einem Schränkchen, das für ein dezenteres Gerät angeschafft wurde. Im unteren Bereich des Schränkchens müht sich ein kleiner Kühlschrank damit ab, eine Flasche Wasser warmzuhalten.
Die Terrasse selbst wurde von störendem Mobiliar befreit. Man kann auf einen kleinen Teich sehen. Sehr groß sind weder Teich noch Terrasse. Doch immerhin genügt der Platz einem Raucher, dem Regen nichts ausmacht, um sich seinem Freigang zu widmen. Leider rauche ich überhaupt nicht.
Im Zimmer befinden sich noch ein kleiner Ausziehtisch und zwei einfache Stühle mit Polster, die so an einer Wand angerichtet sind, wie in einem engen Wartezimmer.
Ich inspiziere das Badezimmer. Gegenüber der Tür bedeckt ein riesiger Spiegel die Wand. Davor verschwindet ein Waschbecken in einer Platte aus glänzendem Granit. Rechts steht das Klo und links füllt eine hochwandige Badewanne den restlichen Raum. Sie ist groß genug, um jemanden, der gerade mal 1:70 m misst, genügend Platz zum Ausstrecken zu bieten. Der Stöpsel hält allerdings das Wasser nicht richtig zurück und ich muss nach wenigen Minuten neues Wasser hineinlassen, um nicht im Trockenen zu sitzen. Weniger mobile Menschen benötigen für den Einstieg eine Leiter.
top
Wir unternehmen einen kleinen Rundgang, um das Haus kennen zu lernen. Hinter einer Holztür scheppert es rhythmisch. Da meine Neugier gern an Klinken rüttelt, schaue ich in den Raum. Es handelt sich um einen kleinen kalten Sportraum mit einer Tischtennisplatte, an der sich zwei junge Menschen ergehen. Am hinteren Ende des Raumes befindet sich ein Tischkicker, ohne Ball. Einem der Spieler des Kickers muss jemand in einer Wutphase einen Kopf abgebissen haben. Das Dartbrett ist ebenfalls nur Wandzierde. Wir ziehen wieder ab und lassen die beiden Tischtennisspieler mit ihrem Sport allein. Im Nachbarraum ertüchtigen sich fitte Enddreißigerinnen auf Laufbändern und Crosstrainern. Die Hantelstange liegt gut bestückt, aber verwaist in der Gegend herum. Wahrscheinlich kriegt die da keiner mehr weg. Zutritt hat man hier nur in Turnzeug. Das haben wir natürlich vergessen. Am Zugang zur Haupthalle finden wir einen kleinen Laden mit Basecaps und Schwimmschlappen. Der hat laut einem Aushängeschild gerade geöffnet, ist allerdings gerade zu.
top
Mir fällt ein, dass mir beim Eintritt in die Eingangshalle das Klappern von Kaffeetassen und der Anblick einer Kuchenvitrine aufgefallen sind. Wir schreiten an der längsten Bar Rügens entlang. An einer ratternden Kasse steht eine kleine blonde Kellnerin mit spitzer Nase.
»Was kann ich für Euch beide tun«, raunzt sie. »Wie hätten gern zwei Stück Schwarzwälder Kirschtorte und zwei Milchcafé«, flöten wir.
»Na. Müsst ihr Euch aber hinsetzten. Ich weiß ja sonst nicht, welchen Tisch ich aufmachen soll«.
Wir dackeln also in den Wintergarten und setzen uns vor eine gestärkte Tischdecke. Wenig später serviert uns die Blondine das Bestellte. Die Schwarzwälder Kirschtorte, ist zwar geschmacklich durchaus als Kirschtorte zu erkennen, schmeckt aber wie nicht ganz aufgetaut. Meine wohlwollende Einstufung gibt ihr gerade so noch die Note 3 Minus.
Als wir die Kellnerin um die Rechnung bitten, nehme ich erneut dieses störende ratternde Geräusch wahr. Die Kassen, die hier immer gleich einen A5 Zettel drucken, arbeiten mit Nadeldruckern. Dafür benötigen sie etwas Zeit und eine gewisse Durchschlagsdynamik. Das kleine Maschinenstakkato sorgt nicht gerade für eine ruhige Atmosphäre.
Abseits des Wintergartens entdecken wir ein kleines abgeteiltes Separee, eine Art Kaminzimmer. Fünf Tische stehen dort fern ab des trubeligen Restaurantbetriebes, sind fein gedeckt mit Kerzenständern und Reserviert-Schildern. Im Kamin, der beidseitig bestückt werden kann, befindet sich ein vorgekokeltes Stück Holz. Ich stelle mir vor, dass es ganz reizend wäre, hier an meinem 50. Geburtstag den Abend zu verbringen. Mit Kaminfeuer und einem Essen von der Karte, die auf den ersten Blick schmackhaft klingende Gerichte aufzuweisen hat. Wir wollen die Karte näher betrachten, stehen aber der blonden Kellnerin im Weg. Also legen wir sie wieder ab und trollen uns.
Wozu ist eine Rezeption gut, wenn nicht auch für die Reservierung eines Tisches.
Dort hat sich eine weitere Fachkraft eingefunden. Auf Nachfrage händigt sie uns die beiden überfälligen Halbpensionsgutscheine aus.
»Mein Mann wird am Montag 50«, petzt meine Herzdame der Rezeptionistin.
»Da würden wir gern einen Tisch im Kaminzimmer reservieren. Können wir dort auch á la Carte essen? Die Küche scheint ganz ordentliche Gerichte anzubieten.«
»Selbstverständlich. Ich reserviere sie für ...?«
»19.30«
»... für 19.30 vor. Sie können bei der Abreise den Halbpensionsgutschein bei mir abgeben. Ich verrechne das dann.«
»Das ist nett. Vielen Dank.«
Na, das scheint ja problemlos zu klappen, denke ich. Vielleicht wird es ja doch noch ganz schön.
top
Halbpension bucht man meist dann zu seinem Hotelzimmer dazu, wenn man entweder zu faul ist, sich eine Alternative zu suchen oder es im Umkreis des Hotels keine gibt.
Drei Tage in einem Hotel zu verbringen, das nach seiner Selbstbezeugung im Internet über mehrere Gaststuben verfügt, sollte kulinarisch nicht langweilig werden. Das Lindner-SPA-Resort Rügen besitzt fünf unterschiedlich getaufte gastronomische Örtlichkeiten. Deck 1 serviert Küche à la Carte. Dabei handelt es sich um den Bereich des Wintergartens, der mit einer besonders schönen Panoramaaussicht wirbt. Das Achterdeck offeriert Frühstück und Abendbuffet und umfasst alle Tische zwischen Fahrstuhl und Wintergarten. Die Old Smugglers Sky Sportsbar versteht sich als Pub und Bierklause und prahlt mit einer kleinen rustikalen Küche. Die Hotelbar besitzt natürlich eine Barkarte, die auf Cocktails, Snacks und nachmittags auf den Verkauf von Kaffee und Kuchen spezialisiert scheint. Und dann gibt es eine Räumlichkeit, die sich Strandgut nennt. Auch hier soll es Essen laut Abendkarte geben. Zudem befindet sich neben dem Wintergarten dieses kleine elegant wirkende Kaminzimmer mit dem beidseitig betrachtbaren Kamin. Beim Vergleich der Bilder im Internet und der Realität übermannt mich Bewunderung. So bild- und wortgewandt können kreative Illusionsverwalter gestalten, wenn sie fünf verschiedene Sitzgelegenheiten beschreiben, die alle von derselben Küche bedient werden, die allerdings nicht jeden Tag das volle Angebot auffährt.
Wir betreten am Abend einen spartanisch eingerichteten Tagungsraum. Alle Tische sind in Reihen ausgerichtet. Es wirkt wie eine Betriebskantine. An der Wand dampft ein Büfett über kleinen Flammen vor sich hin, die den Großteil des im Raum befindlichen Sauerstoffs für sich beansprucht haben. Den Rest der Luft teilen sich etwa 100 Abendgäste. Ihre Mahlzeit nehmen sie zum Teil im Stehen zu sich. Die Sitzgelegenheiten sind ausgeschöpft. Beim Betrachten der gierig ihr Essen herunter schlingenden und ein weiteres Mal zum Büffet hastenden Hotelgäste gewinne ich den Eindruck, sie hielten diese Form der Beköstigung für völlig normal. Sie besuchen ein Vier Sterne Hotel zur Erholung und drängeln sich mampfend um Futtertröge, als würden sie sonst nur an einmal die Woche was Warmes bekommen. Wir steuern rückwärts wieder hinaus, ohne den Versuch zu unternehmen, Teil der Atem- und Essgemeinschaft zu werden.
Die Tische im Achterdeck werden über die Abendkarte versorgt. Ein paar Tische sind frei. So leer, wie wir vermutet hatten, ist das Hotel doch nicht. Im Gegenteil. Die 150 Zimmer des Ressorts scheinen ausgebucht zu sein. Wir sitzen in der Nähe des Fahrstuhls und ich studiere abwechseln die Abendkarte und die Hotelgäste, die mit tropfenden Haaren und nassen Badelatschen im Bademantel durchs Haus flanieren. Die Karte ist interessanter. Ich finde verschiedene Fischgerichte, Geflügel und Wildgerichte, auch Vegetarisches könnte man wählen. Bei den Vorschlägen, die die Karte zu den Wildgerichten macht, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Unter dem Begriff Wildwochen wird Reh, Hirsch und Wildschwein angeboten. Ich reiße mich tapfer zusammen und beschließe, dies am Montagabend als Geburtstagsessen zu wählen. So konzentriere ich mich für den Moment auf die Fischkarte. Der Vaschwitzer Fischtopf als Suppe und die Vaschwitzer Fischpfanne suggerieren dem Gast fangfrischen Fisch von vor dem Haus zu bekommen. Ich denke, dass sich auch hier die Kreativität des Gestalters zu voller Blütenpracht aufgefächert hat. Sicher zieht hier nicht täglich der Hausangler mit seinem Bötchen durchs Brackwasser, um abends eine Kiste handverlesener Selbstgefangener abzuliefern. Die Fische kommen aus dem Lieferwagen und den Namen erwirbt sich das Gericht dadurch, dass es hier in Vaschwitz am Bodden zubereitet wird. Mit ähnlich großem Einfallsreichtum hat sich die Küche an die Herstellung der Vorspeise gemacht, an der meine Herzdame ihrerseits ihren Spaß hat. »Essenz von der Tomate« betitelt man das heiße Wasser in der Suppenschüssel, in deren Tiefen drei halbe Partytomaten paddeln. Ihr Hauptgericht, ein Teller mit Nudeln und Fenchel, also was Vegetarisches, scheint einigermaßen essbar zu sein.
Das Abendessen am ersten Abend ist ganz zufrieden stellend, sieht man von den permanent ratternden Nadeldruckern ab. Die nervtötenden Maschinen stehen in direkter Konkurrenz mit der Schlagermusik, die aus dem Deckengewölbe kleckert und die ganz natürlich zur akustischen Textur eines Hotels zu gehören scheint.
top
Am folgenden Morgen verlassen wir gegen 9:00 Uhr unser Gemach. Ein zwei Personen starker Servicetrupp lauert schon mit Laken und Staubsaugern im Gang, um hinter jedem, dem Frühstück zustrebenden Gast ins Zimmer zu stürmen und eine eilige Grundreinigung durchzuführen. Laken werden gewechselt, Müll entsorgt und das Bad durchgeputzt. Die leeren Flaschen nehmen sie jedoch nur mit, wenn sie im Mülleimer stehen.
Im großen Saal befindet sich das Frühstücksbüffet an der Stelle, an der wir abends zuvor gesessen haben. Es hat den Anschein, als wären bereits sämtliche Hotelgäste auf den Beinen und unterwegs auf den Ameisenstraßen rund um die Frühstücksangebote. Im Großraum des Gastronomiebereichs und im Wintergarten ist kein einziger freier Platz mehr zu haben. Im Kaminzimmer sind die Tische gedeckt und mit Reserviert-Schildern gesperrt. Wir finden ein Platz im Old Smugglers Pub. Das ist ein Segen, denn der Raum ist nahezu leer und angenehm ruhig. Keine knatternden Kassen, keine murmelnden Menschenstimmen, keine lauten Gespräche an Nachbartischen, die einen hindern, ein eigenes zu führen. Old Smugglers wirbt an einer Kreidetafel mit gemütlicher Abendunterhaltung. »Fußball bei Sky Sport mit Fish and Chips und Guinness« für 10 Euro. Das klingt nach einer guten Idee für den Abend. Die Holztheke im Pub wirkt alt, wenn auch für klassische Pubverhältnisse zu sauber und zu gepflegt. Im Moment sind wir mit unserem Kaffee zufrieden. Wir essen vom gut bestückten Frühstücksbüffet so viel, wie vernünftig ist oder auch ein bisschen mehr.
top
WELLNESS …
Wenn sich schon mal die Gelegenheit bietet, sich auf einer Wohlfühlfarm verwöhnen zu lassen, sollte man dieses Angebot nicht ausschlagen. In frisch gestärkten weißen Hotelbademänteln und Frotteeschlappen vom Haus folgen wir dem durch die Gänge wabernden Chlorgeruch und stehen vor einem überraschend leeren Badeparadies. Tags zuvor hatten wir bei unserer Erkundung den Wellnessbereich bereits gesucht und eine überfüllte kleine Schwimmhalle mit reservierten Liegen und laut planschenden Fünfjährigen vorgefunden.
Die Rezeption im Vorraum des Feuchtgebietes liegt verwaist im Halbdunkel. Für frische Badetücher gilt Selbstbedienung. Damit entfällt für den Moment auch die Möglichkeit, sich für eine Massage vorzumerken.
Drei identische Türchen führen ins Innere. Lediglich ihre geschlechterspezifische Zuordnung in »Mann«, »Frau« und »Personal« unterscheidet sie. Neugierig, wie sich »Personal« der gängigen Geschlechtszuordnung entzieht, rüttele ich an der Tür. Sie ist geschlossen. Auch im Innenraum füllt ein gut ausgestatteter Tresen ein paar Quadratmeter, an dem man so viel Badetücher, Getränke und aktuelle Magazine zu ordern wären, wäre jemand zum Ordern da. Entweder haben sich die Mitarbeiter hinter der »Nur für Personal« Tür verschanzt oder sonntags immer frei.
Fotografie ist die Kunst eine optische Illusion zu erschaffen, der die Realität nichts entgegen zu stellen hat, als ihr trotziges Durchsetzungsvermögen.
Im Falle der beiden Schwimmbecken des Wellnessareals ist die Wirklichkeit von der Webpräsentation ungefähr so weit entfernt, wie die aktuelle Werbung der Berliner Verkehrsbetriebe. Deren Selbstdarstellung unter dem Slogan »Weil wir dich lieben« kann sich nur ein Mensch ausgedacht haben, der bereits als Erstklässler mit dem Luftgewehr auf schlafende Frösche geschossen hat. Wann immer ich im Straßenbild ein Verkehrsmittel mit dieser Botschaft sehe, muss ich an Erich Mielke denken. Dessen finales Lebensmotto »Ich liebe doch alle Menschen« scheint, wie ich im weiteren Verlauf meines Aufenthalts erlebe, ebenfalls sehr tief in der Servicephilosophie des Lindner SPA-Reservats auf Rügen eingewebt zu sein.
Die beiden Schwimmbecken sind bestimmt ganz lieb gemeint. Das Innenbecken, das in seiner Ausdehnung mit einem kräftigen Schwimmschlag von Seite zu Seite zu durchmessen ist, korrespondiert mit der Temperatur des zugedeckten Außenbeckens. Sicher wird es aus Heizkostengründen in der kalten Jahreszeit nicht in Betrieb genommen. Ich verlasse das kühle Wasser schnell wieder und steige in meine Frotteeschlappen. Frottee besitzt die Eigenschaft, Feuchtigkeit aufzusaugen. Da kein Personal zusehen ist, weder tätig noch lungernd, welches den feuchten Fliesenboden hin und wieder trockenpuschelt, gewinnen die Schuhchen schnell die Eigenschaft von gut geschliffenen Schlittschuhen. Mehrmals entzieht sich der Boden unter den Füßen eigenwillig meinem festen Tritt und ich flutsche wie ein Betrunkener durch die Badeanstalt.
Sollte man einen Wellnessbereich nicht ständig mit Personal besetzen? Was, wenn sich ein Badegast mal verletzt, ausrutscht, aus eigener Kraft nicht aus dem Schwimmbecken oder der Sauna rauskommt. Vielleicht denkt man sich, dass sich
sicher ein des Ersthelfens kundiger Hotelgast findet, der eingreift.
Mir wird kalt. Der Badebereich ist nur nachlässig geheizt. Wir steigen in einen wärmer wirkenden Whirlpool, aus dessen Blubberblasen ein Kopf herausragt. Welche Ausmaße die rundum weibliche Person unter dem Hals ausmacht, bemerke ich erst, als ich mich beinahe auf sie drauf setze. Ich hatte sie dort nicht mehr erwartet. Ohne auf die Fliesen zu klatschen, erreichen wir nach Ende der Whirlpool-Blubberphase den Teil des Wellnessparadieses, den der Entspannungssuchende gern als Refugium zum textilfreien Schwitzen aufsucht.
Da der Poolbereich mit seinem Charme einer Volksbadeanstalt kaum einen wohlfühlfördernden Eindruck hinterlassen konnte, gebe ich mich keiner allzu großen Illusion hin, hinter der Milchglasscheibe mit der Aufschrift »Sauna« in einem Tempel caracallischer Opulenz lustwandeln zu können. Die Einfallslosigkeit dieser funktionell eingerichteten Nasszelle lässt sich allerdings nicht mehr mit der Bezeichnung »geschmackvolle Schlichtheit« rechtfertigen. Schlagartig wird mir bewusst, was das SPA-Konzept für eine Bedeutung hat. Man lässt das »ß« weg, traut sich dann aber doch nicht, das sich deutlich anbietende »r« anzufügen. Offensichtlich darf sich jedes Haus den Wellnessstempel aufdrücken, das über fließend warmes Wasser verfügt.
Ein Großteil des Raumes besteht aus einer großzügig in den Boden hineingefliesten Duschtasse. Während sich die Duschen über ausreichend Licht freuen dürfen, stolpert man im angrenzenden Ruheraum in nahezu völliger Dunkelheit über die abgezählten Liegen.
Zwei Holzverschläge beherbergen die Saunen. Auf eine Tür hat man die Aufschrift 65° geklebt, auf der anderen steht 85°.
Wir huschen in den ersten Raum. Er ist recht klein und in der oberen Ecke kuschelt ein Pärchen aneinander. Dies tut es wohl, weil ihm kalt ist. Die gefühlte Temperatur sagt mir schnell, dass die 65° hier noch längst nicht erreicht wurden.
Wir versuchen es mit der anderen Sauna, die sich als wesentlich besser geheizt erweist. Der Raum ist größenmäßig identisch mit der kälteren Sauna. Wir sind allein. Kurze Zeit später kommt das Pärchen aus dem benachbartem Iglo zu uns und freut sich ebenfalls, dass es hier schön warm ist. Zu viert hat man ausreichend Platz. Auch zu sechst drängt man sich noch mäßig Backe an Backe in dem Verschlag. Mehr geht allerdings nicht und als sich die nächste Person in der Tür ankündigt, suchen wir das Weite. Wir tropfen über die Teppiche der Hotelflure zu unserem Zimmer und erholen uns in einer warmen Badewanne.
top
Am Abend ist die Büffetanrichtung immer noch an derselben Stelle, wie am Morgen. Nur die Speisen haben sich verändert. Es sieht ein wenig gehaltvoller, vor allem liebevoller aus, als das, was am Abend zuvor im Tagungsraum aufgebahrt lag. Auch die Zahl der Menschen hat sich zum Positiven verändert. Es sind am Sonntagabend deutlich weniger. Ein großer Teil der Gäste scheint am späten Morgen abgereist zu sein. Es gibt ausreichend Platz. Im Zentrum des Büffets steht ein älterer Herr mit Kochschürze hinter einem Brett mit Krustenbraten. Er wirkt ein wenig deplatziert - der Mann, nicht der Braten. Beim Schneiden und Servieren der Bratenscheiben zittern seine Hände, als habe er Lampenfieber. Es klappern die Tassen, es rattern die Kassen. Aus den Boxen über uns im Gebälk jodelt Helene.
top
Gut gesättigt begeben wir uns noch in den Old Smugglers Pub. Der Tresen ist auch am Abend nicht besetzt. Wahrscheinlich sieht das Schmuckstück deshalb so unverletzt aus. Ob es Fish mit Schlips gibt, frage ich erst gar nicht, da ich am Büffet ganz gut satt geworden bin. Außerdem läuft auch kein Fußball, sondern nur ein langweiliges Autorennen. Selbst der Flachbildschirm an der Wand findet das nicht besonders unterhaltsam und erklärt im Untertitel, dass er sich in wenigen Sekunden in den Standbymodus schaltet. Schlau sind diese modernen Geräte heutzutage. Mannomann. Wir hätten gern ein Guinness, aber ein Kellner ist nicht in Sicht. Vom Nebentisch prosten sie uns zu und sagen, entweder kommt einer oder nicht. Ich bewege mich also wieder raus aus dem Pub in die Halle und finde den Kellner an der längsten Bar Rügens, wie er sich gerade mit einer Registrierkasse duelliert. »Ja ja. Ich komme ja. Wir zapfen sowieso hier draußen« überschreit er das hackende Maschinengewehrfeuergeräusch der einen Beleg ausspuckenden Kasse. Natürlich kommt das Guinness irgendwann. Ohne Kleeblatt im Schaum, aber man will ja auch nicht zu viel verlangen. Die Rechnung für die zwei Bier stellt der Kellner an der Kasse im Pub her.
Rattattattata!
DER 50. GEBURTSTAG …
Der nächste Morgen beginnt wie der vorhergehende, mit Frühstück vom Büffet am selben Platz im Pub. Auf der Theke liegt druckfrisch die hauseigene Morgenpost, ein einfaches A4-Blättchen mit Wetterbericht, voraussichtlichem Büffetangebot, Ausflugsvorschlägen und einem Sinnspruch. Heute stammt er von Oscar Wilde: »Reisen veredelt den Geist und räumt mit allen Vorurteilen auf.« Ich würde dem alten Dandy gern recht geben, aber ich reise meist ohne Vorurteile los und bilde Nachurteile.
Drei Tage SPA-Ressort Lindner auf Rügen liefern reichlich Stoff zum Werten. Besonders wenn man während des Aufenthalts in die für einen persönlich einmalige Situation gerät, fünfzig Jahre alt zu werden.
Der 50. Geburtstag ist kein unbedeutendes Jubiläum. Ich kenne Leute, die das nonchalant überspielen. Einige schaffen es, mit diesem Stichtag in eine tiefe Depression zu fallen. Andere drehen noch einmal kraftvoll an der Uhr, laufen Marathon, legen sich teure Motorräder und junge Frauen zu.
Mit der Erkenntnis, dass das Alter durchaus eine Rolle spielt, will selbst ein Geburtstagsmuffel, wie ich, dass der Tag ein bisschen besonders wird.
Auf keinen Fall benötigt man an einem Tag wie diesem eine persönliche Herabwürdigung.
Leider ist eine Herabwürdigung genau das, was das Lindner-SPA-Ressort auf Rügen an diesem Tag als gelungenstes Geschenk für mich ausgewählt hat.
Obwohl.
Ich habe natürlich dafür gezahlt.
top
Im großen Saal drängen sich wie abends zuvor die Gäste um ein Büfett. Ich schaue neugierig in die Töpfe. Ein bisschen Fleisch, ein bisschen Fisch, alles eher lau und pappig. Aber das kann uns ja heute egal sein. Das Kaminzimmer ist leer. Die Tische sind auf gleiche Weise gedeckt, wie schon an den Vortagen. Heute fehlen allerdings die Reserviert-Schilder. Vielleicht wird der Raum einmal am Tag abgestaubt. Man könnte von dezenter Beleuchtung reden, wenn man das Fehlen von Licht für dezent hält. Lediglich aus den Hauptsälen strahlt es etwas herein. Der Kamin ist so kalt, wie in eine Theaterdekoration.
Aber wir sind noch zehn Minuten zu früh. Vielleicht gibt es gleich einen lauten Tusch.
Gibt es nicht. Stattdessen erscheint die kleine spillrige Kellnerin, der wir schon vor zwei Tagen erfolgreich im Weg gestanden haben.
Wir erklären ihr, dass wir einen Tisch im Kaminzimmer reserviert hätten und dort á la Carte speisen wollen.
»Wohl kaum« antwortet sie. Die Frau schafft es, obwohl sie kleiner ist als ich und ich bin nicht sehr groß, von unten heraus auf uns herabzublicken.
»Dieser Raum wird zurzeit nicht bedient« ergänzt sie und glotzt, als habe sie es mit geistig Zurückgebliebenen zu tun.
»Aber man hatte uns an der Rezeption zugesagt, einen Tisch im Kaminzimmer zu bekommen und á la Carte Essen zu können«. Die Kellnerin entlässt genervt etwas Luft durch die Zähne, als habe sich jetzt bestätigt, dass wir tatsächlich geistig derangiert sind, unterbricht die weiteren Ausführungen meiner Frau und stellt fest: »Sie sind der Fünfzigste.«
»Ja.«
»Wir hatten ein Tisch am Fenster mit Blick nach draußen für sie eingedeckt.«
»Ok.«
»Da haben sich jetzt aber schon andere Gäste hingesetzt.«
Am Fenster im Wintergarten. Mit Blick auf die Ostsee - die hier noch gar keine Ostsee ist - an einem regnerischen Novemberabend im Kreise von 150 weiteren Gästen. Klingt romantisch und dem Anlass angemessen. Schade, dass wir das verpasst haben. »Und à la carte haben wir heute nicht«, hängt sie noch dran.
»Bitte?«
»Keine Küche nach Abendkarte«, übersetzt sie fließend aus dem Französischen.
»Was gibt es den dann?«
»Büffet.«
»Iss nich ihr ernst.«
»Ich kann da auch nichts mehr organisieren. Das hätten Sie anmelden müssen.«
Als wir erklären, dass wir genau das getan haben, zuckt sie nur uninteressiert mit den Schultern.
»Ich kann ihnen aber noch schnell einen anderen Geburtstagstisch eindecken. Geht schnell und ist für mich kaum ein Aufwand.«
Das täte mir jetzt aber auch Leid, wenn es auch noch ein Aufwand wäre, denke ich und schäume langsam über. »Danke«, sagte ich gnatzig. »Das will ich dann auch nicht mehr. Ich gehe ins Zimmer und knabbere feierlich an der Tischplatte.«
Ich mache mich bereits auf den Weg.
»Warten sie,« wieselt uns die Kellnerin hinterher. »Sie setzen sich jetzt an diesen Tisch«, befiehlt sie. »Und ich bringe Ihnen ein Glas Wein auf Kosten des Hauses. Was hätten Sie denn gern.«
Die Schleimspur, die Sie jetzt mit kriecherischer Kellnermentalität auswirft, bringt mich fast dazu meine guten Manieren zu vergessen. Der Abend ist verdorben und ich könnte jetzt ein Mordsfass aufmachen, weil ich mich im Recht fühle und meinen verdammten Tisch haben will. Allerdings bin ich nicht der Typ, der lautstark ein Recht einfordert, das sich in einer Serviceleistung äußert. Was bringt es, wenn das Lächeln der Bedienung, das man sich eingeklagt hat, ein erzwungenes ist und die gute Laune, die man zu Schau stellt, nur ein Triumph, den man mit Wut erkauft hat, die nicht verrauchen will.
Mit grummelndem Schlucken der Umstände opfere ich das letzte bisschen Würde, das ich habe, und knicke unter der geheuchelten Charmeoffensive dieser Kellnerette ein. Meine Gattin fragt: »Können Sie mir was von dem Pinot Blanc bringen, den Sie auf der Karte haben?«
»Wir haben keinen Pinot Blanc.«
»Sicher haben Sie den.«
»Nein. Wir haben Weißburgunder.«
»Weißburgunder ist Pinot Blanc« zischt meine Liebste.
»Das weiß ich doch nicht«, erwidert die Fachkraft des Servierwesens gereizt und fängt sich damit ein schmerzliches Eigentor ein. Bei Wein kann die Herzdame fachliche Inkompetenz nur schwer tolerieren.
»Und was kann ich Ihnen auf Kosten des Hauses anbieten?«
Ich hätte jetzt gern einen 1990er Buzet verlangt. Gran Cru. Aber abgesehen davon, dass der bestimmt nicht vorrätig ist, weiß ich auch nicht, was in diesem Haus gerade das Teuerste ist. Ich wähle also was Italienisches, weil hier nichts Französisches angeboten wird. Wir setzen uns artig und wenig später stellt die persönlich um unser Wohl bemühte Kellnerin eine Kerze auf den Tisch. Die muss heute schon einmal woanders gebrannt haben, tut es jetzt aber gerade nicht. Blumen gibt es auch. Ein Strauch von dem Gebüsch vor dem Wintergarten, mit den schönen roten Beeren dran. Sogar noch ein bisschen feucht.
Der Wein kommt kurz darauf. Die Spitzmaus heuchelt perfekt unterwürfig die herzlichsten Glückwünsche des Hotels heraus. Wir bestellen noch eine Flasche sprudelndes Wasser. Kostet fünf Euro, die wir dann selber bezahlen müssen. Jetzt können wir uns endlich um das leckere Abendessen kümmern. Wir scharwenzeln zum Büffet, das mittlerweile gut geplündert aussieht. Zwei Scheiben Schweinefleisch wandern auf meinen Teller, ein paar Pommes und etwas Krautsalat. Auf dem Teller der Liebsten liegt am Ende der Fisch. Ihr Blick wandert noch zu einem Dessert. Nicht übel sieht es aus. Sie hebt sich das für später auf, was sich noch als Fehler erweisen wird.
Während wir so am Kauen sind, das Fleisch erweist sich als durch und durch durch und der Fisch als zu lange gedämpft, erscheint unsere Lieblingskellnerin und fragt, ob alles in Ordnung und wir zufrieden seien. Ich schaue zum Nachbartisch, wo das Pärchen bei Kerzenlicht gerade eine Suppe serviert bekommt. Am Tisch hinter uns beginnt ein anderes Paar damit, sich über eine Portion Wild zu freuen.
»Alles ganz großartig. Haben Sie toll gemacht. Gibt also nur Büffet. Was ist denn das da?«
»Die haben ein Candlelight-Diner bestellt«.
»Wieso hat man uns das nicht angeboten?«
»Wahrscheinlich haben Sie nicht danach gefragt. Kann der Teller weg?«
Meine Gattin kommt wenig später geknickt vom Dessertstand zurück. »Die hatten nur noch etwas braunen Schleim mit etwas gelben Schleim oben drauf«, erklärt sie. Ich verlange die Rechnung und zudem, dass die beiden Gläser Wein mit in Rechnung gestellt werden. Ich will mir unter diesen Umständen nichts schenken lassen. Sie verweigert beharrlich dieses Anliegen und meint es bereits verbucht zu haben. Als Geschenk und Serviceleistung des Hauses.
Wenigstens zündet sie beim Abräumen noch die Kerze an. Trinkgeld gibt's keins. Die Rechenmaschine rattert und spukt eine A5-Seite aus, die einen Betrag von fünf Euro ausweist. Geht auch aufs Zimmer. Genau wie wir.
Dort ist die von zu Hause mitgebrachte Flasche Wein korkig.
Meine Frau zieht noch mal los an die Bar, um für Ersatz zu sorgen.
Ihre Anfrage nach einer Flasche Rosé, den man probieren könne, wird von der Kellnerin abgelehnt, weil sie nur eine Sorte Rosé hat und der als Flaschenwein nicht zum Probieren geöffnet wird, sondern nur verkauft.
Einen offenen Rosé habe sie allerdings auf der Weinkarte. Der schmeckt aber nicht. So bestellt sie eine Flasche von dem Italienischen, den wir am Tisch tranken.
»Ich berechne den mal als fünf Gläser. Entgegenkommen des Hauses. Macht dann dreißig Euro.« Mehr als fünf Gläser sind im Allgemeinen auch nicht drin in einer Flasche Wein.
»Soll ich Ihnen die Flasche öffnen« fragt sie anbietend.
»Danke. Nein. Das kann ich auch noch allein«. Während die Kasse ratternd die Rechnung schießt, legt die Kellnerin des Jahres noch nach: »Ich bringe Sie Ihnen auch aufs Zimmer und serviere sie dort«. Bei dieser Art gespielter Unterwürfigkeit kann man kaum tiefer auf dem Fußboden liegen.
»Lassen Sie das bloß bleiben«, sagt meine Frau, unterschreibt, reißt ihr die Flasche aus der Hand und stolziert erhobenen Hauptes aus dem Saal.
Die Flasche Wein ist geschmacklich ganz ordentlich. Die Laune hebt sich dadurch aber nicht.
Ich werde nie wieder meinen fünfzigsten Geburtstag in einem Wellness-Ressort der Firma Lindner verbringen, schwöre ich feierlich.
top
Mein letzter Gang führt mich noch einmal zur Rezeption. Dort steht eine Frau, die ich bisher noch nicht gesehen habe. Sie hat müde Augen und schwarze Haare, durch die sich silberne Fäden ziehen. Ich reiche ihr meinen Schlüssel, biete ihr an, meine restliche Rechnung zu bezahlen und schiebe die verbliebenen Halbpensionsgutscheine über den Tisch. Sie tippt ein bisschen im Computer herum und kurze Zeit später surrt ein kaum vernehmbarer Laserdrucker die Rechnung aus. Auf der Rechnung befinden sich lediglich die Getränke, der Wein und der Kuchen vom Samstag.
»Da hatte der Kollege schon am Samstag was falsch registriert« beantwortet sie meinen fragenden Blick. »Hatten Sie denn ein paar schöne Tage?«
»Kann man jetzt nicht so sagen«, antworte ich ausweichend.
»Na ja. Bei dem schlechten Wetter kann man nicht viel machen«, smalltalkt sie abwesend, während sie meine Visakarte durch die Registrierkasse prügelt.
»Mit schlechtem Wetter kann ich gut umgehen.«
Erstaunt blickt sie auf. Immerhin. Sie versteht Subtext. »Was war denn?«
»Ist jetzt nicht der Knall im All, was Sie hier so veranstalten.«
»Wenn Sie wollen, können Sie hier auf diesem Fragebogen kundtun, wie Sie mit dem Service zufrieden sind.«
Ich betrachte das A4-Blatt, auf dem man ein paar Kreuze oder Kringel im Stile von gut, sehr gut und eher nicht so machen kann. »Da können Sie dann auch Ihre Meinung äußern. Die da oben lesen das aufmerksam.«
Es sagt eine Menge über ein Unternehmen aus, wenn der Mitarbeiter von seinen Arbeitgebern als von »denen da oben« redet. Der Angestellte fühlt sich dabei als angestellt. Ist eben nur ein Job.
Servicekräfte im Hotel- und Gastronomiebetrieb arbeiten unmittelbar am Gast, der die fehlende Motivation schnell zu spüren bekommt. Für das SPA-Ressort Lindner auf Rügen ist das ein ziemliches Dilemma. Der Gast, der erst für die Existenz des ganzen Betriebes verantwortlich ist, scheint auch das größte Ärgernis zu sein. Dieses launische, unselbständige Subjekt, steht stets störend einem gewinnbringend wirtschaftenden wollenden Unternehmen im Weg. Zwar bezahlt der Gast dafür, herablassend behandelt zu werden, aber er verursacht auch Kosten und Arbeit.
Hotelgäste glauben all zu oft, es drehe sich alles nur um sie. Diese dumme Idee treibt man dem Gast im Lindner-Spa-Ressort auf Rügen auf nicht gerade subtile Weise aus. Leider nehmen die wenigsten Gäste die vielen kleinen und größeren arroganten Herabwürdigungen überhaupt wahr.
»Denen da oben« scheint die Motivation der Mitarbeiter so egal, wie das Wohl der Gäste. Zumindest solange, wie die Statistik stimmt. Und die sollte profitabel ausfallen.
»Lassen Sie mal«, sage ich und schiebe den Fragebogen wieder zurück. »Den liest niemand.«
Sie entgegnet nichts.
Im Herausgehen schlägt mir der auf die Rechnung gedruckte Slogan des SPA-Ressort-Lindner noch einmal deutlich ins Gesicht.
Nicht nur Besser.
Anders.
Der Regen tropft auf das Papier und lässt das "nur" verblassen.