Florenz
Mehr über einen Frühlingsaufenthalt in Florenz lesen Sie hier:
Reise nach Florenz
Nachtzug nach Florenz
Alinari
Spaziergang über den Markt
Davids Dödel
Essen mit Paul Theroux
Uffizien
Calcio Storico Fiorentino
Reise nach Florenz
Juni 2002
"Dadamm-dadamm".
Das Geräusch der Bahnschwellen, das Hämmern und Klopfen, dass durch den Zug vibriert, wenn die Räder des Zuges über die Schienen rollen, das An- und Abschwellen der Signalanlagen an den herabgelassenen Schranken entlang der Strecke, das alles hat heute etwas Nostalgisches, etwas, das mit zunehmender Modernisierung weitgehend verschwunden ist. Genauso verschwunden, wie die alten Nachtzüge, mit ihren holzvertäfelten Kabinen, den klappbaren Holztischchen, den Betten, ebenfalls aufklappbar und nicht mal unbequem, den hinter einer Wand versteckten Waschbecken und dem Nachtportier in seinem Sessel am Waggonende. An all das erinnere ich mich gern, wenn ich ins Jahr 2002 zurückgehe, als meine Herzdame und ich Frühsommer, mit der neuen Eurowährung in der Tasche nach Florenz reisten.
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Nachtzug nach Florenz
Juni 2002
Mitternacht.
Am muntersten sind noch die Tauben, die über den Bahnsteig trotten, mutig auf die Abfallkörbe springen und vor Imbissen ungeduldig lauernd in der berechtigten Hoffnung, sich am Zivilisationsmüll satt, fett und krank zu fressen, sich zu nehmen, was ihnen in ihrem selbst eroberten Lebensraum zusteht. Ein Bild von dreister Selbstverständlichkeit auf allen Bahnhöfen. Es stört sie auch kaum einer, denn viel ist nicht los vor dem hier eingesetzten Nachtzug nach Florenz. Doch kaum eingestiegen, geht der Tumult los. In die Kabine, deren Funktion mir der Waggonschaffner gerade erklärt, drängen sich schwerfällig zwei Frauen, die jedes Klischee bedienen, dass man spontan Amerikanern gedankenlos zuordnet. Sie sind fett, laut und dreist. Der stämmige Bayer mit der schnieken blauen Bahnunform verdreht die Augen und entschuldigt sich. Er begibt sich an die Tür zur Nachbarkabine, vor der die eine Frau mit zwei Koffern hantiert, während die andere sich gerade durch die Kabinentür zwängt. Wie sich herausstellt, sind die beiden Grazien ohne eine Reservierung für das Schlafabteil in den Zug gestiegen. Mit großer Selbstverständlichkeit beharren sie auf ihr Recht, sich einzunisten, wo sie wollen. Wie sich herausstellt, haben lediglich zwei Fahrkarten ohne Platzreservierung vorzuweisen. Der Nachtportier macht ihnen höflich, aber deutlich klar, dass sie hier nichts zu suchen haben, da alle Abteile belegt oder reserviert sind. Die von den Frauen okkupierte zwar erst ab Innsbruck, aber sie ist reserviert. Was die Amerikanerinnen darauf hin von sich geben, kann ich nicht übersetzen. Es klingt unflätig, derb. Sie ziehen laut schimpfend weiter. Dass es auch anders geht, beweisen die beiden Studentinnen am Ende des Waggons. Ebenfalls Amerikanerinnen, ebenfalls nicht ganz leise, lassen sie die beiden dicken Damen vorbeiziehen, ziehen hinter deren Rücken Grimassen und zeigen dem Waggonportier den gehobenen Daumen. Dann prosten sie sich gegenseitig mit bayrischem Bier zu und verschwinden giggelnd im Innern ihrer Kabine des Nachtzugs nach Florenz.
Es ist ein Reisen, wie in einer Zeitblase, als Nachtzüge noch genauso aussahen, wie der, in dem wir uns gerade einrichten. Die Kabine ist kirschholzvertäfelt. Hinter einer Wand verstecken sich ein kleines Waschbecken, ein Spiegel und ein minimales Kosmetikschränkchen. Fließendes Wasser im Zugabteil. Ich spüre einen Hauch von Luxus. Ein Tisch, ebenfalls aus Holz lässt sich von der Wand klappen. Passend zum Reiseziel postiert meine Herzdame eine Flasche Chianti darauf. Die Lampen über den Betten werfen ein schummriges Licht. Und nicht viel später schlummern wir in den für Reisebetten erstaunlich bequemen Kojen. Nachts wache ich manchmal auf, höre das An- und Abschwellen der Glockensignale an den Schranken und Bahnübergängen, lausche dem Geräusch der Räder, wie sie über die Schwellen poltern, “Dadamm-dadamm” und schlafe wieder ein. Dann wache ich wieder auf, weil das Geräusch fehlt. Auf dem Gang wird leise gesprochen. Eine Tür geht mit leisem Knarzen zu. Die Waggontür wird zugeworfen. Ich linse verstohlen durch den Vorhang: “Innsbruck”. Dasselbe in Bozen. Dann wird es heller. Meine Herzdame reißt die Vorhänge auseinander. Ich werfe einen vorsichtigen Blick hinaus. Draußen eilen Zypressen vorbei. Der Himmel ist blau und die Landschaft lieblich.
“Ah” sage ich. “Italien”.
Vor Bolognia serviert der Portier ein schlichtes Frühstück. Draußen fegt die übliche Landschaft der Vorstädte großer Industriemetropolen vorbei. Werkhallen und Neubaugebiete. Manche Häuser gepflegt, andere abrissreif. Müll vor den Fassaden, die zur Bahn zeigen. Und dann wieder geschwungene Felder und Berge, die der Zug immer wieder öfter durchfährt und die Insassen für einen Moment des Lichtes beraubt. Italien besaß im Bahntrassen- und Straßenbau immer genügend findige Ingenieure, die sich durch Hügel und Berg buddelten oder sich im Brückenbau profilierten, um die Verkehrsführung trotz im Weg stehender Naturhindernisse möglichst geradlinig zu gestalten.
In einem der Tunnel kündigt der Zugführer das nahe Reiseziel an. Die Koffer noch in der Kabine lassend, schaue ich aus dem Fenster im Gang. Neben mir hat ein Mann das Fenster heruntergezogen und qualmt genussvoll aus dem Fenster. Die Stadt haben wir bereits erreicht, durchqueren kleiner Stadtteilbahnhöfe. Dann beginnen die Bremsen damit sich auf einen hohen Quietschton einzustimmen, der uns bis zum Halt im Bahnhof Santa Maria Novella nicht mehr verlassen wird.
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Alinari
Juni 2002
Am späten Vormittag streifen wir durch den Bahnhof Santa Maria Novella in Florenz. Das Leben sprudelt geräuschvoll durch die Gänge. Ansagen für Abfahrten und Ankünfte überschneiden sich. Menschen rennen mit schnurrenden Rollkoffern zu den Bahnsteigen. Andere diskutieren mit Sicherheitskräften, telefonieren schnatternd oder schauen hilflos auf die ständig wechselnden Anzeigetafeln. Neben einem Ausgang zur Straße lärmt es aus einem Wartesaal voller Menschen.Viele gestikulieren aufgeregt. Ein Teil davon ist westafrikanischer Herkunft. Die Gesichter tiefdunkel, die Kleidung weit und bunt. Im Zentrum der Aufregung flimmert ein Fußballspiel unter Beteiligung der senegalesischen Nationalmannschaft über einen großen Bildschirm. Im fernen Korea kämpfen in der WM-Vorrunde, die tapferen Senegalesen gegen Uruguay. Gerade drängen sie in Richtung gegnerisches Tor. Einige der afrikanischen Landsleute beginnen aufgeregt den Fernseher aufzuwiegeln. Da schaltet die Regie zum parallel laufenden Spiel zwischen Dänemark gegen Frankreich um, in dem die Dänen den Galliern gerade ordentlich eins auf die Nüsse geben. Die Senegalesen im Fernsehraum sind empört, als sie hören, dass ihre Mannschaft in diesem Moment ein Ausgleichstor erlangen konnten, an dem sie nicht live teilhaben durften.
Bevor es hier eskaliert, begeben wir uns langsam zum Ausgang.
Es ist mir klar, dass es zum Einchecken im Hotel Alinari zu früh ist. Trotzdem bummeln wir zielgerichtet die Straße hinunter. Es kann nicht weit entfernt sein, das Hotel Alinari. Wir haben kaum die große Hauptstraße vor dem Bahnhof überquert, da stehen wir uns auf dem Largo Fratelli Alinari. Die Namensgleichheit dieses kaum bemerkenswerten Platzes scheint mir nicht zufällig. Vom Largo gelangen wir direkt in die Via Fratelli Alinari. Die Gebrüder Alinari müssen irgend eine Bedeutung in dieser Gegend von Florenz besitzen. Und vielleicht auch darüber hinaus.
Die Suche nach der richtigen Hausnummer, hinter der sich unser Hotel verbirgt, führt uns zu einer hohen Toreinfahrt. Als Hoteleingang ist das auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Nur ein Messingschild an der rechten Seite macht mich darauf aufmerksam. Es ist ein Schild in einer ganzen Leiste von Hinweisschildern aus Messing. Sie informieren über die Anwesenheit von Zimmervermietungen und Hotels, die alle in diesem Haus untergebracht sind. Im Innern der Toreinfahrt öffnen sich zwei Aufgänge. Auf jeder der vier Etagen freuen sich völlig verschiedene Herbergen über Gäste.
Das von mir anvisierte Hotel Alinari erreichen wir über den rechten Hausaufgang. Relativ schmucklos präsentiert sich der Zugang im Erdgeschoss. Ein roter Terrazzoboden endet vor einem alten Fahrstuhl. Der besteht jier aus einer Art Gitterbox, nicht größer als eine Telefonzelle. Neben dem Aufzug versichert ein Pappaufsteller, dass die Hotels Air Conditioned sind. Direkt dahinter hat jemand eine bis auf den Stumpf abgemagerte Yuccapalme versteckt.
Ich beschließe, die Treppe zu nehmen. In Fahrstühlen wird mir immer so klaustrophobisch. Abgekämpft in der vierten Etage angekommen finde ich die Eingangstür mit einem Empfangstresen verbaut. Ein müder junger Mann sitzt hinter einem Computer mit einem betagten Bildschirm. In einer Ecke zischt ein Nadeldrucker. Ich lege ihm, den Computerausdruck der Hotelbuchung vor. Er überfliegt diesen mit starkem Gähnen. Dann sagt er erwartungsgemäß, das Zimmer sei noch nicht bereit. Ich biete ihm an, das Gepäck hier zu lassen und ein paar Stunden spazieren zu gehen. Was er akzeptiert.
Unten stelle ich mich vor die Toreinfahrt und betrachte das Gebäude. Im oberen Teil des Rundbogens fällt mir ein sepiafarbenes Bild auf. Es zeigt dieselbe Einfahrt, vor der ich stehe, nur etwa achtzig Jahre früher. Damals preiste an der Stelle des Bildes eine Werbetafel eine Fotoausstellung der Gebrüder Alinari an. Rechts, wo heute ein Uhrenladen seine Markenmodelle verkauft und links, wo Wurst und Oliven angeboten werden, konnten Ausstellungsräume der erfolgreichen Fotografieunternehmer besucht werden. Die Brüder residierten mit ihrem Studio im ersten Hof. Wie ich später herausfinde, gründeten die drei Brüder Alinari ihr Fotogeschäft im Jahre 1852. Sie begannen zunächst mit Porträtfotografie und dem Ablichten von Kunstwerken. Das Unternehmen vererbte sich erfolgreich über mehrer Generationen weiter, bis es durch eine finanzkräftige Gruppe von Freunden der Fotografie gekauft wurde, die den Namen der Gründer bis heute weiterführt. Mittlerweile beherbergt die “Alinari 24 ORE” das Museo Nazionale Alinari della Fotografia - das Fotografische Nationalmuseum. Es präsentiert historische Ansichten italienischer Städte und besitzt eine der umfangreichsten Fotosammlungen Europa, darunter befinden sich Aufnahmen aus den Zeiten der Daguerreotypie – der ersten Form von Fotografie aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Weiterhin stellt man alte Fotoplatten aus und führt die Kollektion bis zu den modernen Techniken der Digitalfotografie fort. Es umfasst die ganze bekannte Bandbreite der Lichtbilddokumentation aus den vergangenen 200 Jahren. Alinaris Angebotspalette bietet zudem Fotodrucke und Vintageprints zu Kauf an. In den weltweit letzten Lichtdruckwerkstätten fertigt die Firma Alinari Reproduktionen der bedeutendsten Kunstwerke Italiens an. Nichts davon ist für einen schmalen Taler zu haben. Das Unternehmen, weiß was es wert ist.
Spaziergang über den Markt
Juni 2002
Auf der Straße beginnt der Tag der Verkäufer. Vor den Läden wird gefegt. Ein Schmuckhändler befreit mit einem Pinsel die Scheiben seines Schaufensters vom Straßenstaub. Hinter den ungepflegten und putzbrökelnden Fassaden warten schicke Modestübchen, Brillenläden, Taschenläden darauf, Kunden das Glück in bedruckten Papiertüten auszuhändigen. Vor einem Laden, der ausschließlich Handschuhe verkauft, stellt eine Frau in einem adretten Kostüm einen drehbaren Ständer mit einem Sortiment ihrer Produktvielfalt auf. Daneben ein Make-Up Artist Center. Die Namen der Hotels in dieser Straße lassen auf den Einfallsreichtum der Betreiber schließen: Hotel Machiavelli Palace steht an einem unscheinbaren Glastürchen eines Hauses, dessen einziger Balkon sich direkt über dem Eingang befindet. Er sieht so aus, als habe sich dort aus gutem Grund seit Jahren niemand mehr aufgehalten. Hotel Caravaggio, Hotel Cosimo di Medici, Hotel Bellavista. Am Hotel Corona d’Italia, ein Name, der einige Jahre seiner Zeit lange voraus ist, biege ich rechts ab. Unvermittelt tauche ich ein in eine Marktszene, in der sich Verkaufsstände dicht an dicht die Straße entlang drängen. Vor allem Lederwaren, Taschen, Gürtel, Portemonnaies werden angeboten, aber auch kleine Webteppiche mit Motiven von Gemälden, die in den Uffizien hängen. Karnevalsmasken gibt es ebenfalls. Zwar sind die meisten nur aus Plaste, aber sie sehen auf schlaue Weise aufwendiger hergestellt aus, als sie es in Wirklichkeit sind. Viel Strass und Federwerk wurde verwendet und farbenfroh sind die Verzierungen. Einige sehen aus wie Katzengesichter. Andere erinnern an den Venezianischen Karneval. Das gefällt mir gut und ich beschließe mir später eine zu kaufen, auch wenn ich nicht genau weiß, wofür ich sie jemals benötige.
Neben den Masken hängen an einem Eisenkarussel etwa einhundert gleich aussehenden Pinocciopuppen. Der Pinocchiohändler versucht mir mit großer Geste zu erzählen, dass alle Puppen von ihm mit der Hand geschnitzt wurden. “Klar, Gipetto”, sage ich und deute an, wie meine Nase wächst. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. Dann ignoriert er mich und redet auf den Kunden ein, der hinter mir steht. Ich drehe mich um. Da ist niemand. Ich blicke zurück zum Händler. Freundlich und ein bisschen dämlich grüßend schlendere ich weiter. Ich höre ihn noch Irgendetwas murmeln. Aber mein Italienisch ist zu schlecht, als dass ich mehr heraushören könnte, als das Wort „Stronzo“.
Kurz vor Ende des Marktes entdecke ich einen Verkäufer der T-Shirts verkauft. Fußballshirts der italienischen Nationalmannschaft in den Größen für Neugeborene. Auch Shirts mit Kunstdrucken sehe ich. Darunter eines mit der Mona Lisa - und die findet man, obwohl der meisterhafte Maler aus der Toskana stammt, definitiv nicht in Florenz.
Hinter dem Straßenmarkt tut sich ein imposantes Gebäude auf. Es ist die zentrale Markthalle der Stadt. Sie trägt den Titel Mercato di San Lorenz. Wie vieles im italienischen Alltag, ist auch dieses Gebäude einem Heiligen gewidmet. San Lorenzo oder wie wir ihn kennen, der Heilige Laurenzius, ist der Schutzpatron der Köche, Bäcker und Bierbrauer. Er sollte also sein wachsames Auge auf den Markt haben. Der Bau aus prächtigen Steinquadern besitzt zahlreiche große Bogenfenster, die mit schweren Eisenjalousien die Lebensmittel im Inneren vor zu der Sonne schützen. Die künstliche Beleuchtung über den Angebotsauslagen sorgt bestens dafür, dass die Lebensmittel im verkaufsfördernden Licht erscheinen. Im Erdgeschoß wird mit all den Dingen gehandelt, die man zum täglichen Leben benötigt. Obst, Gemüse, Fleisch. Hier hängen Hühner an den Beinen befestigt von Stangen herunter. Dort türmt sich Käse auf. Süßigkeiten verkauft man aus großen Gläsern. Fisch vom eisigen Bett. Das Obergeschoß ist ein aufgesetzter mit Glas verkleideter Eisenbau. Vor allem kleine Restaurants verkaufen dicht gedrängt Bekanntes aus italienischer, chinesischer und südamerikanischer Küche. Manches ist ein Schnäppchen, anderes nicht.
Von der Markthalle aus trete ich direkt auf die Piazza San Lorenzo. Der Platz besitzt nicht die klassische quadratische Form, die viele der architektonisch bewusst angelegten Plätze in großen Städten aufweisen. Er ist eher um die Basilika San Lorenzo und seiner Nebengebäude herum gewachsen. Seine Form erinnert an die jener Drachen, die in Kindertagen von Vätern mit eher dürftig entwickelten handwerklichen Fähigkeiten zusammengezimmert wurden. Eine Art Drachenviereck mit unregelmäßigen Seiten und abgerissenem Schwanz.
Es ist ein Ort, der von den Besuchern und Einheimischen gleichermaßen überrannt ist.
Davids Dödel
Juni 2002
Die Bewohner großer Städte ticken alle unterschiedlich. Eines jedoch ist ihnen allen gemeinsam, sie ticken nicht richtig. Wenn man sich an eine beliebige belebte Straßenecke einer beliebigen Weltstadt hinstellt und zwei Stunden lang die Leute beobachtet, die vorbeigehen, kann man statistisch festhalten, das 80 Prozent der Leute eine Macke haben. Nimmt man den Tatbestand zur Kenntnis, zwei Stunden lang an dieser Ecke gestanden zu haben, um andere Leute dabei zu beobachten, wie sie nicht richtig ticken, kann man davon ausgehen, selbst auch nicht mehr alle am Sender zu haben. Mit welchen Meisen der Großstädter den Tourist bei Laune hält, erlebe ich mitten in Florenz auf einem Platz in der historischen Altstadt. An der Auslage eines Eckladens stelle ich mit Erschrecken fest, dass man den Ladeninhaber nicht von der Beendigung des Zweiten Weltkrieg informiert hat. Er wartet als einer der letzten des Volkssturms noch immer auf die entscheidende Wende und bietet Devotionalien an, die den Unterschlupf jedes Reichsbürgers schmücken in eine Wohlfühlfestung verwandeln. Sein Angebot umfasst solch umwerfend originelle Getränke, wie "Führerwein", eine Flasche "Reichsrebe" und den italienischen Bunkern beliebte "Mussolini-Bianco". Dazwischen finden sich kleine Wehrmachtstransporter, Panzer und Zinnfiguren in SS-Uniform, damit auch der kleine Nachwuchsnazi was zum Spielen hat. Die üblichen Gasmasken und Feuerzeuge in Granatendesign gehören selbstverständlich ebenfalls zum Angebot. Mir fällt eine kleine Hitlerfigur mit ausgestrecktem Arm auf einem Holzsockel auf. Ich hatte, als ich noch ein viel kleineres Kind war, ein ähnliches Spielzeug. Allerdings befand sich auf dem Holzsockel lediglich eine harmlose Katze. Die Katze stand gespannt von einer Feder und straff von dünnen Schnürren in Form gehalten aufrecht auf dem Sockel. Wenn ich den Boden unter der Plattform eindrückte, fiel sie die Katze kraftlos in sich zusammen. Irgendjemand hat mir ein ähnliches Gerät mal mit dem Papst gezeigt. Die Figur im Laden jedoch trägt einen angespannten Hitler. Wer auf den Boden des Sockels drückt, sieht, wie der Diktator den Arm fallen lässt und in sich zusammen sackt. Vielleicht hat sich ja wenigstens bei diesem Tinnef jemand Gedanken gemacht - aber eigentlich glaube ich das nicht. Auf dem Götzenmarkt kennt der geschäftstüchtige Händler keine Gnade.
Eine andere Art der Götzenvermarktung betreiben die Florentiner mit der Davidsfigur von Michelangelo. Den nackten Jüngling hat Michelangelo zur großen Freude der Souvenirindustrie erschaffen. Auf Kaffeetassen, Schürzen, Postkarten und Mützen, überall finden sich kleine Davids drauf. Genau genommen findet sich nur der kleine David vom großen David drauf. Oder, um die Eindeutigkeit des Motivs zu unterstreichen, für die Abbildung auf Kaffeetassen, Postkarten, Schürzen und Platzdeckchen ist nur der Dödel von David attraktiv. Als zentrales Motiv darf der kunstgefertigte Steinpuscher Sonnenbrillen tragen, mit Strohhalmen aus Cocktailgläsern schlurfen und von Sprechblasen umhüllte Sprüche klopfen. Große Touristengruppen aller Altersgruppen erfreuen sich daran, halten sich Schürzen mit dem fotografierten Kulturdödel vor die Hose und fotografieren sich gegenseitig. Männer machen laut und anstößige "HöHö"-Geräusche, Frauen kreischen spitz. Ich stehe am Fuße einer kleineren Davidnachbildung, kaue auf einer blassen Bratwurst herum und stelle fest, 80% der Leute, die ich beobachte, haben mehr als nur ein Rad ab. Das schließt sämtliche Touristen ein. Ich gehe weiter. Zwei Stunden an einem Ort stehen und Leute beobachten könnte etwas auffällig wirken.
Ich bin ein bisschen fußlahm geworden und kann mich nicht recht über die nächste Heiterkeit in den Amüsiergassen von Florenz freuen: das allgemein geltende Sitzverbot in der Öffentlichkeit. Die Touristen scheren sich nicht weiter darum und hocken auf den Taubenkacketriefenden Stufen vor den Gotteshäusern. Im Frühsommer des Jahres 2003 wurde ein amtliches Sitzverbot in der Florenzer City mit Polizeigewalt durchgezogen. Doch bald kapitulierten die Carabinieri. Dennoch, es fehlt in der Stadt an Sitzmöglichkeiten. Wer sich in Ruhe eine kleine Sitzpause machen möchte, kann das zu unverschämten Preisen in den Straßenlokalen.
Am Rande des Platzes entdecke ich ein Zoogeschäft. Draußen vor der Tür stehen Käfige mit Hasen, Streifenhörnchen und Singvögeln. Es wundert mich, dass die kleinen Piepmätze nicht vom nachbarlichen Restaurant weggeklaut werden. In Italien pflegen einige Gourmets die Unsitte Singvögel zu fangen und zu garen. In den italienischen Wäldern wimmelt es nur so von Vogelfallen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viele Rotkehlchen und Stieglitze man essen muss, um einmal satt zu werden. Noch weniger kann ich mir vorstellen, warum man das überhaupt versuchen sollte. In der Tat hat diese Macke Auswirkungen. Während ich selbst im staubigsten Berliner Viertel Buchfinken singen höre und vor meinem Fenster in Berlin morgens von einer Rotte kaspernder Meisen und Grasmücken geweckt werde (sofern ich wegen der Nachtigall überhaupt einschlafen konnte) gurren in Florenz nur die Tauben. Eine Amsel habe ich gehört, aber vielleicht war das auch nur der Fernseher aus dem Nachbarzimmer. "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche" heißt es im italienischsten Drama, das je in England geschrieben wurde. Ob Shakespeare diesen Satz auch mehr aus dem Bauch schrieb?
Mittlerweile wird für den Schutz der Singvögel etwas getan, aber die Tatsache, dass Gesetzesentwürfe zum Vogelschutz kontrovers diskutiert werden mussten, spiegelt nicht gerade das netteste Bild italienischer Lebensfreude und deren kulinarische Kultur wieder. Als ich auf einer Brücke stehe und in den Arno blicke, sehe ich einen Reiher im seichten Uferwasser stehen. Ich glaube zwar nicht, dass das ein Singvogel ist, doch vorsichtshalber hebe ich den Finger vor meine Lippen und mache "Pssst."
Essen mit Paul Theroux
Juni 2002
Durch die historische Altstadt von Florenz zu spazieren, ist etwa so, als würde man sich in einem sehr kleinen Wald verlaufen. Wenige Stunden benötige ich, bis mich der Eindruck befällt, überall schon mal gewesen zu sein. Die Altstadt beschränkt sich auf ein überschaubares Areal, in dem es von Gassen nur so wimmelt, die sich schmal und dunkel verwinkeln, hohen Palastwände von hinten, fensterlos gemauert. Wo zum Geier bin ich, frage ich mich, um aus einer Gasse zu treten und den Dom vor mir zu sehen, den ich eben hinter mir gelassen hatte. Drei Gassen rechts, wieder eine links, den Blumenhändler kenne ich schon, den schicken Schreibwarenladen habe ich auch schon besucht, wieder eine Gasse zur Seite und ich finde mich vor der Kirche St.Croce, vor der ein Stadion aufgebaut wurde, mit Sandbelag. Heute nachmittag spielen hier die “Grünen” gegen die “Roten” eine Art Renaissance-Rugby. Nachdem ich wieder ein paar Gassen durchstreift habe, finde ich die erneut die Markthalle vor mir. Innen, wie außen geschäftiges Treiben. Innen das Obst, der Wein, Hühner mit und ohne Beine, manchmal die Beine auch alleine. Außen der ganz normale Schleuderschnickschnack, den der Weltreisende auf seiner Reise so braucht: Briefpapier, Stifte, Dosen, Michelangeloschürzen mit nacktem David vorn drauf, Papierkörbe aus Leder, Fußballhandtücher. Egal, auf welche Weise ich mich in die Gassen stürze, um mich mutwillig zu verirren und an irgend einem Ort wieder aufzutauchen, an dem ich noch nicht war, immer lande ich auf der Piazza della Republica, vor dem Dom oder an den Uffizien. Ich habe Hunger und suche das Restaurant, das ich auf meinen Streifzügen bereits zweimal als besuchenswert eingestuft habe. Seltsamerweise muss ich nun doch ziemlich intensiv suchen, um es wiederzufinden. Ich weiß nicht, warum sich manche Bauwerke und Restaurants ausgerechnet dann geschickt tarnen, wenn man sie am dringendsten braucht. Ich gebe die Suche auf und will mich schon mit einem Sandwich zufrieden geben, als sich mein Blick aus dem Augenwinkel in einer Gasse verliert, in dem sich das gesuchte Restaurant versteckt hält.
Im Restaurant Giovanni di San Lorenzo in der Via di San Lorenzo bietet der Besitzer auf minimalstem Raum einer maximalen Schar an Lebensmittelenthusiasten Platz. Ein Kellner weißt mir einen Platz zu. Um mich auf den eng an den Tisch geschobenen Stuhl zu setzen, muss ich den Gast am nebenstehenden Tisch bitten, sich selbst ganz eng an seinen Tisch heranzudrücken. Er meint, er könne auch aufstehen, damit ich mich setzen könne, doch dann müsste ich anschließend selbst wieder aufstehen, damit er sich setzen kann. Das könnte ein abendfüllender Tanz werden, den zu Tanzen ich nicht geneigt bin. Nach einigen risikofreudigen Versuchen gelingt es uns, so am Tisch zu sitzen, dass jedem der Bauch an der Tischplatte klemmt. So kann zumindest nichts runterfallen.
In der gut gefüllten Gastwirtschaft wird temporeich geschwafelt und getafelt. Für den Wirt wäre eine höhere Verkehrsdichte gewinnbringender, deshalb lässt er nicht lange auf sich warten und steht schon mal zum Abräumen bereit, selbst wenn der Teller noch nicht ganz leer ist. Seine Lieblingsgäste, um die er besonders herumschleimt, sind die, die möglichst viel in kürzester Zeit essen. Menschen, die einer Reisegruppe angehören, liebt er, weil diese ein straffes Programm vor sich haben und damit terminlich bedingt schnell wieder verschwunden sind. Entsprechend umgibt mich ein Durchschnitt der reisefähigen Welt.
Ich verschwinde hinter einer großen Karte, die ich auf dem engen Raum kaum handhaben kann. Ich stelle sie vor mir auf, doch dann nimmt sie mir das Licht und ich sehe nur noch wenig.
Neben mir sitzt ein hungriger Amerikaner, erkennbar an der für Amerikaner typischen Esshaltung. Eine Hand liegt unter dem Tisch, während er mit der anderen unermüdlich Nudeln in sich hineinschaufelt. Dabei senkt er bei jedem Bissen sein Gesicht gefährlich nahe auf den Teller herab.
Wir Europäer halten viel auf unsere Esskultur. Gesittet am Tisch sitzen zeigt eine gute Erziehung. “Sitz gerade”, “Hand vom Kopf”, “Iss mit Messer und Gabel”, “Schlurf nicht”. Knigge muss viel Zeit gehabt haben, um all diese Dinge aufzuschreiben, die einem von frühester Kindheit die Lust am familiären Mittagstisch vergällten. Aber es sitzt tief und wir belächeln den Amerikaner, der diese Erziehung offenbar nicht genoss, als manierenlosen Tropf. Allerdings wird diese Esshaltung dem Amerikaner in genauso mühseliger Erziehungsarbeit eingehämmert, wie uns das Gegenteil. Während man bei uns die Nudeln auf dem Löffel um die Gabel dreht, lässt der Amerikaner die Hand unterm Tisch verschwinden. Für ihn gehört sich das einfach so. Das was für uns wie schlechte Manieren aussieht, ist für ihn Ausdruck von Esskultur. Vielleicht passt das ja irgendwie in ein Land, dass den Burger erfunden hat und das über mehr übergewichtige Menschen verfügt, als jedes andere Land der Erde. Einerseits halten wir die chinesische Methode, Reis aus einem zum Munde geführten Schälchen mittels Stäbchen in den Mund zu kicken, für einen Ausdruck Jahrtausende alter Hochkultur, während wir andererseits die amerikanische Methode, die nicht viel anders aussieht, mitleidig belächeln.
Seine Essmethode findet die Gunst des Wirtes, denn sie ist effektiv und der Teller schnell leer. Er strahlt vor sich hin. “Nice” sagte der Amerikaner und meint den Wein. Er gießt sich einen hiesigen Roten in sein großes Glas und trinkt ihn, wie ich es mit Wasser tue, wenn der Tag heiß ist. Seine Flasche ist schneller alle, als mein Glas. Mit glücklichen Augen betrachtet er mein Fischfilet und bestellt sich ein Dessert. Cantucci - komische trockene Kekse, die er in Vino Santo eintaucht und geräuschvoll in den Mund saugt. Er lässt sich Zeit, bis mein Teller abgeräumt ist und bietet mir ein paar von den Keksen an. Ich weiß nicht, wie viel er vor meinem Erscheinen zu sich genommen hat, aber sein Aufnahmepotenzial scheint sich der Phase völligen Ausgefülltseins zu nähern. Er ist klein, drahtig, wie jemand der viel wandert. Längeres graues Haar wellt sich über seine Ohren, länger also, als es für einen anständigen Amerikaner üblich scheint. Sein Gesicht wirkt, als habe es bereits alle Klimazonen dieser Welt über sich ergehen lassen müssen und jede einzelne genossen. Ein Reisender, der sich das Reisen zum Hobby oder zur Berufung gemacht hat. Jemand der es sich leisten kann, es sich gut gehen zu lassen. Jemand, der es sich leisten kann, sich dem Luxus zu entziehen, wenn ihm der Sinn danach steht. Er spricht nicht mehr deutlich, aber ich bekomme mit, dass er sich zu Klöstern hingezogen füllt, die eigenen Wein anbauen. Er habe sich südlich von Siena für ein paar Tage in eine Klosterzelle eingemietet. Könne dort an Verkostungen und am Klosterleben teilnehmen. Wäre er nicht Amerikaner, die ihr Land deshalb lieben, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, es immer wieder zu verlassen und wiederzukommen, wenn es ihnen passt, er könnte sich vorstellen, auf das Privileg Amerikaner zu sein zu verzichten, um in einem Weinkloster in der Toscana sein Leben als armer, aber glücklicher Weinbruder zu beschließen.
Seine Art zu Reden und seine Sichtweise darzulegen erinnert mich an den Reiseschriftsteller Paul Theroux. Eine gewisse Skepsis an allem klingt mit, aber immer mit genug Neugier, die die Möglichkeit birgt, Vorurteilen eine überraschende Abfuhr zu erteilen. Dabei spielt die amerikanische Sichtweise eine wichtige, aber nicht unkritisch betrachtete Rolle. Das Alter würde stimmen, knapp 60 und auch das Gesicht weißt eine gewisse Ähnlichkeit auf. Doch ich bin zu höflich, um ihn danach zu fragen. Es ist das Privileg des reisenden Autoren, unerkannt zu bleiben, wie Mr. Nobody seine Erfahrungen zu sammeln, zuzuhören ohne im Mittelpunkt zu stehen und still zu Betrachten, was es zu Betrachten gibt. Um ehrlich zu sein, ist es das, was den meisten Menschen auf Reisen passiert und nur wenige müssen sich anstrengen, unerkannt zu bleiben. Was dann genau diejenigen sind, auf die der große Rest der schreibenden Reisenden mit einem gewissen Neid blicken.
Trotz der verwunderlichen Tischmanieren vom mutmaßlichen Paul Theroux, sieht sein Platz nicht bekleckerte aus, als meiner. Ich mag diesen glücklich vor sich hin grinsenden Kerl. Nur das erstaunlich angewachsene Ensemble geleerter Flaschen, deren Inhalt ein wenig Unordnung in den sonst kontrollierbaren Geist gebracht hat, verhindert, dass wir uns am Ende gemeinsam auf den Weg ins Kloster begeben.
Normalerweise achte ich in Restaurants sehr auf das Essen, gibt es mir doch immer wieder genug Grund, ein Restaurant zu loben oder darüber zu meckern. Manchmal besuche ich ein Restaurant auch gerade deshalb, weil ich mir nichts Besseres vorstellen kann, als das sprichwörtliche Haar in der Suppe zu finden. Doch erweist sich das Restaurant Giovanni di San Lorenzo, als eines, über dessen Produkte man nicht viel Worte verlieren muss. Es diente lediglich dem Zweck der anständigen Nahrungsaufnahme. Nicht mit lauter “Ohs” und “Ahs” auf der Zunge angesichts lukullischer Artistik, verließ ich den Laden, sondern im Eindruck eine angenehme Mittagszeit verbracht zu haben, wenn auch etwas beengt. Doch diese Enge scheint für Florenz typisch zu sein. Ich trete auf die Straße, den gut gefüllten Bauch vor den vorbei knatternden Motorrollern einziehend und verirre mich wieder in der Florenzer Innenstadt, wie in einem besonders kleinen Wald.
Uffizien
Juni 2002
Uffizien
Später Nachmittag. Erkennbar an den Mopeds, deren Geknatter nun häufiger zwischen den Häuserwänden hin und her hallt, als noch am Morgen, dem Gehupe der Autos und dem Spielstand auf der digitalen Uhr. Es steht 17:20. Ich versuche meine müde gelaufenen Knochen auf dem breiten Hotelbett wieder in nutzbare Werkzeuge zurecht zu ruhen. Das Hotelbett sollte zu diesem Zwecke der geeignetste Ort sein, den man sich auf einer Städtereise denken kann.
Mein Blick fängt sich an zwei putteligen Engeln, die gelangweilt auf einer Marmortheke lümmelnd in ihrem Rahmen über dem Kopfende hängen. Ich frage mich, wie es zu dieser weithin üblichen Innenaustattungssitte gekommen ist, über dem Kopfende Ruhesuchender, Gemäldereproduktionen aufzuhängen.
Wann immer ich mich bisher in einem Schlafzimmer aufhielt, dessen Inneneinrichtung mich mehr interessierte, als der Grund, der mich überhaupt hinein gebracht hatte, war es die Auswahl des Bildmotivs, die mir den deutlichsten Hinweis auf den Geschmack des jeweiligen Einwohners oder Einrichters lieferte. Allerdings macht mich das Betrachten von Gemälden, ob ich sie bereits über Betten hängend gesehen habe oder nicht, immer etwas schläfrig. Meine Geduld in Kunstsammlungen ist dort deshalb ebenso begrenzt, wie meine Konzentration. Das früheste Schlafzimmerbildnis, das sich meines Kopfes unauslöschlich bemächtigte und noch heute zum Gähnen zwingt, war der klassische Hirsch, der auf einem Wandteppich festgewebt tonlos vor sich hin röhrte. „Leg dich hin, Kind. Dreh dich zur Wand und Schlaf“, sagte meine Oma zur Mittagsschlafzeit. Später begleitete er mich als Umhängetasche bei allerhand müden Demos. Meine Großeltern West besaßen ein Gemälde eines italienischen Straßenmalers. Neapel mit Vesuv. Über meinen Eltern baumelte die Reproduktion eines Blumenstraußes, als sie mich zeugten. Hoffentlich bestimmt so etwas nicht den Lebensweg eines Menschen. „Gezeugt unter einer Reproduktion für 15 Mark der DDR“ ist nicht unbedingt der schmückendste unter den Indianernamen. Über meinem Bett hängt nur eine Ansammlung erschlagener Mückenreste. Vielleicht wird das ja auch mal reproduziert und als Kunstwerk verkauft. Im Hotel in Florenz sind es die beiden Engel, die gelangweilt nach oben starren. Ich weiß das Bild nicht einzuordnen. Botticelli, Michelango, ein Ausschnitt von Raffael oder nur ein verspäteter Cannelloni?
Mit Gemälden sind sie ja gut versorgt in Florenz. Und wenn man schon mal da ist, sollte man sie sich auch anschauen, die Meisterwerke in den Uffizien, einer der großartigsten Kunstsammlungen der Welt. Meine müden Knochen hatte ich ausschließlich vom Uffizienbesuch bekommen.
Tausende stehen täglich vor den Eingangstoren. An diesem Tag bin ich einer der ersten zweitausendfünfhundert, will ich mal sagen. Die Schlange vor mir windet sich lang um die Säulen herum und hinter mir braust der Verkehr, denn ich stehe mit dem Rücken an der Straße. Zehn Meter weiter plätschert der Arno. (Das ist der Fluss, der durch Florenz fließt - nicht der kleine Junge, der hinter der Kirche in den Blumentopf einer Pizzeria strullt.) Das Publikum ist international und geduldig. Internationaler geht’s kaum noch. Ich blättere in meinem Florenz-Stadtführer. Der Grieche vor mir blättert ebenfalls, allerdings etwas großzügiger im Toscanaführer. Hinter mich gesellt sich ein Brite mit einem Italienführer. Meine Aufmerksamkeit wird geweckt von einer quäkig lamentierenden Amerikanerin die aufgeregt aus ihrem Europaführer zitiert. Ich fühle mich wohl im friedlichen globalen Kunsthaufen, doch wird mir schon etwas komisch, als sich ein fahlhäutiger Mann von erstaunlicher Größe und mit seltsamen Ohren zu uns gesellt und hilflos in Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis blättert“.
Ein Franzose redet auf mich ein. „Sie sprechen Deutsch. Guten Tag. Ich bin 78 Jahre alt und heiße Michele Baudin. 1943 hatte ich eine deutsch Offizier in meine Haus. Er war Chef. Aber anständig. Heute bin ich Chef. Krüger. Hauptmann Krüger. Kennen Sie Krüger?“
„Mike?“
„Weiß nich. Hat meine Vater nach Deutschland geschickt. Der Offizier hat Bilder gemalt. Deshalb, ich liebe heute Gemälde. Krüger. Kenne Sie Krüger?“
Neben ihm zieht eine Frau, seine Frau auf erstaunliche Weise Augenbrauen hoch. Ich bleibe freundlich und höre mir die Geschichte noch dreimal an, bevor unsere Gruppe endlich in den Eingangsbereich hineingesaugt wird. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Ich muss meine Tasche auf ein Rollband legen, Geld und Metallgegenstände in eine Schale tun und durch einen Metalldetektor treten, der prompt aufheult. Ich habe Metallknöpfe am Hosenstall. Muss die Hose aber nicht ausziehen. Eine Sicherheitstante fuchtelt mit einem einer Lupe sehr ähnlichen Gerät vor meinen Hosenstall herum. Es singt und jault, sie ist zufrieden und schickt mich weiter. Wenn ich nicht vorsätzlich eine Gemäldegalerie aufgesucht hätte, würde ich prompt versuchen meinen Flug ausfindig zu machen.
„Ein Mal Business-Class Rio de Janeiro, bitte“ sage ich am Ticketverkauf. Die Verkäuferin schaut mich gelangweilt durch das Sicherheitsglas an, verlangt eine italienische Summe an Euro und drückt mir wortlos ein Ticket für die Gemäldegalerie in die Hand. Ich schaue drauf. „Schade. Doch bloß ein Rundflug in der Frachtmaschine!“ Weiteres anstehen und nochmaliges misstrauisches Begucktwerden schließt sich an, bevor ich in die Galerie kann. Diese vielen Sicherheitsmaßnahmen wurden jedoch nicht erst nach dem 11. September 2001 eingeführt. 1993 hatte ein Irrer eine Bombe in den Uffizien gezündet. Welchen tieferen politischen Wert ein Attentat auf eine Kunstsammlung hat, bleibt mir verborgen. Allerdings haben schon weitaus größere Attentate aus weitaus niedrigen Beweggründen stattgefunden. Religiöse Verirrungen, ob moslemische oder protestantische, hinduistische oder katholische, die brutal ausarten, kann man wohl kaum als Kampf für ein höheres Ziel werten. Sie bleiben, was sie sind. Vorsätzlich ausgeführte Borniertheit.
Die Kunst der Malerei in der Renaissance besteht ebenfalls aus religiösen Themen. Häufig wird die Bibel zitiert und beinahe immer, versetzt sie der ausführende Künstler gestalterisch in seine eigene Gegenwart. In der Renaissance wusste man wenig, über die Mode im alten Rom und die Mode auf den Bildern zeigt doch deutliche Spuren des Hochmittelalters. Andererseits war die Angleichung der biblischen Ereignisse an die optische Empfindungswelt an das Zeitalter der Entstehung der Bilder auch gewollt. Nicht anders als Baz Luhrmans Verfilmung von Romeo und Julia. Wenn die Maler der Renaissance mit etwas nicht in Berührung gekommen sind, dann mit echten Babys. Die Darstellung des Jesuskindes ist auf allen Gemälden zu bemängeln. Nie stimmen die Proportionen. Das Baby, nackt und im allerbesten Säuglingsalter hat die Größe eines zehnjährigen Jungen, der sich in den Armen Marias rekelt. Die Gesichter sehen alt aus. Keine Babygesichter, sondern eher feiste, gelangweilte Bischoffsgesichter. Nicht auszuschließen, dass vor der Fertigstellung ein paar Münzen aus dem Geldbeutel eines Kirchenfürsten den Besitzer wechselten.
Weniger spekulativ ist der Gesamteindruck der Kunstsammlung. Da es in der Renaissance keine regelmäßige Tagespresse gab, mit erstklassigen Fotos von Prominenz oder frischen Mordopfern, keine Videos über historische Schlachten und keinen weihnachtlichen Bibelfilm im Fernsehen, waren es die Maler, die sich genötigt sahen, alles so plastisch wie möglich aufzumalen. „Die Tötung der Säuglinge durch Herodes“ zum Beispiel. Eine Schlachteszene von besonderer Blutrünstigkeit. Massenhaft zu groß geratene Säuglinge mit durchgeschnittenen Kehlen, weinende Mütter und grimmige Soldaten auf frischer Tat abgebildet. Andere Schlachtschinken zeigen Pferde mit heraushängendem Gedärm, Lanzen, die in Mägen stecken, den Heiligen Sebastian, der mit Pfeilen in Arm, Hals und Brust als Heiliger durch die Welt läuft wie ein biblischer Piercingpropagandist. All dies ist meisterlich dargestellt, plastisch, greifbar, abschreckend. Ich komme mir vor wie im mittelalterlichen Sensationsjournalismus.
Ein Bild im Lieblingssaal der Medicis zeigt, wie ein Mann eine Frau bedrängt. Die Frau hat sich abgedreht, als wolle sie ihre Ruhe haben, scheint aber nicht entkommen zu können. Das Bild erweckt den Eindruck, als bahne sich gerade eine Vergewaltigung an. Es heißt „Adam und Eva“! Unter diesem Gesichtspunkt wurde die kirchliche Glaubenslehre nie betrachtet, glaube ich. Warum steht in der Kirche das Patriarchat als Regel fest, obwohl doch angeblich Eva den Adam die Richtung wies? Aber was, wenn der erste Akt wirklich eine Vergewaltigung war? Der Besuch der Uffizien wirft Fragen auf?
Terry Gilliams meerschaumgeborene Venus ist auch zu sehen. OK. Gilliam hat sie auch nur als Papierschnitt nachgebaut und bei den Monty Pythons verwurstet, aber daher kenne ich sie. Das sie von Botticelli ist, habe ich auch mal gelesen. Aber zuerst gesehen habe ich sie bei den Monty Pythons, was zeigt, welchen Stellenwert das Bildungsfernsehen in meinem Leben hat. Und natürlich gibt es auch noch Tizians mollige Venus von Urbino, die sich im Schritt kratzt. Bildzeitung, letzte Seite.
Allmählich habe ich genug von der Sprache der prächtigen Bilder. Ein Porträt des herzoglichen Paares von Urbino lässt mich noch einmal wach werden. Dem Herzog hatte man bei einem Attentat das Nasenbein gespalten. In der Seitenansicht ist die Einschlagstelle prächtig zu begutachten. Und dann Girolamo Savonarola, der durchgeknallte Priester, der bis 1498 für katholisch-fundamentalistischen Terror in Florenz sorgte. Dieser florentinische Kirchenhitler ließ Andersdenke verfolgen, Foltern, hinrichten. Seine Schergen durchkämmten die Wohnungen der Stadtbürger und ließen alles, was weltlich erschien oder nach Erleichterung des Alltags aussah wegschaffen und verbrennen. Schmuck sowieso, aber auch Kleider, Bücher, Küchengeschirr. Die Besitzer wurden verprügelt, manche aufgeknüpft. Das reicht, denke ich und verlasse das ehrwürdige Gemäuer.
Irgendwo möchte ich mich hinsetzen, aber das ist unmöglich im inneren Kreis von Florenz. Keine Parks, keine Bänke, nur Restaurants oder Sehenswürdigkeiten. Oder Steinstufen voller Taubenkacke. Ich steuere also eine kleinere Trattoria an, die mir auf dem Hinweg aufgefallen ist. Kaum sitze ich, erscheint ein farbiger Bauchladenträger und bietet mir eine Reproduktion der beiden Engel an, die über meinem Bett hängen. Ich verneine müde und muss gähnen.
Calcio Storico Fiorentino
Juni 2002
Wer glaubt, in den Fußgängerzonen der Florenzer Innenstadt gefahrlos spazieren gehen zu können, weiß nichts von der Wendigkeit der italienischen Mofafahrer. Dabei wurde die Innenstadt für Fußgänger konzipiert. Als Florenz aus dem Mittelalter herauswuchs, war der Hauptanteil der Bewohner zu Fuß unterwegs. Es gab zwar Pferdekutschen, Ochsenkarren, berittene Bedienstete und Sänftenträger. Trotzdem entwickelte sich die Straßenlandschaft der meisten Städte aus einem Netz aus Trampelpfaden und Häusergassen. Lieferwege erforderten etwas mehr Platz und die Gassen erweiterten sich allmählich zu Straßen.
Lediglich vor Kirchen und auf angeberische Weise gut sichtbar zu machenden Palästen weiteten sich Gassen plötzlich zu großen Plätzen aus. Plätze, die für allerhand Volksbelustigung genutzt werden konnten, wie Märkte oder erzieherisch wirkende Hinrichtungen.
Heute kann man über das grobe Pflaster der Gassen laufen, die von angedeuteten Trottoirs gesäumt sind, die gerade so breit sind, dass zwei Personen nicht nebeneinander her gehen können, ohne das einer durch den Rinnstein humpelt. Zudem versperren die Terrassen der Pizzerias Teile des Bürgersteigs. Also geht man gleich auf der Straße spazieren und springt von Zeit zu Zeit vor brummenden Mofas beiseite, lässt Lieferwagen passieren und weicht Autos aus, die sich orientierungslos wirkend als Anwohner ausgeben.
Auf der Via Giaccomo Puccini ist das Pflaster grob und alt, der Bürgersteig eher ein Wagnis. Die Läden entsprechen dem gängigen Verkaufskonzept der Stadt: Taschenläden, Läden für Handschuhe, Zeitungsläden, Osterias, Pizzerias, Farmacias. Aber schattig ist es in der eng gebauten Gasse. Die Gasse ist selbst für die chronisch rappelvollen Innenstadtbereiche der Stadt überfüllt. Ich komme mir vor, wie vor dem Zugang zu einem Fußballstadion. Die zahlreichen Menschen strömen zu einem mir nicht erkennbaren Ziel. Mir bleibt nichts weiter übrig, als mich mit dem Zug der Massen treiben zu lassen, der plötzlich auf einem großen Platz auseinanderstrebt.
Ich befinde mich auf der Piazza Santa Croce. Das ist eigentlich ein großer freier Platz, der von schönen alten Renaissancegebäuden umgeben ist. An seinem Kopfende ragt die Franziskanerkirche Santa Croce auf, die dem Platz den Namen spendet. Angeblich hat Franz von Assisi selbst den Grundstein für den Bau der Kirche gelegt. Auch wenn der Dom das bekannteste Gotteshaus der Stadt ist, Santa Croce ist für die Florenzer Einwohner das Bedeutendere. Die Kirche, mit ihrem lichtdurchfluteten Schiff und den prachtvoll ausgemalten Seitenaltären beherbergt die Gräber der bedeutendsten Bürger von Florenz, darunter Dante, Machiavelli, Michelangelo, Rossini und Galileo Gallilei.
Das Geld für die Pflege der italienischen Kultur ist knapp und so sind viele Kirchen, römische Ruinen und andere historische Bauwerke in einem bemitleidenswerten Zustand. Zwar werden vielerorts mit großem Aktivismus Baugerüste aufgestellt, aber Sanierungen und Restaurierungen sind ein zeit-und geldintensives Unterfangen. Santa Croce wurde einer langjährigen kostspieligen Restaurierung unterzogen. Trotzdem gelang es der Kirche, im Oktober 2017 mit dieser Schlagzeile in die Öffentlichkeit zu gelangen und in verschiedenen Zeitungen verschiedene Fakten zu schaffen: “In der frisch renovierten Kirche Santa Croce wurde ein Spanier von einem dekorativen Element am Kopf getroffen. Der Gegenstand befand sich in 20 Metern Höhe.” Er befand sich allerdings nicht mehr in 20 Meter Höhe, als er den Touristen traf und es wird weder Tourist noch Angehörige trösten, dass das Element höchst dekorativ war. Es handelte sich ein Stein von 15 mal 15 Zentimetern Kantenlänge, wie man aus der weiteren Meldung im Züricher Tagesanzeiger erfuhr. Die Süddeutsche Zeitung wusste es an diesem unheilvollen 19. Oktober 2017 schon etwas genauer. Demnach “glitt ein Kragstein von 40 Zentimetern Kantenlänge geräuschlos aus 30 Metern Höhe” auf sein unschuldiges spanisches Opfer. Je nach Zeitung variieren die Größenangaben, Fallhöhen und das Alter des Touristen. Aber fast alle Zeitungen stellten die Gefahr in den Vordergrund, die italienische Bauwerke für den Touristen besitzen. Wenn man von diesem bedauernswerten Unfall absieht, schein die historische Architektur Italiens allerdings keine auffälligeren Tendenzen aufzuweisen, ihre Besucher ermorden zu wollen, als andere europäische Städte. Gewalt geht auch in Italien eher vom Menschen, als von Bauwerken aus. Interessanterweise wird gezielt eingesetzte Gewalt seit der Zeit der Gladiatorenkämpfe durchaus als Kulturgut zur Erbauung des Volkes gepflegt und vermarktet.
Die Masse, die mich mit Schwung auf die Piazza ausspeit, hat nur ein Ziel: das Calcio Storico Fiorentino. So verrät es mir das Plakat an der letzten Hausecke. Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber um auf den sonst großen offenen Platz zu gelangen, der heute in eine riesige Sportarena verwandelt wurde, muss ich eine Eintrittskarte lösen.
“Verde? Rosso?” fragt die Verkäuferin hinter der provisorischen Absperrung.
“Hä?”
“Verde? Rosso?” fragt sie ungeduldig, denn hinter mir drängen mich forsch vorwärtsorientierte Leute in die Absperrung. Einer brüllt mir ein aufmunterndes “Verde!” ins Ohr und lacht.
“Ja Ok. Verde ebend.” Die Verkäuferin verdreht die Augen, reicht mir eine Karte. Hinter mir verlangen aufgeregte Stimmen Karten für „Rosso“. Die Verkäuferin schickt mich auf die entgegengesetzte Seite des Platzes, direkt vor das Hauptportal der Kirche Santa Croce. Dort ersteige ich die Treppen einer aus Baugerüsten erstellten Zuschauertribüne und setze mich in die letzte Reihe, ganz oben. Hinter mir fällt der Sportpalast 15 Meter tief ab und ich habe nicht nur einen Blick auf das Spektakel, dass sich vor mir auftut, sondern auch auf das, das sich hinter mir bereits abspielt. Ein größer Gruppe Rowdys in grünen mittelalterlich anmutenden Beinkleidern und freien Oberkörpern brüllen sich gegenseitig an. Diese Kerle sind richtige Kerle. Muskelbepackt, tätowiert bis zum Haaransatz und darüber hinaus, ungebändigte Kampfmaschinen. Sie bringen sich in Kampflaune. Was soll das? Ich schaue mich weiter um. Das Spielfeld ist eine Arena, die mit feinem Sand bedeckt wurde. Am Rand des Feldes stehen ebenfalls mittelalterlich gekleidete Menschen. Sie heben große Fahnen in die Luft und betreten die Arena. Jemand rollt ein Spruchband aus und beginnt laut davon vorzu lesen. Vermutlich die Regeln. Ich nehme mir den Flyer der Veranstaltung, den mir die genervte Verkäuferin mit dem Ticket in die Hand gedrückt hat. Eine kurze englische Einführung erklärt mir, wo ich hin geraten bin. Die Calcio Storico Fiorentino ist eine art mittelalterliches Ballspiel, das es hier und nur hier in Florenz seit knapp 500 Jahren gibt. Es handelt sich um eine Mischung aus Fußball und Rugby. Beides war vor 500 Jahren noch nicht erfunden. Es ging nur darum, einen Ball auf geschickte Weise von einem Spielfeldrand zum anderen zu bringen und den Behinderungen der Gegner auszuweichen. Es stammt ursprünglich aus dem alten Griechenland, bevor die Römer, die immer großen Spaß an Raufereien hatten, es weiterentwickelten. In Florenz spielten es zeitweilig besser betuchten nach dem Gottesdienst am Sonntag. Die Farben Blau, weiß, Rot und Grün stehen für vier Florenzer Stadtteile. Heute bin ich also eine von ihnen, den ich jubele wohl den grünen Jungs aus San Giovanni zu, während die Roten Burschen Santa Maria Novella zugetan sind. In früheren Jahrhunderten wurde das Spiel im besten Sonntagsstaat nach der Kirche ausgetragen. Ein Spiel für die gehobene Gesellschaft, die mal eben einen Ball von rechts nach links trägt. Die Regeln, die dann irgendwann festgelegt wurden, untersagten dann jedoch, dass die Mannschaft gewann, die die hübscheren Kleider trug. Seit dem ist es alles ein wenig ruppiger geworden.
Die bunten Männer mit den Fahnen und Fanfaren tänzeln auf dem frisch geharkten Sand herum, Wechselschritt und ein Hops nach rechts und einer nach links. Trommler marschieren, Stadtwächter mit Eisenhelmen und Hellebarden laufen in Reihe umher. Die Fahnen werden in die Luft geworfen, wieder gefangen und die Fahnenträger drehen sich erneut im Kreis. Ein rührendes Ballett mit turnerischen Einlagen. Doch es macht sich bereits etwas Unruhe am Rand des Spielfeldes breit. Die Mannschaften stehen hinter einem Tor, bereit die Arena zu fluten. Schließlich werden die Männer eingelassen und stellen sich jeweils an den gegenüberliegenden Seiten auf. Sie werden leise, wirken konzentriert. Die mittelalterlichen Cheerleader beenden ihr Tänzchen ab und verlassen das Feld. Noch erstaunlich diszipliniert stellen sich die jeweils 27 Männer der beiden Mannschaften auf dem Feld auf. Unruhig, denn der Adrenalinspiegel ist hoch, tippeln sie, wie Boxer hin und her. Die einzigen Nichtspieler im Ring tragen gelbe und blaue T-Shirts. Sie sollen als Ordner klärend auf die Spieler einwirken und die Regeln durchsetzen. Die Grundregel besteht darin, dass der Ball auf die gegnerische Seite ins Netz gelangt. Wie man sich gegenseitig daran hindert, ist der kreativen Gewalt der Einzelspieler überlassen. Und so beginnt es auch gleich. Der Ball wird frei gegegeben. Doch um den kümmert sich zunächst keiner, denn jeder Spieler sucht sich einen anderen Spieler, den er zu Boden bringen will, festklammert oder anderweitig außer Gefecht setzt. Es wird geboxt, getreten und gerungen. Zwei flinkere Spieler können dem Griff ihrer Häscher entkommen. Einer schnappt sich den Ball und sprintet los, wird aber zwei Meter weiter von einem anderen, der sich losmachen konnte mit einem Tritt ans Schienbein zu Fall gebracht. Jetzt lösen sich weitere Spieler und jagen auf den Träger des Balls zu. Einer, ein drahtiger Kerl mit Glatze, der dicht an den Ballträger herankommt, wird unmittelbar von einer in seine Laufrichtung hineinschießende Faust am Auge getroffen und stürzt in den Sand. Der Ballträger, ein Grüner übrigens, schafft es bis in die Nähe des gegnerischen Netzes, da springt ihn ein zwei Meter hoher Recke an, reißt ihn um und bleibt einfach auf ihm liegen, bis ein Ordner ihm die Anweisung gibt, den anderen Spieler wieder zu Luft kommen zu lassen. Das Spiel wird kurz unterbrochen, es wird ein bisschen diskutiert. Die Regeln müssen noch einmal erklärt werden. Tritte gegen den Kopf und Angriffe von hinten sind verboten. Ansonsten darf jeder Recke nach Herzenslust gewalttätig sein. Dann ein neuer Anpfiff. Alle greifen nach dem nächsten Gegner und werfen sich gegenseitig zu Boden. Es fliegen die Fäuste, manche nehmen nicht direkt am Spielgeschehen teil, sondern liefern sich private Wrestlingschlachten am Spielfeldrand. Es sieht mancherorts aus, als würden ein paar private Differenzen zwischen den Ortsteilen ausgetragen. Bei jeder sich entfaltenden Prügelorgie rasten die Fans aus und unterstützen ihren Stadtteil mit gereckten Fäusten. Wer während dieser Schlacht verletzt wird, scheidet aus und darf nicht ersetzt werden. Ersthelfer verarzten am Rand Platzwunden. Ein Spieler wird mit der Trage vom Feld geholt, nachdem ihm ein gegnerischer Gladiator einen Fuß wirkungsvoll ins Zentrum des italienischen Egos platziert hat. Ja der Sport ist eine Leidenschaft und selten besitzt das Wort Leid bei einem Sport so unmittelbare Priorität. Es ist ein Spiel, das auf einem Gefängnishof von den Wärtern mit Waffengewalt unterbunden würde. Überhaupt sieht es so aus, als hätten für dieses Ereignis ein paar inhaftierte Gewalttäter extra Ausgang bekommen. Nicht nur das Spiel ist erschreckend. Jedes Tor ist es ebenfalls, denn immer, wenn ein Treffer erzielt wird, zündet auf den Stufen der Kirche Santa Croce ein mittelalterlicher Soldat einen Schuss aus einer mittelalterlichen Kanone größeren Kalibers. Dass sich bei diesem Höllenlärm langsam die dekorativen Elemente im Kirchengewölk lösen, wundert mich nicht.
Beim achten Tor, das die Grünen kassieren, suche ich das Weite. Ich will nicht sehen, wie am Ende des Spieles der Sand vom Blut gereinigt wird. Ich bin schließlich im Florenz der Neuzeit und nicht im Rom der Antike. Und wer weiß, ob ich der Situation gewachsen bin, wenn die Fans am Ende des Spiels ihre Freude oder wie im Fall der von mir beklatschten grünen Mannschaft, ihre Enttäuschen ausdrücken.
Ich glaube, ich will jetzt lieber was Essen.