In Delsbo gibt es eine zentrale Einkaufsmeile. Na, besser einen Parkplatz, um den sich zwei Supermärkte, ein Baumarkt und ein Antiquitätenladen drängen. Im weiteren Umfeld finden sich auch noch eine Tankstelle und eine Pizzeria. Im örtlichen Ica-Markt ist noch etwas einzukaufen, was wir bei Lidl vergessen haben. Die Märkte haben hier jeden Tag offen, Samstags und Sonntags aber nur bis 21:00 Uhr. Während unsere Tochter mal eben schnell bei ICA reinspringt, stehen wir vor dem Laden und werden von einem Pärchen angesprochen, das gerade aus einem Auto gestiegen ist.
“Sie müssen die Eltern sein”, spricht uns die Frau auf Englisch an. Sie ist etwas kleiner als ich und macht einen sportlichen Eindruck. Der Mann neben ihr trägt Bart und ein T-Shirt, welches ihn als Mitarbeiter der örtlichen Fleischerei ausweist. Wir machen ein bisschen Small-Talk, in dessen Verlauf Åsa, die Frau oder Freundin – der Beziehungsstatus wird uns nicht sofort klar – ihn immer mal darauf hinweist, dass wir kein Schwedisch sprechen. Ich hatte zwar im Vorfeld ein paar Brocken gelernt, Dinge, die sich mit “Guten Morgen” und “Danke” und “Kann ich Bezahlen” beschäftigen, aber im wirklichen Leben hilft einen sowas auch nur bedingt weiter. Das Paar stellt sich als enge Freundschaft unserer Tochter heraus, mit denen gemeinsam der hiesigen Traditionspflege gefrönt und die regionale Kultur gefördert wird.
Später fahren wir zum Hof der beiden und holen ein Fahrrad für unsere Tochter ab, damit wir uns am See ungebunden bewegen können. Auf dem Hof lernen wir die Eltern von Åsa kennen. Åsa steckt gerade in den Aufräumarbeiten nach einem Orientierungslauf, den sie am Vormittag durchgeführt hat. Sie scheint intensiv in dieser Sportart bewandert zu sein. Equipment, Karten und fundiertes Fachwissen, an dem sie uns teilhaben lässt, weisen darauf hin. Trotzdem sie genug Arbeit hat, lässt sie alles stehen und liegen, als ihre Mutter aus der Tür schaut und das Wort “Fika” fallen lässt. Es ist immer unhöflich, solch ein Angebot auszuschlagen. Und so sitzen wir bald bei Kaffee und Keksen und lernen etwas über Orientierungslauf. Auf dem Tisch liegen ein paar alte gebrauchte Karten. Åsas Vater war einst ein absoluter Wanderexperte und Skilangläufer. Heute sitzt er am Tisch, lässt seinen Krückstock ein paar mal fallen und erhebt sich schwerfällig, als er mir auf einer Karte eine Wanderroute vorschlagen will. Die klingt recht interessant, kollidiert jedoch mit unserem knappen Zeitplan. Aber eine Idee hat er noch, die uns gefällt. Die Kirchgemeinde besitzt zwei alte Wikingerboote, die jeden Mittwochabend auf eine zweistündige Reise über den Dellensee gehen. Es sind keine Hochseeboote, so wie die, die bei “Wicki und die Starken Männer” über die Ost- und Nordsee geschossen sind, sondern große Ruderboote im Baustil der alten Inlandswikinger. Sieben Ruderpaare haben darin Platz und man fährt nicht als Gast, sondern als Rudersklave mit. Das klingt gut und wir nehmen die Idee in unsere “To-Do-Liste” auf.
Und so stehen wir am Mittwochabend gegen Sieben Uhr an einer Brücke, unter der sich der Nord- und der Süddellensee vereinen und sehen, wie sich ein paar Leute mit Schwimmwesten bewaffnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Leute, nicht die Schwimmwesten.
Zunächst sind da Åsa und ihre Tochter Hannah, sowie Åsas Freund Sveke, der eine schwedische Fahne in der Hand hält. Dann erscheint der Kapitän, ein cooler graublonder Sonnenbrillenträger, der eigentlich Engländer ist, sich aber jetzt meist in Schweden aufhält. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Zwei echte Schweden sind noch mit an Bord, die allerdings nicht weiter auffallen. Ansonsten ist das Boot gefüllt mit Leuten aus dem örtlichen Flüchtlingsheim. Dazu gehören drei Afghanen, einer davon mit dem kirgisischen Einschlag der nördlichen Einwohner des kriegsgeschüttelten Landes. Eine kleine Frau mit perfekt geflochtenen Zöpfen und ein freundlicher junger Mann aus Nigeria namens Florence und Vincent sind ebenfalls dabei. Außerdem fällt mir noch eine Iranerin auf, die sich beim ersten Paddelschlag von ihrem Sitz herunterbefördert und im Boot auf dem Rücken liegt, wie ein Käfer. Man hilft ihr aber rasch wieder auf. Dies soll der einzige Bordunfall des Abends bleiben.
Sveke steckt die schwedische Fahne am Bug des Bootes fest. Hätte jede Nation der Bootsbesatzung ihre eigene Landesfahne mit dabei, sähe das Boot aus, wie bei einer Olympiazeremonie.
Wegen des starken Windes, der an diesem Tag das Wasser der Seen aufpeitschte, rudern wir das Boot, das den stolzen Namen “Tron” trägt, was soviel wie Glaube bedeutet, in den südlichen Dellensee. Der Wind hat sich inzwischen etwas gelegt, ist aber noch deutlich spürbar. Unser Ruderschlag wirkt etwas unkoordiniert. Die afghanischen Mitreisenden sitzen zum ersten Mal auf einem Boot und sind entsprechend orientierungslos. (Angesichts ihrer Herkunft ein sprachliches Paradoxon). Der Schwede vor uns ist ein Gemeindemitglied und schon oft mit dem Boot unterwegs gewesen. Der zieht durch, als gäb es kein Morgen. Alle anderen versuchen sich irgendwie zu ordnen und auf die Kommandos des erfahrenen Kapitäns am Bug zu hören. Der steht mit dem Rücken zur Sonne, die Haare im Wind, die Sonnenbrille auf die Rudersklaven gerichtet und grinst.
Nach einer dreiviertel Stunde laufen wir einen kleinen Hafen an. Ein Steg an einem Feldrand und ein paar aufgeschüttete Steinblöcke machen den Begriff Hafen hier etwas schwer, aber der Platz genügt, um auszusteigen. Plötzlich stehen auf einem überraschend präsenten Tisch Kaffeebecher und Thermoskanne, sowie eine unglaubliche Mengen Kekse und jemand lässt das Zauberwort “Fika” hören.
Die iranische Frau erzählt ein bisschen von ihrer Arbeit und dem was sie gern tun würde, wenn sie nicht täglich Verwaltungskram zu erledigen hätte. Am liebsten würde sie Kurzgeschichten schreiben oder Gedichte. Guck an. Wir werden interviewt, woher wir denn aus Deutschland kämen. Åsa erzählt vom Mittsommerfest, das am Freitag – zwei Tage nach dem eigentlichen Mittsommerabend, der heute ist – in der Gemeinde und in ganz Schweden zu allerhand ausufernden Feierlichkeiten führen wird. Der Tag danach wird von ihr als Roter Tag bezeichnet, einer der ganz wenigen Tage, an denen in Schweden kaum ein Geschäft öffnet.
Ich schaue in die Landschaft. Der See ist groß und weit und blau. Und vermutlich voller Fische.Die Felder grün und in der Ferne erheben sich ein paar Hügel über die Bäume. Ein paar Wölkchen kräuseln sich in der Luft und an Land stechen vereinzelt Kirchtumspitzen wie die Finger lerneifriger Schüler in den Himmel. Ich finde es gerade sehr angenehm und schön an diesem Platz und geniesse es. Der Kapitän erklärt, dass man bisher immer in den nördlichen Dellensee hineingerudert ist, weil der sowieso viel schöner ist. Ich habe keinen Vergleich, denn ich kenne den nördlichen Verwandten nicht, bin aber mit dem Moment zufrieden. Es mag der Natur des Menschen entsprechen, mit der aktuellen Gegebenheit nicht glücklich zu sein, Vergleiche zu ziehen und etwas, das nicht da ist, höher zu stellen, als das, was man gerade hat. Aber es stört mich nun mal, wenn ich einer momentanen Freude Ausdruck verleihe und an jemanden gerate, der mir klar macht, wie wenig Wert mein momentanes Glücksgefühl ist, weil er ja alles schon viel besser erlebt hat.
Ich war mal an einem Aprilsonntag mit dem Fahrrad unterwegs. Die Sonne schien und über einem Gehöft sah ich Schwalben, die ersten, die ich in diesem Jahr wahrnahm. Ich freute mich, denn nun würde es endlich Sommer werden. Am Abend erwähnte ich das in einem Gespräch. Mein Gesprächspartner winkte arrogant ab. “Ach. Schwalben hab ich schon vor einer Woche gesehen. Die sind doch schon lange da.” Das unterscheidet sich kaum von der Aussage: “Wenn du es hier schön findest, dann hast du keine Ahnung, wie es erst woanders ist, wo ich schon längst war.” Ich habe ja die große weite Welt ganz gern, aber wir sind immer nur an einem Ort, den wir in diesem Moment erleben. Vielleicht sollten wir mehr Wert darauf legen, diesem Moment unsere Aufmerksamkeit zu schenken, statt in Gedanken bereits woanders zu sein.
Als der Kaffee alle ist und keiner mehr einen Keks verträgt, steigen wir wieder ins Boot und rudern zurück. Vorbei an kleinen Gehöften, einer Kirche, einem Angler und einer Entenfamilie. Was ich in Schweden neben Elchen, die es ja zu Hauf in dem Land geben soll, ebenfalls noch nicht ausfindig machen konnte, sind die in Skandinavien als sehr aufdringlich geltenden Mücken. Selbst hier auf dem See und in Ufernähe und zu einem Zeitpunkt, den man grob als Dämmerung bezeichnen könnte, taucht keine Mücke auf. Die scheinen hier genauso der Sagenwelt entsprungen zu sein, wie Elche.
Wir landen an. Die schwedische Fahne wird wieder eingerollt und wir verabschieden uns. “Wenn ihr nächstes Jahr kommt, fahren wir in den nördlichen See” sagt der Kapitän” und die Flüchtlingsteilnehmer verabschieden sich ebenfalls mit dem Ruf: “See you next year?” Was macht uns alle so sicher, Touristen, Flüchtlinge, Einheimische, im nächsten Jahr wieder am Ort und Stelle zusammen zu treffen oder sich überhaupt jemals wieder zu sehen? Ich schaue auf das zweite Wikingerboot, das im Hafen liegt und heute nicht auf den See hinausfuhr. Ich lese den Namen des Schiffes, der auf das Holz gemalt ist. “Hope” heißt es.
Gesehene Elche = 0
Schnatter-Elche: eine Familie
Ruder-Elche: 14
Kapitäns-Elch: 1