Schöner Kotzen mit Holiday-Reisen
"Das ist Wahnsinn! Warum schickst Du mich in die Hölle? Hölle! Hölle!"
------------Wolfgang Petri
Februar 1996
Schnee.
Das hatte mir der Reiseanbieter versprochen. Mehr noch. Garantiert hatte er es mir. Und wer bin ich denn, einer Reiseanzeige in einem Fachmagazin, wie dem Kaufland Angebotsblättchen, zu misstrauen. Da kann man ja gleich anfangen, die Zeitungsnachrichten in Zweifel zu ziehen.
Morgens zum Reiseantritt fängt es auch tatsächlich an zu schneien. Also in der Art, wie es in Städten wie Berlin so schneit. Es fitzelt etwas. Genug, um in Kindern die Illusion zu erzeugen, den Nachmittag auf dem Schlitten zu verbringen, und einen schlappen Hügel hinunter zu rauschen, der nach der zweiten Abfahrt nur noch aus bremsenden, braunen Sand besteht.
Wann war ich das letzte Mal durch weißen, knirschenden Schnee geglitten, habe die Welt im schlitternden Geschwindigkeitsrausch an mir vorbei fliegen sehen, mich glühweinbetankt im Skilift auf eisige Höhen schaukeln lassen oder dampfend das Wort Grog in den Schnee gepinkelt?
Ich kann Ihnen sagen wann: „Nie!“
Nun haben wir das weiße Winterwunderland gebucht. Spindler Myln im Riesengebirge. Eine Woche. Meine Herzdame, meine beiden gerade in bzw. an die Schulpflichtigkeit herangewachsenen Kinder und ich, ein leicht aus dem Leim gehender Papi kurz vor den besten Jahren. Wird sicher toll.
Wir warten an einer Bushaltestelle am Alex. Hier, wo die Zeit des aktiven großstädtischen Schneetreibens bereits der Vergangenheit angehört, gefriert der Regen, sobald er den Boden berührt. Die wenigen überdachten Stellen sind von aufgeregt wartenden Reisenden besetzt.
„Könnten Sie vielleicht ein bisschen rücken“, frage ich ein Ehepaar. „Das wenigsten die Kinder im Trockenen stehen?“
„Dann wird mein Koffer nass,“ blafft es zurück. Es ist sieben Uhr morgens. Kein Berliner ist um diese Zeit höflich.
Als wir endlich triefnass sind, erscheint der Reisebus. Ein zweistöckiges Ungetüm, das seine besten Jahre zusammen mit zahllosen Kilometern bereits hinter sich gelassen hat. Ähnliches gilt für die Reiseleiterin, eine betagte, dem Namen nach, Rumänin, die sich wegen des Regens nicht von ihrem Beifahrersitz wagt. Die Reisegäste drängeln sich voller eiliger Ernsthaftigkeit in den Bus und an der Reiseleiterin vorbei und besetzen die Plätze nach persönlichen Vorlieben. Fensterplätze sind schnell weg und zusammenhängende Plätze, auf denen sich eine vierköpfige Familie bequem einrichten könnte, gibt es, als wir den Bus betreten auch keine mehr. Stattdessen sitzen etliche Rucksäcke recht komfortabel auf den Sitzen und trocken langsam.
„Meine Tochter sitzt auch oben alleine“, blubbert ein etwa 80-jähriger Reisender, den ich nach dem Sinn seiner Reisetasche auf seinem Nachbarsitz frage.
„Der Bus kann erst abfahren, wenn alle sitzen“, schnarrt es aus den Buslautsprechern.
„Ja, wie denn“, meckere ich. Es erfolgt auf diese Frage keine Reaktion. Wir stehen im Gang und warten ab.
„Der Bus kann erst abfahren, wenn alle sitzen“, schnarrt es nach einer Weile erneut.
„Nu setzen se sich doch endlich,“ blubbert der Opa mit der bequem sitzenden Reisetasche erneut. Wir schreiben das Jahr 1996. Die Sitzreservierung war bei der Firma Holiday-Reisen zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch eine utopische Idee für eine moderne, schillernde Zukunft.
Irgendwann hat der Fahrer die Faxen dicke. Er verfrachtet uns auf die Notgalerie, eine enge unbequeme Sitzbank direkt hinter der Fahrerkabine. Wer von der Nostalgie alter Verkehrsmittel schwärmt, ist nie damit gefahren.
Da ich schon einmal in Fahrernähe sitze, fragt mich dieser auch prompt, wie er denn jetzt aus Berlin wieder rauskäme. Er sei nicht von hier und ich als Berliner sollte das doch wissen. Der Typ sieht aus, wie Wolfgang Petri, mit seinem Lockenfiffi auf der Birne. Sie bemerken sicher, das Navi war auch noch nicht erfunden.
Ich empfehle ihm, den Schildern Richtung Dresden zu folgen. Wir wollen schließlich nach Tschechien. Das Erste, was er schafft, nachdem er den Bus auf die Straße gebracht hat, ist falsch abbiegen. Morgens um halb acht mit einem Reisebus im Berliner Berufsverkehr.
Ich lausche im Folgenden still den Lebensweisheiten des Reisebusfahrers und Wolfgang-Petri-Jüngers, die er für die Berliner Straßenführung übrig hat.
Irgendwer möchte Würstchen. Heiß. Morgens um Acht auf der Autobahn. Irgendwo zwischen Berlin und Dresden. Der Würstchenkocher sei kaputt, versichert die Reiseleiterin glaubhaft und bietet als Alternative kalte Würstchen und Cola an.
Wolfgang fährt wie ein Henker auf dem Weg zum nächsten Termin. Einmal verfährt er sich in einem Ort in Sachsen. Er hat irgendwann entschieden, die Autobahn zu verlassen und sich an Zittau vorbei über die tschechische Grenze zu schlagen. Kurz hinter Bautzen muss er vor einer Brücke anhalten, die doch nicht die Durchfahrtshöhe besitzt, die er für den Bus benötigt. Dass er das bemerkt, bevor er versucht unten durch zu brettern, rechne ich ihm hoch an.
Im Kassettengerät des Fahrers, nein kein Einbaugerät, sondern ein transportables auf der Beifahrerkonsole, freut sich zum dritten Mal in Folge Wolfgang Petri des Lebens. Schließlich reißt die Kassette. Es gibt spontanen Beifall.
Manchmal kommen schweißtropfende, dünnbekleidete Menschen vom Oberdeck herunter und klagen über die Hitze. Wolfgang klopft halbherzig auf der Armatur neben seinem Lenker herum und reißt sein Fenster auf.
Nach einer Weile erscheint ein Mann mit Pudelmütze und Mantel und fragt, ob es wirklich notwendig sei, ohne Heizung zu fahren.
Wolfgang grummelt etwas Unverständliches und klopft erneut auf die Armatur.
Kaum gelangen wir auf die tschechische Seite der Reiseroute, kommt uns ein Reisebus entgegen, den ich heute Morgen nahezu zeitgleich in Berlin habe abfahren sehen. Also höchstens die halbe Stunde früher, die wir mit der Platzsuche vertrödelt haben. Es ist jetzt etwa 14:00 Uhr an einem trüben, grauen Tag. Die Sonne hat heute keine Lust, überhaupt zum Dienst zu erscheinen. Die beiden Busse halten nebeneinander auf einer kleinen Landstraße und Wolle fragt den Kollegen, wo er denn lang müsse.
Wir befinden uns bereits im Riesengebirge, kurz bevor es dunkelt. In einem Anstieg hält Wolle an und mault über die Ausschilderung. Ich fand, so oft ich durch Tschechien fuhr, die Ausschilderung an den Straßen immer ganz verständlich. Ist der weiße Pfeil über einem Ortsnamen links angebracht und weist nach links, würde ich nicht zögern, zu denken, dass es nach links geht. Für den rechten Pfeil gilt das Gleiche, wenn man glauben möchte, dass es nach rechts geht. Steht der weiße Pfeil indes über dem Ortsnamen und weist nach oben, dann muss man sich entscheiden, ob, man geradeaus fahren möchte oder lieber abheben. Ich würde mich spontan für das Geradeausfahren entscheiden. Wolle sieht das anders. Er glaubt, er müsse zurück.
Auf dem Berg gibt es keine Wendemöglichkeit. Wolle beschließt, rückwärts wieder runterzufahren. Oder wenigstens motorunterstützt die verschneite Straße hinab zu gleiten. Ich würde den Boden als arschglatt bezeichnen. Spontan fühle ich mich in eine dieser armen Seelen versetzt, die auf der Titanic im Unterdeck hocken mussten, als die Sirenen zu singen begannen und der Kahn zu sinken. Obwohl, der Vergleich stimmt nicht so ganz. Ich kann immerhin aus dem Fenster gucken und den Abhang sehen. Ich habe einen schönen Blick ins Tal, in dem in einem kleinen, fernen Dorf langsam die Lichter angehen.
Der Bus bremst ab, rutscht noch ein, zwei Meter nach und kommt dann zu Stehen. Wir haben an einer Weggabelung gehalten. Einige Meter bergabwärts erkenne ich ein Gehöft. Die Reiseleiterin und der Busfahrer laufen zum Haus, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Der Motor läuft, der Bus tuckert und der Lenker vibriert. Wir stehen noch immer am Abhang. Wolle kommt zufrieden zurück gestapft. In seiner Abwesenheit hat sich der Bus nur einen knappen Meter bewegt.
Er fährt wieder nach oben, dorthin wo das Schild ihn irritiert hatte. Er biegt ab, nach links. Jetzt wird es richtig dunkel, aber nach einer guten Stunde erreichen wir einen Ort namens Jilemnice Harbacov und der Bus hält vor einem Hotel.
Der Prospekt des Reiseunternehmens hatte darauf hingewiesen, dass die Unterbringung ganz sicher in Spindler Myln oder in Ausnahmefällen in einem Ort direkt in der Nähe erfolgen würde. Ich wundere mich nicht darüber, diese Ausnahmemöglichkeit gewonnen zu haben. Und was „… direkt in der Nähe“ bei Holiday-Reisen bedeutet, erfahren wir spätestens am nächsten Morgen.
Die Firma Holiday-Reisen führt seit Jahren intensive Feldforschungen und aufwändige Studien durch, um ihren Reiseopfern nur die ausgesucht hässlichsten Unterkünfte zu offerieren. Bei dem Hotel, in das wir eingewiesen wurden, hat Holiday-Reisen jedenfalls voll ins Schwarze getroffen.
Das Hotel trägt den Namen „Cedron“ und tatsächlich ziehen sich bei mir beim Betreten der Eingangshalle die Lippen zusammen, als habe ich auf eine Zitrone gebissen. Die Zitronenverbene, auch peruanisches Eisenkraut oder schlicht Cedrón genannt, ist eine Pflanze deren Inhaltsstoffe beruhigend wirken, der Verdauung helfen soll und deren Einnahme sich vor dem Schlafengehen empfiehlt. Es ist gut bei Nervenschmerzen und wird auch gern von Tierärzten eingesetzt. Die Hotelführer haben leider keine Arznei für uns vorbereitet und wir müssen das ganze Elend am unbetäubten Leib durchmachen.
Die Rezeption kauert dunkel und verlassen in einer Ecke. Sie erinnert mich an die Kommandozentrale der Nervenstation in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Auf dem Tresen liegen ein paar Schlüssel für die Zimmer. Diese sind aber im Gegensatz zu den Busplätzen mit Namen versehen. Ein älterer Tscheche kommt auf die Reisegruppe zu. Er sagt, er heiße Reiseleiter und „Winsche enen scheenen Aufenthalt in Otel Cedroon“. Essen gäbe es keines mehr. Das Personal habe längst Feierabend. Aber an der Bar fände man noch Bier und Salzstangen. Dann geht er. Das Interieur der schäbigem Bar stammt noch aus den frühen Siebzigern. Seitdem hat sich vermutlich auch nicht viel verändert. Nur den Mann hinter dem Tresen nennt man nicht mehr Genosse. Auf meine Bestellung reagiert er beleidigt. Er glotzt mich mit einem Gesichtsausdruck an, der „Ein Glück, dass ihr nicht wisst, was ich denke“ ausdrücken soll. Allerdings auf Tschechisch. Er wirkt, als wäre er auf Bewährung draußen. Bier hat er keins.
Die Lobby, ich nenne sie jetzt mal so, weil Räume mit Sesseln in der Nähe des Haupteingangs meistens so genannt werden, ist eisig. Ein Tischfußballspiel will eine Krone pro Spiel. Eine Tischtennisplatte – eine Tischtennisplatte in einer Hotellobby, Herrje – und drei Sessel mit breitgesessenem Cordbezug versuchen das Ambiente zu beleben, machen die Sache aber noch schlimmer.
Das Zimmer, das uns zugeteilt wurde, ist lau geheizt. Es will noch umgeräumt werden. Es gibt nur eine funktionierende Nachttischlampe und die befindet sich an einem Ort, von dem der Stecker an keine Steckdose heranreicht. Das Bett ist hart, die Kinder nölig und übermüdet und der Herzdame merke ich auch an, dass sie nicht genug zu Essen bekommen hat. Aber Morgen: „Schnee – Juchee! denke ich beim Einschlafen. Gute Nacht. Und danke dafür, bis hier überlebt zu haben.“
Der Morgen graut. Mit graut es kurze Zeit später. Das Klo hat einen Lüfter, der automatisch anspringt, sobald man das Licht anschaltet. Er vermag zwar nicht die feucht, muffige Luft aus der schmalen Örtlichkeit absaugen, dafür besitzt er eine Lautstärke, die an ein startendes Düsenflugzeug erinnert. Es ist seltsam, zu versuchen, zu duschen und gleichzeitig zu glauben, man befände sich auf der Rollbahn eines Flughafens bei heftigem Regen. Aber wenigstens war es lauwarmer Regen.
Wir begeben uns in den Essraum, wo uns ein prächtiges Frühstück erwartet. Es ist bei weitem nicht so schrecklich, wie ich es erwartet hätte. Der Kaffee ist angenehm schwach. Die Brötchen sind auf jene Weise tschechisch, wie ich sie mag. Etwas labbrig, aber gut im Geschmack. Und über den Aufschnitt beklagt sich sicher nur derjenige, der absolut keinen Hunger hat. Vielleicht ist die Zusammenstellung aus Salami, Leberwurst, Käseecken und Honig nicht der Ernährungstraum eines Veganers. 1997 war diese Religion noch längst nicht so vordergründig verbreitet, wie heute. Aber wie heißt es doch: Hunger ist der beste Koch! Diese bauernschlaue Großelternweißheit lässt sich in einer Hotelkantine, wie der im Hotel Cedron auf die Formel: Hunger ist auch ein hervorragender Zusichnehmer herunterbrechen.
„Wer möchte nach Spindlern Myln fahren, der kann nehmen den Bus steht vor Hotel Cedron in zehn Minuten“, verkündet der alte Herr Reiseleiter durch die Tür zur Kantine. „Bus fährt um 4 wieder zurück nach Hotel Cedron. Vielen angenehmen Tag.“ Für Vollpensionsgäste gibt es ein Fresspaket als Tagesration, gefüllt mit einem geschmierten Brötchen, einer Banane und einem Trinkpäckchen. Wir müssen uns ranhalten, um den Bus zu erreichen. Sonst müssten wir an diesem verregneten Tag im Hotel bleiben. Und wenn ich bei diesem Wetter schon irgendwo drinbleiben muss, dann sicher nicht im Hotel Cedron. Mir schwebt da eher ein rustikales Restaurant in der Perle des Riesengebirges Spindler Myln vor. Wir stapfen also durch den hohen, nassen, sich im Zustand konstantem Tauens befindlichen Schnee zum Bus und freuen uns auf einen schönen Ausflug.
Spindlermühle liegt weit oben im Riesengebirge. Etwa bei 1100 Metern. Was uns am Hotel Cedron noch als Regen entgegenkam, fällt oberhalb 800 Meter als Schnee herunter. Es ist zwar ein grauer Tag und die Sonne macht sich nicht die Mühe, uns irgendwie aufzumuntern. Aber immerhin erscheint uns der Ort recht freundlich. Die alten Häuser wirken gepflegt. Hotels in Fachwerk, Bauernhäuser im böhmischen Stil, kaum störende Neubausünden bilden den Großteil des Ortskerns. Vor dem Eingang eines luxuriös wirkenden Hotels, deren Glaseingangsfront sich in einen Fachwerkbau einfügt, ohne das Bauensemble zu sehr zu stören, steht eine Pferdekutsche. Meine Tochter fragt, ob die auf das Aschenputtel wartet. Ich glaube nicht, aber passen würde es. Wenige Schritte weiter beginnt eine Skipiste den Berg hinaufzusteigen. Wir finden jemanden, der uns für ein kleines Entgelt einen Schlitten leiht und haben eine gute Stunde Spaß im unteren Teil der Piste, in dem auch ein Bereich für Rodler freigegeben ist. Dann beginnt der Schnee, der bisher souverän in weißen Flocken vom Himmel fiel, langsam in Regen überzugehen. Wir suchen uns ein nicht ganz so teuer aussehendes Hotel und lungern ein bisschen in der Lobby herum, bis es Zeit wird, irgendwo etwas Essen zu gehen.
Tschechisches Essen ist meist deftig und sättigend. Knödel, Fleisch, Kraut und Bier können einem schon mal die schlechte Laune verderben. Pfannkuchen mit Marmelade lassen auch Kindermägen nicht unbeeindruckt. Wir verbringen also etwas Zeit in einem rustikalen Restaurant und lauschen den klappernden Geräuschen aus der Küche und den regnerischen Geräuschen vor der Tür. Dann ist unsere Zeit im Restaurant ausgereizt. Wir stapfen nach draußen. Von den Dächern strömen Bäche. Ein Schneeberg, von einer Einfahrt weggeschaufelt, bringt meinen Sohn in Versuchung, Bergsteiger zu spielen. Kurz bevor er die Spitze erklimmen kann, versinkt er bis zum Hals im weißen Nass. Ich ziehe ihn wieder raus und versinke ebenfalls knietief. Und dann nochmal, als ich an der Straße in eine verhältnismäßig harmlos wirkende Pfütze trete, die sich als tiefes, gut gefülltes Schlagloch entpuppt. Es dauert noch eine kleine Weile, bis wir nass und frierend in den überheizten Bus einsteigen können. Meine nassen Hosenbeine drücke ich an die Heizung. Dampf steigt auf.
Das Hotel lauert in Jilemnice Harbacov mit all der Schmuddligkeit, die es aufbringen kann. Und es gibt sich richtig Mühe. Das Wasser in der Dusche lässt nur die Temperatureinstellungen kalt und kochend heiß zu. Dafür läuft das Wasser im Abfluss nur ganz gemächlich ab.
In der Kantine, ich will es nicht Restaurant nennen, weil die ganze Reisegruppe an einem langen Tisch sitzt, serviert man uns ein warmes Abendbrot. Ich möchte es nicht beschreiben, aber der Kampf für ein menschenwürdigeres Dasein drängt mich, es doch zu tun. Ein aufgewärmter Ratsherrentopf aus der Dose, wäre gegen das, was sich da im tiefen Teller wälzt, Haute-Cuisine. In der Suppe schwimmt etwas. Ich fische es heraus und identifiziere es als eine halbierte Schabe. Irgendwer muss die andere Hälfte bekommen haben. Ich will aufs Klo, weil mir schlecht wird. Doch an der Klotür stoße ich gegen eine widerliche Geruchswand aus Urin und Reinigungsgift. Also renne ich hinters Haus. Dort sitzt eine Katze vor einem gefüllten Teller. Das sieht lecker aus, was sie da hat. Kurz bevor mich die Versuchung ergreifen kann, tritt ein Mann aus der Hintertür des Küchentraktes. Ich vermute den Koch in dieser Gestalt. Er hat ein frisch gewendetes Geschirrtuch um die Hüfte. Es muss frisch gewendet sein, denn die Flecken wirken, als wären sie schon länger trocken. Gelbe, zum Teil fehlende Zähne parodieren ein Lächeln, von dem ich nicht glaube, dass es mitfühlend gemeint ist. Schadenfroh wohl eher. Schmierfleck, dein Name sei Koch. Koch im Hotel „Cedron“. Qualifikationen: Dosenöffnen und Zusammenfegen.
Abends fällt der Strom aus. Ob auf unserer Etage oder hausübergreifend, kann ich zunächst nicht feststellen. Ich irre etwas über den dunklen verlassenen Etagenflur. Irgendwoher höre ich ein andauerndes Klopfgeräusch. Ich muss kurz an „Shining“ denken. Dann sehe etwas Licht am Ende des Flures. Es muss vom Stockwerk unter uns über den Treppenschacht hinaufleuchten. Im Zentrum des Lichtwurfes befindet sich der Schatten eines Mannes. Klein, dick, mit einem Stab in der Hand. Jetzt leuchtet der Stab. Es ist eine Taschenlampe, die auf mich gerichtet ist. „Ist Strom aus“, sagt der Mann.
„Nein“, antworte ich überrascht. „Doch“ antwortet er, ohne den Sarkasmus in meiner Antwort zu bemerken.
„Kommen Sie“, fordert er mich auf. Ich folge ihm bis ans Ende des Flures, wo er einen Verschlag öffnet, hinter dem sich die Sicherungen befinden. Außerdem stehen Eimer und Besen im Schrank. Der Mann, vermutlich der Hausmeister, leuchtet in die Sicherungen. Er schraubt eine der alten Keramikfassungen aus und popelt ein verkohltes Stück Alufolie heraus. „Brauch ich neues Papier von Schokolade“ sagt er. „Haben Sie?“ Ich schaue entgeistert.
„Alufolie“ gibt er meinem Gehirn einen Anstoß.
„Ähm. Ja. Muss ich kurz ins Zimmer.“ Ich husche flink in unser Hotelzimmer und greife in die Tüte mit den Süßigkeiten. Eine Tafel Schokolade fische ich aus dem Beutel.
„Willst du jetzt noch Schokolade essen?“, fragt mich meine große Tochter. Ich reiße die Tafel auf und drücke den Inhalt unter dem entsetzten Blick meiner Herzdame den Kindern in die Hand. Mit der Verpackung aus Alufolie laufe ich zum Hausmeister. Der stellt gerade eine Flasche Hochprozentigen in einen Eimer zurück. Dann reißt er ein schmalen Streifen der Alufolie ab, wickelt diesen um die Sicherung und dreht sie wieder im Sicherungskasten fest. Sofort flackert das Licht im Flur wieder auf.
„Kann ich Rest behalten?“, fragt er. „Brauch ich für nächstes Mal.“
Ich habe in der folgenden Nacht nicht geschlafen. Stattdessen ließ ich meine Nase als Rauchmelder in Betrieb.
Am nächsten Tag machen wir einen Ausflug nach Trutnov, von älteren und deutschfreundlichen Böhmen auch Trautenau genannt. Der Herr Reiseleiter nennt es jedenfalls Trautenau. Unser Busfahrer und seine Begleitperson, die den Posten des Reiseleiters derzeit komplett an den Tschechen abgegeben hat, ebenfalls.
Es regnet in Strömen auf den gefrorenen Boden. Der fein gepflasterte Marktplatz von Trutnov lädt zum Schlittern und Hinfallen ein. Wir schauen uns uninspiriert die Reste der ehemaligen Stadtbefestigung in der Nähe des Stadtzentrums an. Dann besuchen wir eine Ausstellung mit Volksgut aus dem Riesengebirge. Am Ende der Ausstellung dürfen wir noch in einen Raum mit moderner Kunst. Hier haben heimische Künstler Dinge aufgestellt und Bilder aufgehängt. Leider kann ich die Aussage der meisten Ausstellungsstücke nicht deuten. Wir stehen vor einem Bild, auf dem eine Menge bunter Striche querdurcheinander angeordnet sind. Mein frisch eingeschulter Sohn fragt mich, was das ist. Ich zucke mit den Schultern und sage: „Kunst“.
Am späten Nachmittag, als wir nach fettem Essen mit Klößen, Kraut und Schweinebraten im überheizten Bus sitzen, malt mein Sohn zwei Krakelhaken an die beschlagene Scheibe. „Was ist das“, frage ich. „Kunst“ antwortet er und zuckt mit den Schultern. Er malt noch weitere Krickel und ein paar Krakel dazu und sagt jedes Mal: „Kunst“. Es sieht so aus, als hab er das Prinzip begriffen.
Am Abend gibt es erneut ein warmes Essen mit beinahe ähnlicher Qualität, wie am Vortag. Allerdings scheinen dem Koch die Schaben ausgegangen zu sein.
Und dann ist der schöne Winterurlaub schon wieder zu Ende. Wir packen und freuen uns ganz kräftig auf zuhause. Die Rückreise ist dankenswerterweise ereignislos. Wir haben sogar Plätze im Oberdeck, weit weg von Wolfgang Petri.
Das Hotel Cedron ist dann übrigens irgendwann in den Leerstand übergegangen. Gebrannt soll es dort auch haben. Mittlerweile ist das Gebäude weitgehend verfallen.
Bedauerlicherweise traf Holiday-Reisen dieses Schicksal bisher nicht. Andererseits haben sie nichts versprochen, was sie nicht auch gehalten hätten. Du buchst eine billige Reise. Und was bekommst Du?
Eine billige Reise.