So abgerissen und versinkend sich Tregastell an einem vernebelten Tag auch zeigt, bei Sonne ist das alles gar nicht mehr so schrecklich. Das Aquarium, das in ein paar der Felsenungetüme in Strandnähe eingefasst ist, hat zwar wenige Minuten vor unserer Ankunft die Türen geschlossen, aber am Strand herrscht buntes Treiben. Die Sonne blitzt in den Wellen der aufkommenden Flut und die Boote, die eben noch auf dem Schlick saßen, beginnen wieder leicht zu tanzen.
Es herrscht fast eine Lichtstimmung, wie am Mittelmeer. Ein paar Mutige versuchen sogar Baden zu gehen.
Das Forum de Tregastell am Strand beherbergt eine gut besuchte Bar, in denen verschiedene Cocktails in verschiedensprachige Münder fließen. Neben der Bar kann man durch beschlagenen Scheiben in ein Schwimmbad schauen. Den Strand säumen Felsen mit den erstaunlichsten Formen. Einer sieht wie eine Echse aus, ein anderer wie der Adler aus der Muppetshow, ein dritter wie ein überdimensionaler Computerbildschirm. Er erinnert mich wage an die Form von Deep Thought, dem Supercomputer aus “Per Anhalter durch die Galaxis”.
Aber letztlich sind wir heute nicht hierher gekommen, um Steinchen zu sammeln.
In einem kleineren Ortsteil von Tregastell findet heute Abend ein Fest Noz statt.
Ein Fest Noz ist eine Art Dorfschubbs mit traditionellem Charakter. Hier trifft sich die Ortsgemeinde zum gemeinsamen Feiern und Tanzen. Im Mittelpunkt steht dabei die Musik, die vor allem mittels traditionellen Instrumenten, wie Krummhörnchen, Dudelsack, Akkordeon und Geige vorgetragen wird. Der klassische Wechselgesang kommt dabei auch zum Tragen, aber auch Gitarren und Schlagzeug finden vereinzelt den Weg in die abendliche Tanzveranstaltung. Bewegt wird sich fast ausschließlich in Kreistänzen. Die Schrittfolge wirkt zunächst sehr einfach, doch durch kleinere Rhythmuswechsel steht der ungeübte Tänzer schnell auf dem Fuß des Nachbarn.
Wir erscheinen auf dem Festgelände, einem Kirchhof eines Presbyterianerklosters, bereits recht zeitig. Es ist noch die Zeit des Kinderfestes und entsprechend wild wird auf der Tanzfläche getobt. Am Eingang bekommen wir Gutscheine für ein paar Getränke und der obligatorischen Nahrung der Bretagne: Galette und Crepes. Crepes werden meist süß angeboten. Dieser Eierkuchen kann mit Marmelade, Zucker oder Schokolade bestrichen werden und gehört in jeden Imbiss der Region. Galettes sind dagegen Buchweizenpfannkuchen, die man eher deftiger bestückt. Hier kommt schon mal Gemüse hinein oder auch etwas Wurst. Ich bekomme ein Galette mit Wurst, was letztlich auf eine Bratwurst im Buchweizenfladen eingewickelt herausläuft. Aber es schmeckt ganz angenehm und ich habe Hunger. Später gibt es noch eine Schokoladen-Crepe bei dem mir doch glatt die Plastegabel abbricht.
Auf der Wiese liegt eine ca. zehn mal zwanzig Meter große, aus Holztafeln zusammengestellte Tanzfläche, die ganz simpel auf langen Latten aufgelegt wurden. Darauf wuselt alles, was nicht größer als 1,20 Meter groß ist durcheinander. Es wird gehüpft, gekreischt, gerannt, hingeworfen und wieder aufgestanden. Die Alterszusammenstellungen sind dabei völlig wahllos. Kleinstkinder, die nur von ihrer Windel auf den Beinen gehalten werden, hopsen dabei genauso unkontrolliert herum, wie die Jungs im besten Erfinderalter oder Mädchen, die sich für solche Sachen eigentlich schon zu erwachsen fühlen. Eltern sieht man auf der Fläche nicht. Manche stehen am Rand und unterhalten sich, andere trinken einen Kir irgendwo im Schatten. Keiner macht sich Sorgen um seine Kleinen, niemand kommt mahnend auf die Fläche um Dinge zu sagen, wie “Kevin, lass die Wikipedia in Ruhe” oder wie immer die französische Entsprechung des selben Satzes vom Kollwitzplatz ist. Hier wird noch herum getollt – wenn man diesen schönen alten Begriff mal wieder zum Einsatz bringen will.
Auf der kleinen Bühne stimmt sich inzwischen eine Kapelle ein. Der Geiger fiddelt seine Saiten blutig, der Sänger hält sich das rechte Ohr zu und brummt und das Akkordeon holt auch schon mal Luft. Kaum sind sie mit der Soundcheck durch, stolpert der Geiger über ein Kabel. Es knallt und die Anlage scheint sich dank eines Kurzschlusses erstmal außer Gefecht gesetzt zu haben. Doch nach ein paar Minuten ist alles wieder im Lot. Am Biertisch hinter mir sitzt ein Brite, der sich hier mit seinen französischen Freunden getroffen hat. Er gestikuliert heftig in meinen Rücken hinein, sagt aber alle dreißig Sekunden “Pardon”. Ich lasse ihn machen. Irgendwann steht er auf und holt ein Bier. Er stellt es vor mir ab. Ich bedanke mich, er guckt sinnierend, stellt fest, dass er sich im Tisch geirrt hat und nimmt es mir wieder weg. Es ist für seinen Freund bestimmt. Er hatte nur den Tisch verwechselt, da wir beide den selben Friseur haben müssen. Ich streiche mir verhalten über den kahlen Schädel.
Ich gehe also selbst noch mal an den Getränkeausschank und stelle mich brav an. Zwei Meter neben mir steht ein großer, sehr stark aussehender Mann mit Vollbart, Glatze und verspiegelter Sonnenbrille. Er trinkt eine Cola und redet lautstark mit einem der Organisatoren. Erster Eindruck – Motorradheld. Später sehen ich ihn auf der Bühne, wie er auf einer Gitarre den Dudelsackspieler begleitet.
Auf der anderen Seite der Tanzfläche steht ein schlanker Mann mit kantigem Gesicht und langen grauen Haaren. Er scheint ganz versessen auf den Tanzabend zu sein. Kaum beginnt die Kapelle mit dem ersten bretonischen Volkslied bewegt er sich mit seitlichen Schritten auf der Fläche, zieht an seinem rechten Arm eine Frau mit, die wiederum eine weitere Person mit sich nimmt. Und so beginnt eine Schlange, die wie eine Seitwärtspolonaise wirkt und nach wenigen Takten einen perfekten Kreis bildet. Über den Abend wird der Antänzer den Tanzbereich nicht verlassen. Die Fläche wird von Lied zu Lied voller und mitten in diesen Kreistänzen hopsen immer noch die Kinder herum. Die Tänzer gehen durch alle Generationen und Klassen. Junge Folkfreunde, die man an ihren schlonzigen Kleidern und langen zu Würmern geformten Haaren erkennt, finden sich im Kreis ebenso ein, wie die schicke ältere Dame mit adrettem Rock und Hackenschuhen.
Der örtliche Bestattergehilfe tanzt neben dem Feuerwehrhauptmann, die Pastorin, neben der Betreiberin des örtlichen Yogastudios. Teenager tanzt mit Oma, ein junges Paar Jungs, Segellehrer und pensionierter Fleischmeister, der Ortscasanova und die Leiterin der Bibliothek, alle finden sich in trauter Eintracht zum gemeinsamen Ringelpiez mit Anfassen. (Die Berufsgruppen müssen nicht stimmen, aber man macht sich beim Betrachten ja so seine Gedanken) Und kommen Gäste aus dem Königreich Weit-Weit-Weg sind sie herzlich eingeladen mit zu tun. Es ist nichts schlechtes daran, ein paar der regionalen Traditionen zu pflegen und zu bewahren. In den ländlichen Regionen Frankreichs habe ich oft bemerkt, dass da viel unternommen wird. Ich weiß, dass das in Schweden und Finnland ähnlich große Bedeutung besitzt, auch in Italien, Spanien und Griechenland und in Polen. In Deutschland gibt es damit Schwierigkeiten. Volksmusik ist von kommerzieller Verantwortungslosigkeit durchzogen und ist heute eher eine Unkultur, die von geldgeilen, aber ansonsten völlig talentfreien Produzentenclans beherrscht und zerstört wird. Ergebnis: wer von den Herangewachsenen kann und will denn heute noch aus dem Hut Lieder, wie “Am Brunnen vor dem Tore” singen? Hier in Frankreich gehen die jungen Leute zum traditionellen Dorfschubbs mit regionaler Musik. Da hoppeln sie ein bisschen mit den Älteren herum. Und gegen halb zwölf ziehen sie dann weiter in die Clubs und Discos der Region. Schließt sich also beides nicht grundsätzlich aus.
Die Menge der Tanzenden rutscht weiter Schritt für Schritt über die Holzplanken. Keine zwei Meter vor mir, scheint die Unterkonstruktion marode zu sein. Die Tänzer drücken mit ihrem Gewicht eine der Tafeln verdächtig nach unten. Die Nachbarplatte steht dadurch hoch und bildet einen Absatz. Einige tanzen barfuß. Hoffentlich bricht die untergelegte Latte nicht durch, denke ich, sonst versinken wenigstens zwei Tänzer fünf Zentimeter im Gras des Klosterhofes. Und dann hätten wir den Salat. Die Veranstaltung würde abgebrochen und jemand würde laut rufen: “Wir brauchen dringend einen Bühnentechniker! Schnell! Ist ein Bühnentechniker unter den Anwesenden?” Naja. Sie wissen ja wie das ist. Aber das Holz hält stand, solange wir da bei sind.
Als wir spät am Abend das Fest verlassen, kommen immer noch neue Gäste an. Der Klostergarten ist jetzt so voll, wie die Berliner Biermeile am Samstagabend. Wir überlassen das Feld den Einheimischen und machen uns auf den Weg zu unseren Glühwürmchen im Garten. Da es zwischendurch etwas geregnet hat, leuchten sie heute nicht. Vermutlich wurden sie gelöscht.