Kurz hinter Paimpol führt eine schmale Straße zu einer Ansammlung von Parkplätzen, auf denen sich Wohnwagen, PKWs und Reisebusse versammeln. Aus all den Fahrzeugen quellen Leute unterschiedlichen Alters heraus, um sich auf einem schmalen Pier, der die Hälfte des Tages unter Wasser steht, zu treffen und auf Fähren zu steigen, die sie auf die nahegelegene Attraktion, die Île de Bréhat zu verschiffen. Zehn Minuten dauert die Überfahrt bei Hochwasser. Bei Ebbe geht es schneller. Zehn Minuten Fahrt ist keine große Strecke und man sollte annehmen, bei dieser Distanz das Ziel bereits vom Ufer aus zu sehen.
Nicht so heute, wo sich die Sonne an Land befindet, die Küste aber unter einer Nebeldecke versteckt. Nichts ist zu sehen. Und genau da wollen wir hin.
Die Île de Bréhat wird auch als Blumeninsel bezeichnet. Besonders groß ist sie nicht, man kann die beiden Hauptinseln, die sich in Nord und Südinsel aufteilen, bequem zu Fuß durchstreifen oder sich ein Fahrrad mieten, das einen dann die ärgsten Hügel mittels Elektrodopings hinaufschiebt.
Wir entscheiden uns für den Fußmarsch. Die Südinsel ist dicht mit kleinen, ranzigen und großen, vornehmen Häusern bebaut. Hier wohnen etwa 500 Menschen das ganze Jahr über. Drei Kirchen habe ich gezählt, die wir alle drei aufsuchend. Die erste Kirche, St. Michel steht auf einem Berg. Sie ist verhältnismäßig klein, eher eine Kapelle, als eine Kirche. Im Innern herrscht schlechte Luft. Kerzen brennen und können gegen einen Obolus ständig erneuert werden. Gewidmet werden sie der Notre Dame, die ihre Hände schützend über die Seeleute und Fischer halten soll. Vor der Kirche sitzt ein etwas abgerissener Typ, der eine Staffelei auf seinem Hackenporsche aufgebaut hat. Damit fährt er ein Bild mit der Ansicht von der Kirche spazieren. Er hat ein Bier in der Hand. Sein Gesicht ist wettergegerbt und wirkt auf verrückte Weise clever. Als spiele er etwas den Beschränkten, könne aber mit den Augen nicht ganz überzeugen. Mit seinen zusammengekniffenen Augen, der breiten Nase und dem noch breiteren Froschmund schaut er mich listig an, brabbelt was und zieht seinen Wagen weiter. Erst kurze Zeit später dämmert es mir. Robin Williams ist gar nicht tot. Er verbringt sein Rentendasein als leicht beschränkt wirkender, malender Inselpenner auf der Île de Bréhat. Respekt
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In der zweiten Kirche steht ein Altar aus Stein. Er wirkt abgewetzt und ich versuche nicht die blasphemische Vorstellung laut werden zu lassen, dass es sich dabei um einen rituellen Opferstein handelt. Am Ende des Kirchenschiffes verschwindet ein langes Tau in der Decke. Es führt vermutlich zur Glocke die hier noch von Hand geläutet wird. Geweiht ist die Kirche damit wohl dem Heiligen BimBam. Die dritte Kirche wird vom Inselfriedhof umsäumt. Hier liegt, wer auf der Insel sturb, sturbte, also tot rumliegt. Ich habe schon viele Friedhöfe in Frankreich besucht. Besonders die an den Küsten haben meiste eine wunderbare Lage. Mit Blick aufs Meer kann man auf diesen Friedhöfen ganz wunderbar tot sein. Der Friedhof auf der Île de Bréhat liegt hinter dem Platz, an dem die Touristen Kuchen und Fisch mit Schlips bestellen. Ich würde mir das als Friedhofsinsasse zweimal überlegen, ob ich da liegen will. Der Innenraum der Kirche ist schlicht, dunkel und katholisch. An fast jeder Ecke steht ein Schrank, in dem man auf die Schnelle ein paar Sünden beichten kann. Im Moment scheint aber kein Kirchenangestellter für solcher Art Beichtquickie zur Verfügung zu stehen. Ein paar Heilige stehen als Schnitzpuppen auf Säulen. Mein Lieblingsheiliger, Antonius hat nur einen bescheidenen Platz in einer freien Ecke gefunden, wo er etwas verloren herumlungert. Ich spende ihm eine Kerze. Er hat’s verdient.
Es ist immer wieder erstaunlich wie viele Schutzheilige es in der katholischen Kirche gibt und wofür die alle ihren Segen und ihren Schutz hergeben. Das Johannes der Täufer bei Alkoholismus helfen soll, sagt schon der Name. Manche nennen ihn auch Johannes der Säufer, aber das ist natürlich Blasphemie. Pfui. Das man Blasius von Sebaste bei Blasenleiden anrufen soll, liegt auch irgendwie nahe. Aber wussten Sie, dass Jeanne D’Arc die Schutzheilige der Telegrafie und des Rundfunks ist? Die Frau ist 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, hat ca. Fünfhundert Jahre für ihre Heiligsprechung anstehen müssen und wurde prompt eine Heilige, als der Rundfunk erfunden wurde. Wenn das kein Timing ist. Rita von Cascia ist die Heilige der Examensnöte. Auch gut, wenn man das vorher weiß. Für gedeihliches Wetter ist Viktoria von Córdoba verantwortlich und ganz aktuell, die in Chicago gestorbene Ordensschwester Franziska Xaviera Cabrini ist die Schutzheilige der Migranten. Vermutlich ist sie aber für den arabischen Raum nicht zuständig.
Neben den Kirchen besitzt die Île de Bréhat ein paar bemerkenswerte Leuchttürme und ein in der Hand des Militärs befindlichen Semaphorturm. Letzteres ist ein Nachrichtenturm, der früher mittels Lichtzeichen, aber auch mit Wimpeln Nachrichten weiterleitete. Heute rotiert ein Radar auf seinem Dach und die üblichen Netzwerkantennen strahlen weit über die Insel heraus.
Weiter im Norden sichten wir am Chaise de Renan einen wirklich hässlichen Turm. Eine Art Betonphallus, der eine Leiter im Kreuz hat. Wir lassen ihn links liegen und gehen an eine Bucht, in der normalerweise Wasser schwappt. Ein Felsen kreischt zur rechten, oder vielmehr die vielen Möwen, die dort nisten. Eines der interessantesten Bauwerke verfehlen wir leider. Im Westen der Südinsel soll es eine kleine Gezeitenmühle geben. Ein sehr spannendes Unterfangen bei der Energiegewinnung durch Wasser.
Was auf der Insel auffällt, ist, dass sich die Einwohner durch hohe Hecken vor den Blicken der neugierigen Touristen schützen. Und wenn sie auf die Straße gehen, erkennt man sie daran, dass sie weitaus deutlicher alle anderen Spaziergänger ignorieren, als französische Touristen. Aber bei der Vielzahl an Menschen, die hier jeden Tag auf die Insel gekippt werden, ist es durchaus verständlich, dass die Grundeinstellung der Einwohner deutlich erkennbar ist: “Schickt uns doch Euer Geld einfach mit der Post und bleibt trotzdem weg”. Die Insel lebt vom schnatternden Touristen. Da muss man das Volk wohl auch ertragen. Heute haben wir noch Glück und können beim Wandern über die Insel einige Strecken allein zurücklegen. Doch in der Hochsaison möchte ich hier auch nicht als Tourist hinkommen müssen.
Da wo wir mit dem Schiff angekommen sind, ist kein Wasser mehr. Wir müssen einen Kilometer weit eine neu angelegte Mole herunterlaufen, die bei Hochwasser fünf bis sechs Meter unter Wasser liegt. Bei Paimpol, ganz in der Nähe, liegt der Gezeitenhub etwa bei 12 Metern und zählt damit zu den höchsten in Europa. Wir laufen also über den Meeresboden zu einem schlickigen Anleger, an dem unsere Fähre liegt. Auf der anderen Seite müssen wir ebenfalls ewig einen Steinpfad folgen, bis wir da anlangen, wo wir vormittags eingestiegen sind. Ebbe und Flut sind schon sehr seltsame Phänomene.