Auf dem langen Weg
Das ist wieder typisch mit diesem Franzosenurlaub. Wir sind den ersten Tag unterwegs und ich bin am ersten Abend schon wieder sowas von pappesatt. Das Restaurant , das zu dem kleinen Hotel gehört, in dem wir absteigen, macht alles richtig, auch wenn es auf dem ersten Blick gar nicht so aussieht und entschädigt auf eigenwillige Weise für einen langen 12 Stunden-Tag auf den Reifen unseres Autos.
Aber der Reihe nach.
Dass der Weg nach Frankreich nicht kurz ist, wissen wir. Haben wir schon mehrfach getestet. Als die Kinder noch ganz klein waren und wir uns mit einem gemieteten Auto für eine Woche auf den Weg in die Bretagne aufmachten, lies der Junior immer wieder die Worte durchs Mobil schallen: “Lange, lange Häuschen fahren”. Heute fahren wir ohne Kinder (also weniger Pullerstopps) und im Gegensatz zu vor zwanzig Jahren, schneller, sicher und respektloser. Die Franzosen fahren auch nur Auto. Der Weg führt über Aachen nach Belgien. Belgien ist für uns immer ein Durchfahrtsland. Mittlerweile haben die Nachbarn große Teile der Autobahn in Schuß gebracht und selbst die Raststätten sind nicht mehr klebrig. Die Belgier müssen irgendwann festgestellt haben, dass es doch angenehmer ist, auch auf Autobahnraststätten nicht im eigenen Urin oder dem der Nachbarvölker zu stehen. Auch Schlaglöcher – und davon besaßen die Autobahnen in Belgien immer mehr als das Land Einwohner – lassen sich mit den Geldern der Europäischen Union gut überarbeiten. Dann kann man selber schneller fahren und die ganzen Durchreisenden sind ebenfalls ganz schnell wieder weg.
So wie wir. Zwei Stunden Fahrt und Belgien ist abgehakt. Nichts gegen die Belgier. Aber mein Lieblingsreiseland wird das nicht.

In der Normandie ist es nebelig. Die Temperatur ist auf 13 Grad gesunken. Wir fahren in die Gegend entlang der Somme. Die Landschaft ist eigenwillig. Eine Mischung aus Grundmoräne und zerrissener Weltkriegslandschaft. Einige der fürchterlichsten Schlachten des 1. Weltkrieges haben hier getobt. Zehntausende Soldaten aus verschiedensten Ländern ließen hier in den Grabenkämpfen sinnloserweise ihr Leben. Das Kanonen- und Granatenfeuer konnte man als dumpfes Grollen noch im entfernten London spüren. Beim Durchqueren der Straßen ziehen sich die Felder rechts und links der Route entlang. Viele geschwungene Hügel, manche zerrissen, schartig und voller Abbrüche. Kriegswunden, die bis heute nicht endgültig geheilt sind. Immer wieder weisen Schilder auf am Straßenrand angelegte Soldatenfriedhöfe. Kein Dorf, ohne Kriegerdenkmal. Was vor allem wir Deutschen diesem Land angetan haben, ist nur schwer nachvollziehbar. Ich bin jetzt Fünfzig und habe mit alledem nichts zu tun. Ich bin geboren worden, als Deutschland und Frankreich bereits einige entschiedene Schritte in Richtung Versöhnung und gemeinsamer Freundschaft unternommen hatten. Eine Freundschaft, die es mir Wert ist, gern und oft ins Nachbarland zu fahren und dabei stets mit großer Herzlichkeit empfangen zu werden. Trotzdem ist mir unwohl, wenn ich durch die Schlachtfelder fahre, deren Grauen bereits einhundert Jahre zurückliegen. “Nicht meine Schuld” denke ich und fühle mich dabei nicht so, als würde ich es glauben.
Auch der winzig kleine Ort Chepy kurz hinter Abbeville ist solch ein Ort.
Die Felder sehen ordentlich aus, die Häuser wechseln zwischen schwerreich renoviert und gerade so vorm Verfall gerettet. Schwarz-weiße Kühe stehen auf Weiden, die wirken, als hätte man sie vor hundert Jahren übel zersprengt. Neu sind die Windräder, die hinter dem stillgelegte Bahnhof ihre Drehköpfe in den Nebel stecken. Die Schwalben schweben vorsichtshalber über dem Erdboden, Möwen vom nahen Kanal drehen ihre Runden.
Das Hotel “L’auberge Picarde” wirkt leer. Ohne Anmeldung und nur mit dem Wunsch ein Zimmer für die Nacht zu bekommen, erscheinen wir an der Rezeption. Prompt bekommen wir einen Schlüssel und ein Zimmer. Hoffentlich kochen die auch für uns, denke ich und gehe zu Auto, Wäsche raussuchen. Auf dem Rückweg werde ich fast von einem Reisebus gerammt. Eine größe Rentnergruppe entspringt dem Bus und entert die Rezeption. Am Ende hängt noch ein Schlüssel am Haken. Wo die alle herkommen, weiß ich nicht. Belgien klingt aber wahrscheinlich. Entweder auf Durchreise oder Weltkriegstouristen. Wenn das Hotel so unvermittelt von Leuten im Alter um 70+ gefüllt ist, mache ich mir Sorgen um meinen Nachtschlaf. Die Wände sind dünn, die Wasserleitungen laut. Vermutlich wird die ganze Nacht irgendwo eine Spülung laufen.
Das Hotel hat sicher bereits bessere Zeiten gesehen. So kurz vor der Einweihung, vielleicht. Der sanitäre Standard segelt nicht unbedingt weit den den aktuellen Trends voraus. Eigentlich ist es eine Schaluppe, in der zwei Bedienste hinterher rudern. Im Bad herrscht Fliesenfrevel. Die Klobrille verliert ihre Farbe, die Heizung zeigt Rost. Aber es wird sauber gehalten, so gut es geht und das kleine Zimmer reicht für eine Nacht auf der Durchreise.

Das Abendessen im dazugehörigen Restaurant entschädigt für alles. Keine ausufernde Küche mit hunderten Angeboten finden wir vor, sondern regionales und überregionales zum verschmerzbaren Preis. Der Kellner erinnert mich an Louis de Funes, den französischen Volksschauspieler, der in “Brust oder Keule” die französische Gastronomie wie kein anderer darstellte. Unser Kellner hat den selben hektischen Gang, die Schultern fallen ihm runter und das Gesicht gleicht ihm ebenfalls. Breites Lächeln auf dicken Lippen und Augen, die in der Lage sind zu Grinsen.
Wir versuchen die regionale Spezialität: etwas das Andouillette heißt. (Die Schreibung wird noch korrigiert.) Es handelt sich dabei, um im Darm gegrillte Kutteln. Wer sowas noch nie probiert hat, dem rate ich auch nicht unbedingt dazu. Es riecht, als würde man ein Picknick im Rieselfeld veranstalten. Ich habe das schon mal gegessen. Damals hatte ich in dem Restaurant das beste Essen gewählt, was es gab. Alle anderen hingen mit ihrer Pizza weit hinterher. Aber heute, das war schon sehr rustikal. Einmal Schwein von innen. Nun. Ich vertrag ne Menge und habe es auch heute aufgegessen. Ich wollte ja was Regionales. Meine Schuld. Meine Herzdame hat es mutig ebenfalls versucht und ist daran gescheitert. Als Entschädigung hat Louis de Funes ihr dann zwei Desserts serviert. Eines davon war eine Creme Caramel von den Ausmaßen eins Stückchens Buttercremetorte. Danach war sie wieder glücklich.
Das Eau de Vie mit Birnengeschmack und zwei Stücken Käse versiegelten auch meinen Magen. So bleibt das Güllewürstchen hoffentlich heute Nacht drin.
Die belgische Reisegruppe amüsiert sich derweil mit schunkeligen Weisen und ist noch nicht fertig mit Feiern und auch die einheimische Großfamilie, die den ümpfonipsisgten Hochzeitstag der Altvorderen im Restaurant feiern, sitzt noch samt fünfjährigem Enkel im Restaurant, während ich jetzt langsam, von Wein, Käse und Güllewurst gesättigt zur Seite kippe, und hoffe morgen den Weg bis in die Bretagne zu schaffen.
Bis später.