Den Calanques En Vau, eine der schönsten Badebuchten von Cassis erreicht man nur mit ein bisschen Mühe und Aufwand. Man muss schon entschlossen sein, dort auch ankommen zu wollen.
Der Weg führt erneut über die Höhe oberhalb der kleinen Segelhafenbucht, weiter hinauf auf das Felsmassiv und dann wieder hinunter zum Calanque Port Pin. Auch heute am Freitag nach Himmelfahrt sind die Kiesel gut mit Badefreudigen bedeckt.
Wir halten uns aber nicht weiter auf, folgen rechts dem ausgewiesenen Wanderpfad hinauf. Steinig und steil ist der Pfad unter den schattenspendenden Kiefern und Krüppeleichen. Einige Sträucher sind eingesponnen, weiter oben steht an einigen Stellen der Ginster in gelber Blüte. Nach knapp drei Kilometern erreichen wir den höchsten Punkt des Weges, an dem uns ein Wegweiser die Richtung des Calanques En Vau weist. Uns und noch etwa sechzig weiteren Wanderern und Badelustigen. Eigentlich zeigt der Pfeil geradeaus, doch richtig wäre es, wenn er direkt nach unten weisen würde. Ein Abstieg wie aus einem Kletterpark tut sich vor uns auf. Unter uns erscheinen immer wieder fröhliche Gesichter, die sich die steilen, zum Teil glatten Felsen hinaufhangeln, manchmal ein wenig zur Seite rücken, um herabkletternden Leuten Platz zu machen.

Die Felsabhänge sind stellenweise nur rutschend oder rückwärts herabhangelnd zu bewältigen, der Blick nach unten zeigt vor allem eins – Abgrund. Kein Halteseil, keine Hilfestellung hindert den Kletterer daran, bei einem Fehltritt in die Tiefe zu stürzen. Ein zehnjähriger überholt mich flink auf dem Weg nach unten. Eine Frau mit einer verpackten Strandmuschel über der Schulter bittet sich vorbei. Ein Herr, der etwas älter ist, als ich erklärt mir, dass der Abstieg nur noch knapp fünfzig Meter so steil ist und dann gemäßigt weiter hinab geht. Gemäßigt bedeutet, dann ein rutschiges Schotterbett herabzusteigen, das ebenfalls ein recht bemerkenswertes Gefälle aufweist. Festen Halt gibt es nicht und immer wieder hört man das Geräusch wegrutschender Schuhe. Aber niemand rutsch aus oder kommt ernsthaft zu Schaden. Die Leute wollen ja bloß baden gehen. Ich bin mir sicher, dass es diesen Weg zu einem Strand in Deutschland nicht gäbe.
Schließlich laufen wir noch einen knappen Kilometer unter Bäumen entlang, sehen erodierte Felsformationen an denen Kletterer mit Seil und Helmen baumeln, denen der normale Zugang zu unspektakulär ist. Und dann erreichen wir den völlig überfüllten Badestrand – den Calanque En Vau, wunderschön anzusehen, wie das hellblaue klare Wasser zwischen den Felswänden schimmert, vereinzelt Ruderboote und Ausflugskähne eingangs der Bucht schaukeln und sich Leute allen Alters und aller Gewichtsklassen am und im Wasser erholen. Wie sind die vielen Menschen hierher gekommen? Die können doch unmöglich mit Kleinkindern, Hunden, Flip-Flops und Strandausrüstung vom Felsen gekraxelt sein. Auf meiner Karte finde ich einen weiteren Wanderweg eingezeichnet, der zu einem Parkplatz führt, allerdings auch etliche Kilometer entfernt ist. Wahrscheinlich etwas gemäßigter im Anstieg und näher an Marseille dran. Trotzdem ist der Aufwand hier her zum Baden zu gelangen wesentlich größer, als beispielsweise in Berlin zu versuchen einen halbwegs attraktiven Badestrand zu finden.
Bevor ich auf die Idee komme auch Baden zu gehen, suche ich meine Powerbank, um das Wandernavi noch ein bisschen am Leben zu erhalten. Im Rucksack befindet sich nicht viel: Ein Erste- Hilfe-Set für Wanderer, ein Ladegerät, ein Handtuch und ein Tool, das mir meine Tochter geschenkt hat. Ein Art Taschenmesser, das außer den üblichen Dingen, wie Dosen- und Flaschenöffner und Messer, auch ein kleine, sehr scharfe Axt aufweist. Diese ist mit einem Gummiüberzug gesichert, damit man sich nicht schneidet. Jedenfalls ist sie normalerweise mit diesem Überzug gesichert. Der muss aber während der Wanderung abgerubbelt worden sein, denn als ich blind ins Rucksackfach greife, auf der Suche nach der Powerbank, fasse ich direkt in die Schneide der Axt und merke, dass diese wirklich scharf ist. Ich ziehe meinen Daumen wieder aus dem Rucksack heraus und sehe, wie er mit ordentlichem Druck blutet. Die Vorstellung, hier am letzten Zipfel der Grand Nation, wo es kaum Hilfe auf Rettung gibt still und einsam zu verbluten, behagt mit gar nicht.

Bis auf dreihundert Badegäste gibt es hier nichts. Diese beinahe ausweglose Situation ermöglicht mir zum ersten Mal, auf mein frisches Wanderer-Erstehilfe-Set zurückzugreifen. Und da ist mehr drin als nur Blasenpflaster. Der Schnitt im Daumen ist einigermaßen tief und erfreulich glatt. Mit etwas Druck verbindet mir meine Herzdame die Wunde und meine Idee, im kalten Wasser der Bucht baden zu gehen, schwindet aus gesundheitlichen Gründen. Ein Hund wuselt um uns herum, wahrscheinlich ein Bluthund, der irgendwas gewittert hat, dass er jetzt reißen muss.
Später stehe ich trotzdem bis zu den Knien im eiskalten Wasser, während meine Herzdame und ein paar andere Pinguine munter zwischen den treibenden Eisbergen herumtollen. Ich stecke den langsam durchsuppenden Daumenverband ins kalte Wasser, bis die Wunde zu puckern beginnt. Dann verlasse ich das Wasser. Haie sollen ja Blut noch bis in einhundert Kilometern Entfernung riechen.
Es bleibt trotz allem Ungemach einer der herrlichsten Plätze an der südfranzösichen Küste, trotz der Kälte des Wassers, der Unmengen an Badegästen, dem unkomfortablen Anreiseweg und meiner verstümmelten Hand.
Auch hier sieht man niemanden seinen Müll herum liegen lassen. Was ausgepackt wird, wird auch wieder eingepackt. Ein Ausgangs der Bucht am Fels angenageltes Schild weist auf die Mühen hin, die es macht, diese schlecht erreichbaren Calanques von Müll zu befreien.
Ein etwa zehn jähriger Junge huscht an mir vorbei. Er trägt Kletterhelm, festes Schuhwerk und allerhand Seil und professionell aussehende Karabinerhaken am Körper. Geschwind ist er mit einer Gruppe Gleichgesinnter eine kleine Felsnase hoch. Unten steht ein Kletterexperte mit einem Zettel, auf dem ein Felsen abgebildet ist, auf dem einige Zickzacklinien in verschiedenen Farben gemalt sind. Alles mögliche Wege, die steilen Wände hinauf zu kommen.
Für uns gilt es nur, den ganzen Weg wieder hinauf zu kraxeln, den wir gekommen sind. Kurzzeitig überlege ich, die Strecke über den ausgewiesen Pfad zum Parkplatz zu nehmen, der mir flacher vorkommt, da auf diesem auch wesentlich mehr Flip-Flop-Wanderer unterwegs sind. Bei dem Weg wissen wir aber nicht, ob es dann auch einen attraktiven Weg nach Cassis gibt. Der Weg über die Felswand erscheint da fast sicherer, obwohl ich nicht weiß, ob ich – schwer verletzt, wie ich bin, die Kletterwand einhändig hinaufkomme und wie lange das dauert. Es geht überraschend schnell, bis wir oben sind. Es ist zwar etwas mühselig, aber kaum fünfzehn Minuten nach dem wir den Rückweg angetreten haben, schauen wir verschwitzt von der Höhe des Felsmassivs hinab in den Abgrund, in dem irgendwo der Calanque En Vau und seine Badefreuden locken.
Etliche Menschen warten bereits an der Wegeskreuzung darauf, sich in die Reihe der Absteigenden einzureihen.
Wir nehmen den Rest des Weges nun locker in Angriff.
Damit hätten wir es geschafft, den Calanque auf alle möglichen Arten zu besuchen. Mit Schiffchen, Paddelboot, zu Fuß. Sicher kann man auch mit professioneller Kletterausrüstung vom nächsten Aussichtspunkt dorthin gelangen oder man lässt sich von der französischen Luftwaffe, die gern mal durch enge Schluchten düst, einfach abwerfen. Aber uns genügen die drei gemäßigten Varianten vollkommen.