Die Störche sind fast alle weg. Lediglich die fünf Exemplare in der Storchenschutzanlage von Eguisheim, die hier auch überwintern, treiben sich auf den Dächern herum und besuchen die Nester der Abgereisten. Ein paar Nachzügler trödeln durch die Region am Fuße der Vogesen, in der es Ende September noch recht warm ist. Doch der Sommer ist vorüber und auch der goldene Herbst liegt in den letzten Zügen. Die Weinlese ist im vollen Gange. Ein Großteil der Weinfelder, die sich die Hänge am Rande der Berge hinauf ziehen sind schon von ihren Früchten befreit worden, andere hängen allerdings noch mit kleinen süßen roten und weißen Trauben voll. Jeder heimliche Diebstahl beim durch die Weinberge ziehen, lässt ein verräterisches “Hmmm, sind die gut” erschallen. Die Finger kleben vom süßen Diebesgut. Der Sommer im Elsass war lang und trocken. Regen kam nur als Gewitter herunter. Dann aber heftig, wie hier am Rande des Mittelgebirge üblich.
Jetzt riechen die Dörfer nach Weinmatsch, nach Traubensaft, nach Maische. Und am Wochenende feiern sich die Winzer und ihre Helfer für die Arbeit und den neuen Jahrgang.
Dieser Sonntag ist ein schöner Herbstag in Eguisheim. Das beschauliche Winzerdorf am Fuße der Vogesen ist mit seiner übertriebenen Mittelalterausstrahlung bei Reiseveranstaltern so beliebt wie Disneyland. Die mittelalterliche Stadtmauer, die den Ort kreisförmig umgab, ging im Laufe der Jahrhunderte in den Fachwerkhäusern auf, die sich an das Gemäuer heranmachten. Jetzt ist die Rue de Rempart der letzte innere Ring des Ortes, der an die einstige Stadtmauer erinnert. Die Fachwerkhäuser stehen schief und dicht gedrängt an den Kopfsteinpflastergassen. Kleine steile Treppen führen in die aufwendig restaurierten Häuser. Die Erbauungsdaten kann man in die Tür- oder Fensterstürzen graviert finden.
In einem der vielen schönen Häuser des Ortes, dass mit dem Titel Plus Beaux Villages de France ausgezeichnet wurde, wohnen wir zu zweit für ein paar Tage in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Romantik im Vintageambiente. Die Dielen quietschen bei jedem Schritt. Der schwere Geschirrschrank schwankt, wenn ich mich vorsichtig an ihm vorbei mogle. Die Küche ist Wohnraum zugleich. Ein Eichentisch steht in der Mitte, zwei Sessel und eine Stehlampe nebst kleinem Beistelltisch neben den Fachwerkständern, die das Dach stützen. Fünf Meter sind es knapp von einem Fenster zum gegenüberliegenden. Eines schaut auf eine Straße, die einst außerhalb der Stadtmauer entlangführte. Das andere zeigt auf die Innenseite des Ortes, auf eine schmale, nur von Fußgängern begangene Kopfsteinpflastergasse. Ganz selten tuckert mal ein Anwohner aus einer der engen Garagen, zuckelt die Müllabfuhr mit einem kleinen Pick-up durch den Ort oder, wenn es Nacht ist und man glaubt, dass es keiner merkt, knattert ein Mofa durch die Gasse. Vom Fenster aus kann ich den Kirchturm sehen, ein Storchennest auf das Dach gepflanzt und die Dachschindeln weiß bekleckert. Nachts steht der Mond über den alten Dächern.
Morgens ist es ruhig. Beinahe ausgestorben wirkt der Ort. Vereinzelt schleicht eine Katze an den Blumenkübeln vorbei oder ein Anwohner auf den Weg zum Bäcker. Erst gegen zehn erreichen die Reisebusse den etwas außerhalb gelegenen Parkplatz. Dann wird man schnell zu einem authentischen Einwohner, wenn man mit freien Oberkörper aus dem Bad kommt und einen kurzen Blick auf die Straße riskiert. Blitzende Kameras fotografieren die Fassade mit dem roten Putz und den braunen Fachwerkbalken und den aus dem Fenster starrenden halbnackten Glatzkopf. Deutsche Touristen meckern, weil das Motiv versaut ist, japanische Touristen kichern und halten sich die Hand verschämt vor den Mund, bevor sie eifrig weiter fotografieren. Amerikanische Touristen mit um den Hals gehängten Namens- und Herkunftsschildchen stützen sich gegenseitig und achten auf den nächsten Schritt, den sie auf dem Kopfsteinpflaster tun. Sie schauen selten nach oben.
Die Gassen füllen sich. Heute besonders. Denn es ist der Tag, an dem das Fest des neuen Weines gefeiert wird. Ein Fest, das als Dank an all die fleißigen Leute gedacht ist, die in den letzten Wochen in den Weinbergen die reifen Trauben gelesen haben. Auf dem zentralen Marktplatz unterhalb des Chateaus St. Leon, das mit Kirche und Burgfried den Mittelpunkt des Ortes ausmacht, stehen Bänke, Tische und eine kleine Tanzbühne. Es ist kaum Mittag, der Platz bereits überfüllt. Überall trinkt man elsässischen Wein, Federweißer, Pinot Gris und Riesling, der rund um Eguisheim reift. Eine Frau greift zum Mikrofon, der daneben stehende Mann zu Orgel. Es wird ein französisches Chanson angestimmt und die Tanzfläche füllt sich mit den reiferen Ortsansässigen. Man sieht ihnen an, dass sie den Spaß genießen, den sie sich nach Weinlese und Maische rühren verdient haben. Die Gesichter der Männer sind kantig und vom Wetter modelliert. Die Frauen haben sich selbst modelliert, sich ordentlich aufgerüscht, um jeglicher Konkurrenz eine klare Ansage zu machen. Dünne, faltige Beine schauen aus zu kurzen Kleidern hervor oder wurden in Kunstleder gezwängt. Starr geschminkte Gesichter beobachten über die Schulter des Tanzpartners die benachbarten Paare. Verwegen quillt das Brusthaar aus dem halboffenen, viel zu engen Hemd eines stattlichen Mannes mit einer zwei Köpfe kleineren schmalen Frau. Alles dreht sich, wie auf der Tanzschule. Man singt mit, laut und nicht immer richtig, aber mit Spaß. Der französische Schlager wird überraschend von einem bayrischen Oktoberfestgröhler abgelöst und das Elsässer Weinvolk brüllt: “Eins, zwoa, gsoffa”. Papst Leo IX., der aus Eguisheim stammt, blickt etwas verstört von seinem Denkmal herab. Hier wird ihm entschieden zu eng getanzt.
Leo hatte es nicht so mit dem Zwischenmenschlichen. Für seine Berufsgruppe erfand er dann auch das Zölibat. Bis heute sind noch einige katholische Geistliche sauer, auf das Vermächtnis des Elsässer Papstes.
In den bunten Hängegeranien am Marktbrunnen tanzen die Taubenschwänzchen herum. Im Storchennest auf der Burgkapelle hopst eine Krähe auf und ab. Rund um den Marktplatz fotografieren Touristen das getanzte Geschehen. Unterhalb des Burgfrieds läuft man eine schmale Gasse zwischen einem Gasthaus und der Burgmauer entlang und gelangt zum benachbarten kleinen Platz auf der Rue de l’Or. Es riecht nach Gewürzen, die auf einem Marktstand ausgebreitet liegen. Die Musik vom Tanzplatz ist nicht mehr zu hören. Dafür hat eine Händlerin einen Verkauf von heilsbringenden Esotheriksoundprodukten aufgebaut, der das weinselige Ambiente etwas korkig erscheinen lässt. Aber der Ort ist klein, voller Häuser und Gassen. Schon wenige Meter weiter hört man nichts mehr vom Treiben in der Ortsmitte.
Die Kirche Peter und Paul hält ihr Tor geöffnet. Drinnen ist es ruhig und hell. Die Kirche erscheint riesig. Die Wände sind weiß gestaltet. Durch die hohen Fenster fällt in vielen bunten Facetten das Sonnenlicht herein. Nachdem 1787 während eines Gottesdienstes Teile der Kirche einstürzten, entschied man sich für einen Neubau. 1807 wurde das alte Kirchenschiff fast vollständig abgetragen und ein neues an selber Stelle errichtet. Die Fenster gestaltet man 1960 neu. Die Orgel modernisierte man über zwei Jahrhunderte. 2000 restauriert man sie erneut. Vergleichsweise wenig Schmuck bietet die Kirche auf. Ein Beispiel für moderne Religiosität in altem Gemäuer.
Eguisheim gilt als Ort, in dem man das Mittelalter spüren kann. Das mag insofern wahr sein, als das viele Häuser und die gesamte Stadtanlage tatsächlich aus dem Mittelalter übriggeblieben sind. Doch täuscht man sich, wenn man hier von Authentizität spricht. Die gepflasterten Straßen sind neueren Datums. Keiner läuft mehr durch feuchte Erde und dem Kot von Pferden und Menschen. Die Farben an den Fassaden verdankt man ebenfalls jüngerer Bauästhetik. Das Gleiche gilt für die Füllung im Fachwerk. Die Zeiten, in denen Kuhmist als Isolierung zwischen die Holzverstrebungen gepresst wurde, sind lange vorbei. Die frische Farbenpracht der Häuser stammt aus dem 20. Jahrhunderts.


Waren früher die Außenwände unverputzt, suchten sich im 19. Jahrhundert die bessergestellten Einwohner der Städte eine Fassadenverkleidung auf Zementbasis. Wer etwas auf sich hielt, gab mit grauen Außenwänden an, unter denen sogar das Fachwerk versteckt wurde. Das hielt die Feuchtigkeit draußen und die Wärme drin. Der graue Farbton galt als schick und wohlhabend. Mit zunehmender Industrialisierung ergrauten die Fassaden ohnehin immer mehr. Wer einen Blick auf diese Zeit erhaschen will, muss sich nur in eine Seitengasse begeben, also auf die Rückseite der Fachwerkbauten. Dort findet man noch immer die Ansicht vom Eguisheim des frühen 20. Jahrhunderts. Die Farbenpracht, die Eguisheim heute so schön und so besonders macht, ist eine modernere Sicht des Stadtbildes. Eine zugegeben Angenehme. Eguisheim gibt ein idealisiertes Bild einer mittelalterlich errichteten Stadt ab, mit all dem Luxus und der Bequemlichkeit, die die Gegenwart zu bieten hat. Zu diesem Bild gehören kleine Geschäfte und Souvenirläden, Handwerksbetriebe, Weinverkäufer, Restaurants, die Winstub und Unmengen von Blumen und Grünpflanzen, die aus jedem Fenster quellen und vor jeder Tür stehen. So wird man Plus Beaux Villages de France, ein Besuchermagnet, ein stetiger Quell sprudelnder Einnahmen.
Hallo ich mochte im Jahre 2018 Juni/Sept mit unserem Verein Samstag/Sonntag ca. 35 Personen einen Ausflug machen.
Was können sie mir in dieser Zeit an Veranstaltungen anbieten. (Winzerfest usw)
Es würde mich freuen wenn sie mir was passendes anbieten könnten.
Danke Harald
Hallo,
Ich bin auch nur als Tourist dort gewesen und bin nicht das Tourismusbüro.
Allerdings gibt es in Eguisheim und Umgebung im Sommer viele schöne kleine und größerer Veranstaltungen. Auch Colmar hat viel zu bieten. Meine Empfehlung wäre, sich an die örtlichen Tourismusbüros zu wenden und dort direkt nachzufragen.
Mit freundlichen Grüßen.
Ihr Fahrtenschreiber.