Schlosspark mit Gräfin
Es ist ein Februartag, der zu den wenigen schönen gehört. Ein blauer Himmel blitzt und das dünne Eis auf den Fließen glitzert trügerisch einladend. Die Wege sind je nach Lage matschig oder vereist. Auf jeden Fall sollte man seine Schritte mit Bedacht setzen. Lenkt man seine Schritte vom Haupteingang des Schlosses zum Marstall, so findet man rechter Hand das große gusseiserne Schlosstor, das von einer kronengeschmückten Schlange verziert wird. Gleich daneben steht eine Statue, die den Stammvater des Geschlechts der Lynar darstellt, Rochus Quirinus Graf zu Lynar. Der hat zwar nichts unmittelbar mit dem Bau des Lübbenauer Schlosses zu tun, die Grafschaft Lübbenau wurde erst 30 Jahre nach dem Tod Rochus’ von der Witwe eines seiner Nachfahren erworben. Rochus Quirinus Graf zu Lynar stammte aus der Toskana und wurde in Florenz zusammen mit Cosimo de Medici erzogen. Er erwarb sich nicht nur einen Sack voll Lorbeeren als Militär, sondern verfügte auch über ein hervorragendes Ingenieurswissen, besonders auf dem Gebiet der Militärarchitektur. Er kümmerte sich um die Verbesserung der Festungsanlagen August des Starken und gestalte in der sächsischen Residenzstadt Dresden das Zeughaus, das heutige Albertinum um und war Bauleiter am Berliner Stadtschloss. Sein bekanntestes Bauwerk ist die Spandauer Zitadelle. Die Büste des Grafen ist ein Geschenk von Kaiser Wilhelm II. aus dem Jahre 1903. Es entging nur knapp der üblichen Einschmelzung von Metallbüsten der Kaiserzeit in der rohstoffknappen DDR. Man kann verstehen, dass die späteren Grafen von Lynar ihrem berühmtesten Ahnen einen Platz an der Sonne vor dem Eingang zu Schlosspark gönnen und die Bronzebüste nach der Wende wieder auf den einstigen Sockel stellten.
Vorbei am Fachwerkbau des Marstalls, der heute mit kinderfreundlichen und barrierefreien Urlaubsapartments ausgestattet ist, gelangt man zu Orangerie. Im barocken Gartenbauensemble war die Orangerie ein wichtiger Ort, um die mediterranen Pflanzen, die im Sommer den Schlossgarten aufhübschen sollten, über den strengen deutschen Winter zu retten. Heute ist dieser imposante klassizistische Bau ein Veranstaltungsort für Feste und Feiern mit gehobene Gastronomie. Zwölf dorische Säulen stützen das Dach auf der dem Hof zugewandten Seite.
Der Schlosspark entspringt einer Idee Lennés, dem Popstar der Garten- und Landschaftsplanung im frühen 19. Jahrhundert. Um 1820 wurde der Park zwischen Spreewaldflussläufen und weiten Wiesen im Stil des englischen Landschaftsgartens angelegt. Zu dieser Zeit bekam das ehemalige Wasserschloss auch einen grundlegenden Umbau verpasst. Es war eine von Romantik geprägten Zeit. Die Gebrüder Grimm hatten 1810 ihren Bestseller “Deutsche Hausmärchen” auf den Markt gebracht und das Ideal des deutsche Adels verklärte sich gerade ins märchenhafte. Das Schloss wurde beseelt vom Renaissancegedanken umgestaltet und bekam zu seinem neuen Chic auch noch zwei Dornröschentürme an die Spitze gesetzt. Heute würde man diese Form von romantischer Bauweise als eine Art snobistischen Retrostil ansehen. Damals wie heute war so was total angesagt.
Wir wandeln noch ein wenig weiter durch den Park. Ein kleiner Fließ trennt den Park von der Straße, die ins abgelegene Spreewaldörtchen Lehde führt. Ein Zaun scheint nicht notwendig, denn man muss schon mutwillig nass werden wollen, um ihn zu überspringen. Abgesehen davon ist der Park von verschiedenen Seiten aus öffentlich zugänglich und steht allen offen, nicht nur den Hotelgästen. Eine geschwungene weiße Brücke überspannt ein weiteres kleines Fließ, das einen Teich speist. Ein paar Enten lümmeln im Wasser und von einem nahen Baum glotzt ein Kormoran herab. Das ursprüngliche Gesicht des Parkes, so wie es sich Linné einst ausgeheckt hatte, ist heute kaum zu erkennen. Die Vernachlässigung nach dem Kriegsende ließ viel Raum für Wildwuchs. Alte Sitzgruppen verschwanden, Bäume und Sträucher, die hier nicht angesiedelt waren, kamen zu Besuch und blieben. Die heutigen Besitzer des Schlosses, ebenfalls Nachfahren der Lynars, planen unter Einbeziehung von Lübbenauer Stadtverwaltung und einem Landschaftsarchitekten aus der Region, den Park schonend wieder ein der Historie entsprechendes Lifting zu verpassen. Hier drängt sich die Floskel: “Man darf gespannt sein” förmlich auf. Die gräfliche Familie scheint allerdings ein großes Interesse am gepflegten Image ihres Besitzes zu haben. Das Engagement ist groß und das Hotel in seinem Ruf und seinen Leistungen hervorragend. Ein gutes Image ist auch ein gutes Kapital.
Nachdem wir die Brücke hinter uns gelassen haben, leuchtet eine kleine Sitzgruppe in den wärmenden Strahlen der Spätwintersonne. Da der leise Hauch von Frühling nur von ganz hartgesottenen Gegenwartsverächtern ignoriert werden kann und wir nicht dazugehören, setzen wir uns und genießen das Schnattern der Enten, das Zwitschern der Meisen, das Hämmern der Spechte und den multilinguale Gesang des Kleibers. Vogelstimmenbeschreibung ist gerade beim Kleiber schwierig, da er einfach keine Lust hat einsilbig zu sein oder ornithologisch vorbildlich seinen Namen zu singen, wie etwa der Kuckuck. Anerkannte Ornithologen behaupten, dass des Kleibers Gesang etwa so klingt: „djüdjüDJÜ djüdjüDJÜ“, wobei die Großschreibung am Ende des Verses zu beachten ist. Ich will das ja nicht in Frage stellen. Ich habe nur den Eindruck, dass Vogelgesang und deutsche Rechtsschreibung kein bisschen zusammen passen. Wenn sie wissen wollen, wie sich der Kleiber anhört, gehen sie im Frühling in einen Park, suchen sie nach einem Vogel mit spitzen Schnabel, der kopfüber einen Baumstamm herunter klettert und eine Art schwarzer Zorromaske über den Augen trägt und hören sie dann einfach zu, was er zu sagen hat.
Ich lausche gerade den Klängen aus dem Geäst und blicke über die Wiese, die auch hier von arbeitsfreudigen Maulwürfen gestaltet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkes nehme ich eine Gestalt wahr, die auf den ersten Blick nicht hierher zu passen scheint und auf den zweiten Blick sehr wohl und vielleicht noch besser als wir hier her zu passen scheint. Zuerst denke ich an eine Fata Morgana. Doch da wir uns im beinahe menschenleeren Schlosspark eines europäischen Adelsgeschlecht befinden und nicht in einer überfüllten Flüchtlingsaufnahmestelle mit überwiegend morgenländischer Klientel, dürfte dieser Gedanke ausscheiden. Es scheint ein wandelnder Schlossgeist aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Ein Kopfputz aus weißer Spitze auf einer dunklen Kappe sitzt auf braunen Locken. Ein schwerer schwarzer Mantel bedeckt kaum das darunter hervorbauschende rot-weiß berüschte Kleid mit einer ausladenden Krinoline. In der linken Armbeuge hängt eine braune Tasche. In der rechten Hand trägt die Person einen geschlossenen Schirm. Sie läuft nicht durch den Park, sie spaziert auch nicht, sie schreitet langsam, fast schwebt sie über die Wege. Sie biegt auf den kleinen Weg ein, der zu der weißen Brücke führt. Dann entschwindet sie aus meinem Blickfeld und kehrt für eine Weile nicht wieder. Ich stehe auf, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht doch halluziniere. Ich hätte vielleicht nicht Downton Abbey und die Verfilmung des Jane Austen Romans Stolz und Vorurteil gucken sollen. Das Zeug verkleistert einem die Synapsen mit Romantikschleim. Das habe ich nun davon. Jetzt sehe ich im Schlosspark ein Gespenst und analysiere dessen schicke Garderobe. Allerdings wird das Gespenst recht real, als es von der Brücke steigt und wenig später unseren Weg an einem Gedenkstein kreuzt. Das Gespenst entpuppt sich als eine Frau im gehobeneren Alter. Das Ansprechen der Frau ist etwas kompliziert, da sie erwartungsvoll in unsere Richtung schaut und wir sie anstarren. Irgend ein Gesprächsfluss muss nun in Gang kommen und ich bin mir nicht sicher, welchen Duktus dieser haben sollte. Sprechen wir sie nun im gewöhnlichen Stil der Gegenwart an oder befindet sich die Frau vielleicht tief in ihrer Rolle als spätbarocke Hofdame und wir sollten es irgendwie auf Piekfein versuchen?
“Guten Tach, die Dame” entfährt es mir. “Sie habe sich aber fein rausgeputzt”, lobt meine Herzdame die Frau.
“Ja, wa. Muss man ja ma, wenn so’n schicker Schlosspark zu haben iss.”
Oh, denke ich. Das ist aber ein radikaler Knick. Doch vielleicht hat die Hofschranze von anno Zopp ja auch nur klassischen Dialekt gesprochen. Der eher gewöhnliche Tonfall im Kostüm des Rokokochics setzt sich noch etwas fort. Die Dame outet sich als Sängerin, die Kammermusik aus dem 18. Jahrhundert vorträgt. Da gefällt es ihr, im historischen Ambiente auch mal historische Kleider an die moderne Luft zu führen und sich ein bisschen in gefühlter Vergangenheit zu ergehen. Vielleicht in Zeiten, in der man beim Spaziergang noch das Wetter im Original genossen hat und nicht die Idee eines möglichen Wetters auf einer Smartphone-App mit der Realität abglich. Es ist ein Spleen, den die Dame auslebt, aber ein sehr eleganter und stilvoller, der hier zu Haus und Landschaft passt. Sie versucht keine historische Figur nachzustellen, da sie Angst davor hat, deren dunklen Geheimnisse zu übernehmen. Sie verweist dabei auf lösungsorientierte Gruppenaufstellungen und der Gefahr sich mit Wiedergängertum zu infizieren. Deshalb stellt sie sich als Gräfin von und zu und was weiß ich zu Cosel oder Koslosky vor. Irgend was polnisches jedenfalls. Ihren Geburtstag will sie hier feiern. Nicht als rauschendes Fest, denn sie scheint allein ins Schloss angereist zu sein. Das Gespräch kommt ins Stocken, als ich auf die Tafel des Gedenksteins schaue, an dem wir halt gemacht haben.
“Wer wird’n hier ausgestellt”, fragt die Coseln.
Ich lese vor:
“Zum Gedenken an Freiherr von Zeidlitz und Neukirch, genannt Hegewald, dem Förderer des kontinentalen Vorstehhundes und der nach ihm benannten Hegewaldzuchtprüfung.” Die untere Tafel beinhaltet das Gelöbnis der Jünger Hegewalds in dem sie sich zur »Deutschen Heimat bekennen« und dazu, “den vierläufigen Freund, den Deutschen Jagdgebrauchshund als unentbehrlichen Helfer waidgerechten Jagens zu förden, zu hegen und zu Pflegen im Geiste Hegewalds.”
Amen.
Wir verabschieden die Coseln, da sie in ihrer Kledasche ohnehin nicht mit uns hätte mithalten können und lustwandeln zügigen Schrittes Richtung Parkplatz, um unsere eigene Kledasche aus dem Fahrzeug raus und aufs Zimmer rauf zu bringen. Dazu müssen wir einmal um den Teich herum, am Ballsaal – einem sympathischen Anbau an der Turmseite des Schlosses – vorbei und durch die Dirk-Lehmann-Straße. Wir wissen nicht, wer Dirk Lehmann ist. Der olle Fußballertorwart war es wohl nicht, der hieß Jens. Außerdem sollte man niemanden eine Straße widmen, der noch lebt, dachte ich. Überhaupt sollten unter Straßenschildern, die Personen gewidmet sind, Geburts- und Todesdatum stehen und seine Funktion, die ihn so aus der Gesellschaft heraus stechen lässt, dass man ihm eine Straße widmet. Nun, Straße ist zu viel gesagt. Es ist ein gepflasterter Durchstich durch eine Hecke, der auf den Parkplatz führt. Zu schmal, um nebeneinander her zu gehen und zu kurz, um drei ausladende Schritte zu machen. Stunden später lese ich in einem Informationsblättchen, dass Dirk Lehmann der aktuelle Küchenchef ist. Und so wie er kocht, finde ich, hätte er eine weitaus längere Straße verdient.