"Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee..."
------------Nina Hagen
Hiddensee
Juni 2020
“Nur noch 20 Personen. Und keine Fahrräder!”, schnarrte es über den Bordlautsprecher der Fähre “Wappen von Breege” auf die am Hafen stehenden Fahrgäste herab. Meine Herzdame und ich stehen mit weiteren 100 hoffnungsfrohen Reisewilligen am possierlichen Yachthafen von Vieregge. Hier am Jasmunder Bodden auf Rügen macht die Fähre vom Urlaubsort Breege Zwischenhalt auf ihrem Weg nach Hiddensee. Normalerweise nimmt sie die Fahrgäste auf, die sich auf dieser Seite des Boddens entschlossen haben, für ein paar Stunden oder Tage auf die kleine verträumte Insel vor Rügen zu türmen.
Nur was ist zu diesem Zeitpunkt schon normal. Es ist die erste Woche nach dem ersten großen Coronalockdown 2020. Alle wollen endlich wieder raus an die Luft. Niemanden hält es mehr in der Enge der gemeinsamen Wohnungen oder der Einsamkeit der Einfamilienhäuser.
Die Schüler dürfen immer noch nicht in die Schule. Die Erwachsenen sind platt von lauter Homeoffice und Homeschooling. Und die Rentner wollen auch mal wieder was anderes sehen, als “Brisant”.
Meine Herzdame und ich machen zwei Wochen Urlaub in Neuenkirchen, einem kleinen, abgelegenen Ort dicht hinter dem Bodden. Wir hatten an diesem herrlichen sonnigen Wochentag im Frühsommer die goldige Idee, nach Hiddensee zu fahren. Wie andere offensichtlich auch.
Die anderen knapp hundert Reisewilligen an Land, ca. 60 davon mit Fahrrädern, murren und betrachten den vollgepferchten Kahn missmutig. Das Schiff erschien ohnehin bereits eine halbe Stunde zu spät am Pier. Und nun war es auch noch proppevoll. Die Menschen drängelten sich an und unter Deck. Mit Masken, aber ohne Abstand und einer zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht zu erhoffenden Impfkampagne. Einige der bisher Mitfahrwilligen an Land tauften den Kahn schon mal MS Corona. Schließlich drehten sie alle wieder mit ihren Rädern und Wanderschuhen ab.
Wir taten es ihnen gleich und beschlossen die Reise nach Hiddensee zu vertagen.
Es sollte zwei Jahre dauern, bis wir die nächste Gelegenheit dazu bekommen sollten.
10.Juni 2022 - Schaprode - Tor zur Insel Hiddensee
Mit den Tags zuvor online gebuchten Tickets in meinem Taschentelefon, stehen meine Herzdame und ich gegen 10:00 Uhr morgens am Hafen von Schaprode im Osten der Insel Rügen. Ein Schiff hat gerade abgelegt, das nächste ist schon in Sicht. Es stehen schon mehrere Leute am leeren Pier an. Viele Fußgänger befinden sich darunter und etliche Fahrradfahrer. Die meisten Radfahrer halten schwere Räder fest, mit kräftigen Akkus an den Rahmen. Das anlaufende Schiff scheint groß genug, alle Anwesenden aufzunehmen. So viele Menschen, wie vor zwei Jahren sind heute nicht unterwegs. Im Moment sind nirgendwo Ferien und die Schüler haben kein Schulverbot mehr, sondern dürfen wieder in den Klassenzimmern schwitzen, wie es sich gehört. Trotzdem drängeln sich die Menschen an das Boot, als bestünde die Gefahr den Kahn zu verpassen. Einer Frau entwischt vor lauter Aufregung die Fahrkarte. Die leichte Brise wedelt den Fahrschein in Zeitlupe ins Wasser neben dem Schiff. Schwerfällig legt sich ein sehr stabiler Herr von der Schifffahrtsgesellschaft auf die Kaimauer und versucht, mit einem Besen das entflohene Ticket aus dem Wasser zu fischen. Es gelingt ihm. Mein Versuch, die Leute vor dem Schiff zu einem Applaus zu bewegen, misslingt allerdings. Als ziemlich letzte der Anwesenden schieben wir unsere Räder an Bord.
Es gehört sich nicht, die Fahrgäste einfach nur an Bord zu lassen und sie übers Wasser zu schippern. Ein kleines Unterhaltungsprogramm sollte schon im Angebot sein, damit man sich auf der Fahrt nach Neuendorf nicht langweilt.
Und das bordeigene Showprogramm hat wirklich allerhand zu bieten. Die halbstündige Überfahrt kann man sich zum Beispiel am Imbiss versüßen. Es gibt Brause, Schnaps, Bier, Knabberzeugs und Würstchen und davon so viel, wie man in einer halben Stunde verzehren kann.
Der Kapitän erklärt in brummigem Seemannsbass über den Lautsprecher, wohin wir fahren: Hiddensee! Und was wir sehen, wenn wir rechts aus dem Fenster gucken: Hiddensee! Und dann gibt es noch einen gut gemeinten Rat an alle Radfahrer, die die Fähre bestiegen haben: “Wer als Letzter an Bord gekommen ist, steigt als Erster aus. Anders funktioniert das nämlich nicht.”
Dann lässt er die Passagiere mit dem Imbiss, den Gesprächen auf den Nachbarsitzen und dem Bordbildschirm allein.
Auf den Plätzen schräg vor uns tauschen sich Heranwachsende über Speichermengen bei Handys aus. Nichts wobei man zuhören möchte. Ich schau rechts aus dem Fenster und sehe: Hiddensee! Das gucken wir uns nachher genauer an.
Bleibt der Bordbildschirm, dem wir frontal gegenüber sitzen. Zunächst gibt es Werbung für die Fähre nach Hiddensee, auf der wir gerade sitzen. Die fährt uns, nach Aussage des Bildschirms direkt nach Hiddensee. Schön davon rechtzeitig zu erfahren. Als Nächstes wird eine Kinderzeichnung eingeblendet, also Krickelkrakel mit Erklärtext. Zu sehen gibt es Zigarettenkippen und den Satz: “Papa, hör auf zu Rauchen!”. Das zweite Bild stammt vom selben Kind, unterschrieben mit Felicitas-Jolene, 3. Klasse. Es zeigt ein paar Zigarettenkippen, die über eine Schiffsreling fliegen und etwas Wasser, in denen sie schwimmen. Dazu sehen wir die ungelenke Zeichnung eines kranken Fisches, hustend und mit Fieberperlen besetzt, sowie ein Rotes Kreuz. Wenn wir uns nun Fragen, was das bedeuten könnte, klärt uns Felicitas-Jolene, 3. Klasse, in einem Kleinkindergekrakel, das an Erstklässlerschreibversuche erinnert, aber mit perfekter Grammatik auf: “Eine Zigarettenkippe verseucht ca. 60 Liter Trinkwasser.” Es erstaunt mich immer wieder, wie Kinder, die gerade erst das Schreiben gelernt haben, umweltbiologische Zusammenhänge erläutern können. Als ich acht war, hätte ich auf die Frage, was ich mal werden möchte alles mögliche Versponnene geantwortet: Astronaut, Dompteur, Neun. Heute lautet die Antwort Supermodel, Greenpeace und vegan. Nach der dritten Wiederholung der vorpubertären Propaganda legt das Schiff in Neuendorf an und wir dürfen von Bord. So ziemlich als Erste.
Im einstigen Fischerörtchen Neuendorf stehen die Häuser verteilt, wie auf einer Streuobstwiese. Sämtliche Zufahrtswege führen über Rasenflächen und durch Felder. Da das Dorf seit 2005 komplett unter Denkmalschutz steht, wird sich daran auch nichts ändern. Lediglich vom Hafen führt eine gepflasterte Straße weg. Vorbei an der Freiwilligen Feuerwehr, einmal quer durch den Ort und dann über die Insel in Richtung Vitte. Auf Hiddensee fahren keine privaten Autos. Ein paar Kleintransporter und der Inselbus touren zwischen den Ansiedlungen. Das Hauptverkehrsmittel ist hier also das Fahrrad. Touristen lieben das. Und Touristen machen über die Hälfte des Jahres den Hauptanteil der Menschen auf der Insel aus. Da Neuendorf nur die nötigste Infrastruktur besitzt, kann man hier außer Chillen und Baden nicht viel unternehmen. Hier nimmt man Erholung noch richtig ernst und das bereits seit vielen Jahrzehnten. Auch in der DDR galt Neuendorf als attraktiver Urlaubsort. Nur schwer war es möglich, im Sommer einen der beliebten Ferienplätze auf der Insel zu bekommen. Verteilt wurden diese vom FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, der Dachorganisation der Einzelgewerkschaften in der DDR. Wer da als Arbeiter nicht Mitglied war, hatte wenig Chancen auf eine organisierte Unterkunft. Und selbst als treues Mitglied der Gewerkschaft mit zusätzlicher Parteizugehörigkeit musste man schon einen Glückstreffer landen oder besser noch jemanden kennen, der im Organisieren etwas nachhelfen konnte, um tatsächlich in der Sommerurlaubsplatzlotterie vorn dabei zu sein. Meine Eltern hatten Glück oder etwas Ähnliches. 1974 durfte unsere kleine vierköpfige Familie in den Sommerferien auf die Insel Hiddensee fahren. Unser Ferienzimmer befand sich in einem alten Fischerhaus direkt unter dem Dach. Die Mitte des Raumes füllte ein Doppelbett. An die Wände gerückt stand ein weiteres Bett, in dem mein älterer Bruder liegen durfte und ein Kinderbett für mich. Ich hielt mich eigentlich schon zu groß für sowas. Ich kam schließlich bereits in die 2. Klasse. Aber wo sollte ich hin? Ein Schrank und eine Kommode polsterten den restlichen Raum aus. Die Wände gingen nach einem halben Meter in die Dachschräge über. Ein Gaubenfenster versorgte die kleine Gruft mit Licht. Auf der Kommode thronten eine Waschschüssel und eine Wasserkanne. Soweit erstmal alles zur Hygiene. Die Toilette war hinter dem Haus. Ein Plumpsklo mit allem dazugehörigen Getier.
Aber das Wetter war gut und wir waren meistens draußen. Mit Essen versorgten wir uns im nahen FDGB-Stützpunkt. Morgens, mittags und abends. Der Besitzer des Hauses, in dem wir wohnten, vermietete neben unserer Dachkammer im Sommer auch noch seinen Kuhstall. Dort hatte er ebenfalls eine kleine Ferienunterkunft eingerichtet. Ein junges Paar verbrachte damals zeitgleich mit uns seine Urlaubstage.
Mein Vater war trotz seiner Leibesfülle ein begeisterter Sportler. Jede Sportart, die es im DDR-Fernsehen anzuschauen gab, schaute er mit all dem lauten Elan, mit dem man Sport im Fernsehen anschauen konnte. Vom Radball, über Skispringen bis zum Bodenturnen. Ganz besonders mochte er Fußball und Leichtathletik. Der männliche Gast im Kuhstall hieß Wolfgang Nordwig und war Weltmeister im Stabhochsprung. Im Herbst 1972 hatte er in München als Olympiasieger geglänzt. Der einzige DDR-Stabhochspringer, dem das jemals gelang. Man muss sich das mal vorstellen. Ein Olympiasieger. Und der übernachtete im Kuhstall. Mein Vater war schwer erfreut und drückte sich gelegentlich in der Nähe des Gebäudes rum.

Mich interessierte das wenig. Ich amüsierte mich auf meine Weise prächtig. Zum Spielen benötigte ich nicht viel. Hinter dem Haus, gleich neben dem Plumpsklo, liefen ein paar Hühner herum. Eins war braun und offensichtlich auch noch recht jung. Es wurde mein Lieblingshuhn. Ich ging regelmäßig mit dem Huhn spazieren. Meistens trug ich das zappelnde Huhn nach dem Abendessen auf dem Arm einmal ums Haus. Ich bin mit dem Huhn in knöcheltiefem Mist herumgetollt und das Tier hat meine Wäsche vom Bauch abwärts komplett vollgeschissen. Ich fand es toll. Meine Mutter nicht.Die meiste Zeit des Tages verbrachten wir am Strand. Ich spielte im Sand, mein älterer Bruder tollte mit anderen pubertierenden Angehörigen vom Stamm des Jungvolks umher, mein Vater las Zeitungen, meine Mutter sonnte sich. Ab und zu ging sie schwimmen. Sie schwamm gern und auch gern länger und weiter. Sobald sie ins Wasser ging, stand auch mein Vater auf, stellte sich maximal knöcheltief ins Wasser und blickte ihr hinterher. Etwa 50 Meter lief meine Mutter hinaus, dann verlor sie den Kontakt zum Boden und begann im tieferen Gewässer zu schwimmen. Das war der Moment, in dem mein Vater unruhig und nervös wurde. Er wagte sich bis ins knietiefe Wasser vor und rief: “Gitta, nich so weit raus!”. Er war immer besorgt, dass seiner schönen Frau etwas zustieß.
Ich baute derweil Kletterburgen im Strandsand, ging so tief in die Ostsee, bis mir im Sitzen das Wasser bis zur Brust ging. Sobald ich wieder herauskam, wurde mir mit Sonnencreme das Gesicht vollgeschmiert und ich musste mir einen Bademantel überziehen. Bei 25 Grad Lufttemperatur. Meine Mutter achtete sehr darauf, mich vor plötzlich zuschnappenden Hautkrebs zu bewahren.
„Hast du nicht auch Angst vor dem Hautkrebs“ fragte ich meine Mutter?
„Ja“, antwortete sie.
„Und trotzdem schwimmst du so weit raus?“.
Ich hatte jedenfalls große Angst vor dem Tier und traute mich deshalb nicht ins tiefere Wasser. Wer weiß, wo es lauerte.
Eines Nachmittags hatte ich mich von der anstrengenden Arbeit an einer besonders knifflig konstruierten Kleckerburg mit Wassergraben und großzügigen Turmbauten schwer ermüdet zum Liegestuhl zurückgeschleppt. Ich wickelte mich in den Bademantel und schlief ein. Irgendwie musste der Bademantel verrutscht sein. Als ich aufwachte, stand er in der Mitte völlig offen. Meine Mutter hatte das wohl bei ihrer eigenen Sonnenbaderei übersehen. Abends zeigte sich ein knallroter Streifen vom Hals bis an den Rand der Badehose.
„Sei froh, dass wir nicht an einem FKK-Strand gelegen haben,“ sagte mein Bruder. Meine Mutter gluckste verhalten. Mein Vater sprach einmal scharf den Vornamen meines Bruders aus. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Damals musste ich wohl meine Neigung zu seltsamen Sonnenbränden begründet haben. Eine Neigung, der ich Laufe der Jahre ein paar außergewöhnlich alberne Exemplare hinzugefügt habe.
Heute kann ich in Neuendorf das Haus mit dem braunen Huhn und dem Kuhstall des Olympiasiegers nicht mehr ausmachen. Alles ist sauber verputzt, denkmalschutzgerecht modernisiert und auf rustikale Weise gleichförmig.
Wir betrachten den Ort nur flüchtig, setzten uns auf unsere Fahrräder und begeben uns auf dem roten Backsteinweg Richtung Vitte.
Die Backsteinstraße verläuft eben und ist mäßig frequentiert. Ein paar Radfahrer kommen uns entgegen, andere überholen. Fast alle fahren elektrisch. Die meisten haben sportliche Trikots über ihre Oberkörper gespannt und sind jenseits der Fünfzig. Manche sehen entspannt aus und genießen die Fahrt. Andere haben angestrengte Minen über ihre bestausgestatteten, vollgefederten E-Mountainbikes aufgesetzt und halten die Spazierfahrt bei elektrisch unterstützten 18 km/h für Sport. Es erstaunt mich immer, wie vielfältig das Erscheinungsbild von Radfahrern sein kann. Von der entspannten Sonnenhutträgerin, über den Yogaguru in Flipflops, bis hin zum Träger der kompletten Tour de France Ausstattung auf dem E-Bike, kann ich während der sieben Kilometer nach Vitte fast alles entdecken.
Rechts des Weges öffnet sich die Landschaft zum Wasser hin. Auf der Heide weidet eine Schafherde mit Hund und Schäfer. Von links beschatten Kiefern den Weg. Wir halten am Hotel Heiderose, binden unsere Fahrräder an und stapfen ein wenig durch die Dünenheide.
Dieses trockene Sandgebiet bewegte sich einst als recht mobile Wanderdüne vorwärts, bis sie durch fortschreitenden Vegetationsbefall schließlich sesshaft wurde. Allmählich hätte sich hier auch ein üppiger Küstenwald bilden können, aber der Naturschutz, der sich normalerweise darum kümmert, dass sich niemand in die sich entwickelnde Natur einmischt, mischt hier massiv dabei mit, die Landschaft auf einem bestimmten Niveau karg zu halten. Hecken und Sträucher werden regelmäßig entfernt und das selbstständige Ansiedeln von Bäumen innerhalb der Dünenlandschaft wird strikt unterbunden. So bleibt die karge Landschaft karg genug, um Nagetieren, Insekten und Reptilien ein ebenso freudvolles Zuhause zu gewährleisten, wie allen Arten von Wandervögeln. Fliegenden ebenso, wie denen in Funktionswäsche. Die Dünenheide und das bei Kloster aufragende Hochland des Dornbuschs sind überaus beliebte Objekte malender Künstler. An verschiedenen strategisch gut gelegenen Punkten der Insel lauern sie mit ihren Staffeleien, um der Landschaft und der Lichtstimmung mit Öl und Aquarell nachzustellen. Nicht selten entdeckt man an einem Baum lehnend, jemanden der sein Grauhaar aus der Optik pustet und seinen Pinsel oder Bleistift schüttelt.
Die Künstler haben sich seit über hundert Jahren immer wieder auf der Insel niedergelassen, um sich entweder ungestört ihrer Kreativität hinzugeben oder sich vom stressigen Künstleralltag in der modernen Gesellschaft zu erholen. Asta Nielsen, berühmt für ihr Mienenspiel in zahllosen Stummfilmen zog sich gern in ihr Haus in Vitte zurück. Gret Palucca, die Tänzerin und Tanzpädagogin verbrachte viele Sommer auf der Insel und wurde schließlich auf der Insel beigesetzt. Gerhard Hauptmann begriff auf Hiddensee, das er ein besserer Schriftsteller war und unterließ fortan seine Versuche als Bildhauer und Zeichner. 17 Jahre lebte er auf der Insel und wurde schließlich ebenfalls auf Hiddensee beigesetzt.
Joachim Ringelnatz verbrachte ebenfalls manchen lustigen Sommer. Gern im Haus von Asta Nielsen. Er suchte regelmäßig vergeblich nach Bernsteinen. Dafür fand größere Mengen Schnaps. In Kloster lud er sich häufig in die Wirtschaft “Dornbusch” ein. Angeblich servierte man ihm dort den Klaren in Weingläsern, weil er Schnapsgläser als Frechheit und als pure Zeitverschwendung empfand. In Worte fasste er die Insel Hiddensee kurz und wie ich finde treffend:
“Kühe weiden bis zum Rand
Großer Tümpel, wo im Röhricht
Kiebitz ostert… - Nackt im Sande
Purzeln Menschen selig töricht
Und des Leuchtturms Strahlen segnen
Eine freundliche Gesundheit. …”

Das “Karussel”, das Asta Nielsen Haus in Vitte, in dem sich Künstler und Prominenz trafen und das heute als Museum dient, sehen wir rechts der Straße. Aber Vitte wird heute Abend der Ausgangspunkt der Rückreise werden. Wie halten uns also nicht lange auf und durchqueren den Hauptort der Insel. Bis Kloster sind es jetzt noch gute zwei Kilometer auf dem roten Backsteinweg. Der Dornbusch, das Hochplateau der Insel, mit seinen fast 70 Metern über Null, ragt bereits sichtbar vor uns auf. Nach etwas mehr als einem Kilometer sehe ich einen schwarzen Rucksack am Wegesrand liegen. Der ist sicher verloren gegangen, was sich schnell bestätigt. Am Ortseingang von Kloster guckt ein Mann ratlos vom Kremser. Er hatte doch den Rucksack neben sich abgelegt, sagt er. Nur gibt es kein neben sich, da er am Ende der Pferdekutsche sitzt. Ich reiche ihm das gefundene Reisegepäck. Mit einem flüchtigen Danke nimmt er sein Hab und Gut von mir entgegen und torkelt dann mit den restlichen Männern seines Ausflugs zum Strand. Wir stellen derweil unsere Fahrräder ab und erkunden den Ort Kloster zu Fuß.
Gegründet wurde das kleine Dorf einst als Enklave des Zisterzienserordens. Aber kaum brach die Reformation aus, verließen die Mönche die Insel und das Gelände wurde zu landesfürstlichem Besitz. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Tourismus. Erst kamen Privatleute und Künstler, später der DDR-offizielle Feriendienst des FDGB. Nach der Wende kam der Tourismus als gewinnorientierte Wirtschaftsidee mit kulturellem und stärker werdenden ökologischem Anspruch zurück. Die Hauptstraße ist ein Sandweg, der kräftig von Füßen in Strandsandalen, E-Bikes mit dicken Reifen und Pferdefuhrwerken malträtiert wird. Rechts und links des Weges finden sich Boutiquen, in denen der Besucher Bernsteinplunder, Postkarten und Designerwäsche im maritimen Schick für Menschen unter fünf Jahren erwerben können. Es gibt auch ein paar Restaurants mit Fisch, aber weit und breit keine Imbissbude mit einfachem Fischbrötchen. Dabei wäre es das, was ich jetzt am ehesten benötigen würde.
Vorbei am Gerhart Hauptmann Museum erreichen wir nach einer Weile die Kirche des Ortes. Die ist mir gut bekannt. 1985 verbrachte ich hier zehn traumhafte Tage mit anderen jungen Erwachsenen im örtlichen Pfarrhaus. Sonntags gehörte es zur Aufgabe, vor dem Gottesdienst die Kirchenglocken zum Klingen zu bringen. Die nicht besonders großen Glocken hängen im niedrigen Dachgestühl der Kirche. Zwei Seile baumelten herab. Trotzdem die Glocken etwas unterdimensioniert wirkten, bedurfte es doch einer gewissen Anstrengung, sie in Schwung zu bringen. Und sie waren schwer genug, um mich, wenn ich nicht rechtzeitig losließ, zwei Meter über den Boden zu heben, weit genug um den Luftzug des Glockenschlegels über dem Kopf zu spüren. Es hat großen Spaß gemacht, eine der nördlichsten Kirchenglocke der DDR zum Läuten zu bringen.
Ich schaue im Vorraum der Kirche ins Dachgestühl. Die Seile hängen in greifbarer Höhe und ich muss mich anstrengen der Versuchung zu widerstehen.
Die Kirche ist hell und freundlich ausgemalt. Keine niederdrückende Düsternis, wie man sie häufig in großen Kirchen findet. Altar, Besucherbänke, Wände, alles leuchtet in strahlendem Weiß. Die Decke ist hellblau bemalt und mit goldenen Sternen bestückt. Ein spärlich bekleideter Engel baumelt von der Deckenmitte. Eine kleine Orgel, die erst 1943 gebaut wurde, dominiert die entgegengesetzte Wand der Kirche. Das Gebäude ist der letzte Rest, der an die Geschichte des Zisterzienserordens erinnert, welcher hier einst das Sagen hatte. Wir verlassen das kleine Gotteshaus. Der Friedhof, der vor der Kirche in den Hügel eingebettet ist, beherbergt Einheimische ebenso, wie langjährige Gäste. Namen wie Schluck, Schlieker und Striesow sind häufig und weisen auf den Kreis der ansässigen Familien.
Auf einer Bank in der Nähe des Kirchhofs sitzt eine Frau mit weißen Haaren unter ihrem Sonnenhut und malt.
Das Pfarrhaus mit seinen Gästezimmern befindet sich auf der anderen Seite des Sandweges und sieht heute noch aus, wie vor knapp vierzig Jahren. Ein schmuckes Dorfhaus mit Reetdach. Wir schlendern zurück zum Hauptmann-Museum und wählen einen kleinen Weg hinauf zum Dornbusch.
Es geht erst leicht bergauf. Ein älterer Herr und seine Begleitung laufen langsam vor uns her, biegen ab in eins der hübschen Häuser, die am Hang stehen und sich hinter Rosenbüschen verstecken. Der Weg wird schmaler und auch das letzte Grundstück liegt schließlich hinter uns. Beidseitig des Sandweges ragen gelb blühende Ginsterhecken auf. Vor uns wartet der Wald auf dem Hexenberg. Wir tauchen ein in den schattigen Wald und stellen fest, dass wir bereits seit einiger Zeit allein wandern. Von all den Menschen, die in Kloster hin und her flanieren, wagt sich kaum einer bis hier hinauf. Der Weg durch den Wald ist schmal und scheint nicht oft bewandert zu werden. Es geht erst weiter aufwärts und wieder etwas abwärts und dann noch einmal hinauf, bis sich der Wald lichtet und wir uns auf einem Aussichtspunkt wiederfinden. Unter uns fällt die Steilküste auf eine beeindruckende Weise hinab. Nämlich steil. Vor uns öffnet sich die Weite der Ostsee, blau und klar. Darüber hebt sich ein Himmel, der sich in seiner Farbe kaum vom Meer unterscheidet. Wir verweilen einen Moment. Genießen den Augenblick. Außer Meeresrauschen und das Geräusch der Vögel, die aufgeregt durch den Wald schnattern, ist nichts zu hören.

Wir laufen weiter auf dem hohen Küstenweg entlang, überqueren den Dornbusch, bis wir an eine Weggabelung gelangen. Hier geht es entweder hinunter an den Strand oder hinauf zum Leuchtturm. Eine nahe Gastwirtschaft mit dem Namen “Zum Klausner” wird angezeigt. Ich habe inzwischen Durst und steuere die alte Holztreppe an. Sie ist recht wackelig und führt sehr steil hinauf. Oben verpuste ich erstmal und schaue auf das Ambiente, das sich mir erschließt. Links leuchtet der Leuchtturm durch die Blätter der alten Bäume. Der Turm steht auch nachher noch da. Von rechts erreichen mich die lieblichen Geräusche, die man von einem gut frequentierten Biergarten erwartet.
“Egal was es gibt, ich will es haben!”, sage ich und laufe zielgerichtet auf die Quelle zu, die meine Erschöpfung lindern soll. Es ist voll, aber an einigen Tischen sitzen nur zwei Personen. Wir finden Platz an einem überdachten Holztisch im hinteren Bereich des Biergartens, an dem uns ein betagtes Ehepaar duldet. Und sind erstmal froh im Schatten zu sitzen. Mehr als ein kaltes Getränk verlangen wir ja gar nicht. Doch offensichtlich ist das mit der Bestellung in einer gut gehenden Wirtschaft ein zeitaufwändiges Problem. Das ältere Paar an unserem Tisch sitzt wohl schon eine Weile hier. Der Mann winkt hektisch, wenn eine mit Gläsern und Tellern bepackte Kellnerin aus dem Gasthaus tritt. Irgendwann wird sie uns schon sehen, denke ich und beteilige mich nicht am aufgeregten Herumgehopse unseres Tischnachbarn.
Die beiden haben bereits die Karte studiert und eine klare Vorstellung davon, was sie bestellen wollen. Die Frau will Matjes und sinniert darüber, was Matjes sind. “Irgendwas mit der Geschlechtsreife des Hering hat das zu tun”, sagt sie mit süddeutschem Akzent. Ich weiß es auch nicht besser und ergoogle mir mein Wissen später. Ich dachte bisher, es wäre nur eine Frage der Zubereitung. Aber tatsächlich spielt wohl auch die Fangzeit eine Rolle und die armen Viecher werden aus dem Wasser gefischt, bevor sie erfahren können, was Sex ist.
In ihrem Dialekt versuchen uns die Tischnachbarn in ein Gespräch zu verwickeln. Höflich lassen wir uns darauf ein. Das Paar reist durch den ehemaligen Osten und fragt, ob man hier auch schon in der DDR hindurfte und ob es hier denn überhaupt schon Urlaubsmöglichkeiten gab. Das sind immer Momente, in denen ich hin und her gerissen bin. Einerseits möchte ich klar machen, dass wir auch im Osten eine gewisse Lebensqualität besaßen, ohne mich wie ein Befürworter des DDR-Regimes vor zu kommen. Andererseits reizt es mich immer wieder, mein Gegenüber etwas zu verarschen. “Wir hatten ja damals nichts”, denke ich leise, reiße mich dann aber zusammen und erzähle, dass ich hier auch während der DDR-Zeit mehrfach meinen Urlaub verbrachte und immer gut erholt wieder abgereist bin. Ich höre mir noch ein paar Sätze der beiden an, frage spontan nach ihrer Herkunft und rate ins Blaue. “Sie sind bestimmt aus Bayern!”.
Der Mann verzieht sein Gesicht. “Nein. Also Nein. Sind wir nicht.” Sie stammen aus Österreich erklärt er. Aus Kärnten. Falscher konnte ich kaum liegen. Sie versuchen trotzdem, nett zu bleiben.
Schließlich, nach mehrmaligen Winken und rufen der Österreicher kommt die Kellnerin zu uns. Wir bestellen jeder ein großes Bier, das auch zügig geliefert wird und genau die ungeheure Erfrischung darstellt, die wir jetzt brauchen. Die Nachbarn bekommen ihren vorpubertären Fisch. Da das Bier schnell alle ist und wir kein Weiteres wollen, weil ich nach zwei Bier immer etwas träge werde, zahlen wir, sobald die resolute Bedienkraft wieder in der Nähe des Tisches vorbeizischt. Den Kärntenern wünschen wir eine schöne Zeit in Ostdeutschland. Dann ziehen wir weiter.
Der Leuchtturm am Dornbusch ist das markanteste Wahrzeichen der Insel Hiddensee. Bereits von Weitem ist er zu sehen, was ja auch sein Zweck ist. Bis zu 45 km weit leuchtet sein Feuer und es war damit den Schiffen auf See eine gute Orientierung. Heute navigiert man mit GPS und Radar und Leuchttürme sind meist nur noch nautische Nostalgie. Beliebt ist der Leuchtturm bei Besuchern, die gern in die Ferne gucken. Man kann ihn besteigen, was an diesem klaren Tag mit einer sehr guten Fernsicht zahlreiche Leute tun. Es sind also doch noch ein paar Menschen hier hinauf gewandert. Wir schießen nur das obligatorische Wir-vor-dem-Leuchtturm-Foto und gehen dann weiter den Pfad Richtung Kloster.
Es gibt hier einen direkten Weg ins Dorf hinunter und noch einen anderen Weg über den Raabenberg, entlang einer Wiese hinab zum Hotel Enddorn. Diesen Weg bin ich 1985 gegangen. Jung und unbedarft hatte ich vergessen, mich mit Sonnencreme einzuschmieren. Der Tag war warm. Ich hatte meine christliche Jugendgruppe am Mittag verlassen, um ein bisschen über den Norden der Insel zu streifen. Viel los war nicht und ich war weitgehend allein. An einer Hecke stolperte ich unvermittelt über das zweiköpfige Tier, mit den vier Beinen und vier Armen. Der untere Kopf (weiblich, mindestens 40) starrte mich erschrocken an und rollte mit den Augen. Der obere Kopf nahm mich nicht wahr und stöhnte gründlich. Meine jugendlich unverdorbene Seele erschrak sich und ich hastete eilig weiter. Nicht ohne noch einmal zurückzusehen und festzustellen, dass die beiden auf der Wiese unbeirrt weitermachten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sicher einen roten Kopf. Abends hatte ich dazu knallrote Beine und Arme.
Damals eilte ich in meiner Panik wieder hinauf und fand zu einem Punkt, den man Inselblick nennt. Den gibt es noch immer. Es ist ein kleines freies Plateau, das sich unvermittelt vor uns auftut und den Blick über die ganze Insel entlang ihrer Längsachse freigibt. Vor uns fällt der Dornbusch sanft ab, im hellen Gelb des blühenden Ginsters. Kloster versteckt sich weiter unten zwischen den Bäumen. Weiter die grünen Wiesen verfolgend, erreicht der Blick erst Vitte, mit seinem Hafen auf der Boddenseite und dem Strand an der Seeseite. Über Neuendorf schweift der Blick, zur südlich gelegenen Landzunge mit dem Naturschutzgebiet. Ganz weit hinten, am Horizont ragen die drei markanten Zipfelmützen der Stralsunder Kirchen auf. Links sieht man die westlichen Teile der Insel Rügen. Rechts erstreckt sich die Ostsee, soweit das Auge reicht.
Am Rande der Szenerie sitzt ein weißhaariger Maler mit Sonnenhut und füllt eifrig seinen Skizzenblock.
Wir laufen den Betonplattenweg hinab nach Kloster. Ein paar Schafe stehen auf einer Weide. Aus einem Froschtümpel heraus wird hingebungsvoll gequakt. Wir passieren ein heruntergekommenes Gehöft und sind dann bereits wieder auf der sandigen Hauptstraße. Pferdedroschken passieren den Weg, E-Bikes rollen surrend an den Fußgängern vorbei. Irgendwo ningelt ein unzufriedenes Kind. Ich bin auch fast am Ningeln, denn ich will ein Fischbrötchen. Ich will kein Matrosenhemd! Ich will kein Bernsteinamulett! Ich will auch keine Postkarte von der Insel! Ich will ein Fischbrötchen. Gibt es aber nirgendwo. Den ersten Hunger muss etwas Gebäck aus der Inselbäckerei stillen. Wir sitzen auf einer Holzbank in der Nähe des Gerhard-Hauptmann-Museums, kauen auf einem trockenen Stück Kuchen herum und beobachten die vorbeikommenden Leute. Der größte Teil der Besucher ist im höheren Alter. Ein junger Mann mit einem aufgemotzten Fettreifenbike und einem unanständig hochgetunten E-Motor heizt vorbei. Die nächste Pferdekutsche klappert durch den Sand. Eine Frau mit Rollator crosst durch das wellige Gelände. Der junge Mann mit dem aufgemotzten E-Bike heizt jetzt wieder in die andere Richtung. Hinten auf dem Kindersitz hockt strahlend ein Kleinkind mit Helm.
Wir laufen weiter und werfen einen Blick auf den Strand. In Kloster wird das Badevergnügen durch eine Mauer aus aufgehäuften Steinen geschmälert. Die anbrandende See soll damit daran gehindert werden, den Dornbusch zu unterhöhlen und das Land abzutragen. Wir bleiben also nicht lange sitzen. Nur für einen Moment, um aus einer mitgebrachten Flasche Rosé, die mittlerweile schon eine recht gute Umgebungstemperatur aufweist, zwei Zinnbecher zu füllen und auf den heutigen Hochzeitstag, die Zinnhochzeit anzustoßen. Dann ziehen wir weiter nach Vitte, um es an dem dortigen Strand nochmal mit Ostseekontakt zu versuchen.
Da wir die Backsteinstraße bereits kennen, die nach Vitte führt, suchen wir uns einen anderen Weg. Auf der Boddenseite gibt es noch einen Weg auf dem Damm entlang. Wir rollen also parallel zur Hauptverkehrsstraße von Kloster durch einen Nebenweg und landen am Hafen. Unmittelbar an der Stelle, an der es auf den Dammweg geht, führt ein schmaler Pfad zu einem am Pier festgemachten Fischkutter namens Willi. Und der verkauft Fischbrötchen. Endlich. Leider hat er im Moment nicht offen. Fünfzehn Minuten müsste ich noch warten. Die warte ich gern.
Um in den Verkaufsraum zu kommen, muss ich eine Treppe ins Bootsinnere heruntersteigen. Es ist eng und ich stoße mir fast den Kopf, was für einen Mann von 1,69 cm Höhe im Allgemeinen schwierig ist. Die Brötchen - belegt mit Bismarckheringen - sind ziemlich gut und die kalte Cola ebenfalls ein zischender Genuss. Meine Herzdame ist mit dem Radler etwas überfordert und als ich es koste, weiß ich auch warum.
Nachdem wir heute bereits über Matjesherings informiert wurden, überlegen wir, wie der Bismarckhering wohl zu seinem Namen gekommen ist. Der ehemalige Reichskanzler mochte den sauer eingelegten Heringslappen. Er war relativ gut haltbar - der Fisch - und Bismarck lobte ihn in den höchsten Tönen, setzte ihn sogar auf einen höheren geschmacklichen Thron, als seinen geliebten Kaviar. Letztlich ist der Name sicher auch aus Gründen des Marketing so benannt. Zu der Zeit, als Bismarck in Deutschland des Kaisers erster Influencer war, hatte man ja alles Mögliche nach ihm benannt. Türme. Schiffe und eben auch Fische. Jeder weiß, was ein Bismarckhering ist. Sauer eingelegter Heringslappen klingt dagegen irgendwie sperrig. In der DDR sprach man, weil der alte Bismarck ja im Sozialismus zu den weniger gefeierten Persönlichkeiten zählte, von Delikatesshering. Und es ist sicher auch nur eine Frage der Zeit, wann man bei der derzeitigen Buhmannsuche, auch dem sauren Bismarckhering seinen stolzen Namen entzieht.
Der Strand in Vitte, dem wir uns am späteren Nachmittag nähern, besitzt die fabelhafte Qualität, die wir von einem Ostseestrand erwarten. Es handelt sich um einen langen weißen Sandstreifen hinter einer Düne mit dem schönsten weißen weichen Sand, den ich je kennen lernen durfte. Lediglich die Proraer Bucht bei Binz kann das aus meiner Sicht noch überbieten.
Ich kenne nicht die weißen Strände der Karibik, bin nie in Thailand ins Meer gehopst und habe auch nicht auf São Tomé Schildkröten den Weg in den Ozean gewiesen. Da mag das alles auch ziemlich perfekt sein. Aber für mich hat der Ostseesand eine besondere Qualität, die ich mir auch nicht ausreden lassen werde. Sicher spielt da auch etwas Nostalgie eine Rolle. Aber auch Sauberkeit. Wir breiten eine Decke in einer Sandwelle aus, legen noch einmal eine Schicht Sonnencreme auf, behalten aber die Sachen, die wir seit heute Morgen tragen an. Eine alte Dame zwanzig Meter entfernt von uns, frönt der Freikörperkultur. So selbstverständlich, wie sie ihre braun verschrumpelte Haut präsentiert, tut sie das wohl auch schon ihr Leben lang. Die Frau ist vermutlich um die 75 Jahre alt, sieht aber älter aus. Sie steht in der Sonne und präsentiert ihren faltigen, altersgerechten Leib der Sonne und allen anderen Strandbesuchern. Dann geht sie zum Rettungsschwimmer, der am Rand der Düne seinen Beobachtungsposten bezogen hat, und will ihn was irgendwas fragen. Er sitzt im Liegestuhl. Sein Kopf befindet sich in Schritthöhe der nackten Frau. Sie fragt, was sie fragen will. Er schaut zu ihr hoch und antwortet. Da sie wohl auch schon einigermaßen schwerhörig ist, beugt sie sich zu ihm herunter. Ihre flachen Brüste baumeln wie Topflappen vor seinen Augen. Dann geht sie wieder und ich sehe den Strandretter aufatmen.
Nochmal fällt mir Ringelnatz ein:
“…- Nackt im Sande
Purzeln Menschen selig töricht…”
Deutschland hat eine lange FFK-Kultur und auch die Saunakultur ist seit vielen Jahren stark verbreitet. Eigentlich hat man in Deutschland in einigen Bereichen wenig Bedenken, sich nackt zu präsentieren. Das ist angesichts der gegenwärtig medial schamhaft dauerbeleidigten Gesellschaft, seltsam. Ich behalte meine Wäsche jedenfalls an und wechsle auch nicht in die Badehose. Der kurze barfuß kontrollierte Temperaturcheck der Ostsee überredet mich dazu, auf ein Bad zu verzichten.
Und dann müssen wir auch schon langsam zum Hafen. 17:30 Uhr fährt die letzte Fähre für die Tagestouristen. Danach sind die Langzeitbesucher und Insulaner wieder unter sich. Ich frage mich, was passiert, wenn man die letzte Fähre verpasst. Da gibt es wohl nur noch das private Wassertaxi. Am Hafen stehen schon die ersten Rückfahrer. Wieder zähle ich mehr E-Bikes, als stromlose Fahrräder. Die Fähre erscheint pünktlich. Es ist die einzige Fähre, die auch Autos transportiert. Lieferwagen, Servicewagen, Landmaschinen können mit der Fähre übergesetzt werden. Das Schiff, das den profanen Namen „Vitte“ trägt, transportiert heute aber vor allem tagestouristische Fahrradfahrer zurück nach Schaprode. Es ist eine einfache Eisenfähre. Vorn ein Tor, hinten ein Tor. Eine Brücke überspannt die Mitte des Schiffes, von der aus Kapitän und der Steuermann die Fähre über das Wasser bewegt. In den Stahlträgern unterhalb der Brücke nisten Schwalben, die die täglichen Fahrten zwischen Rügen und Hiddensee nutzen, um unbehelligt ihren Nachwuchs groß zu ziehen. Immer wieder starten sie vom fahrenden Schiff aus aufs Wasser, fischen Insekten und bringen sie an Bord. Neben ihrer normalen Fluggeschwindigkeit müssen sie auch noch die Fahrgeschwindigkeit des Schiffes ausgleichen. Aber das gelingt den kleinen Flugspezialisten mühelos.
Damit endet ein Tag auf Hiddensee, angefüllt mit schönen Erinnerungen und neuen Erlebnissen. Ich betrachte verliebt meine Herzdame, die an der Reling lehnt, sich vom kleiner werdenden Dornbusch verabschiedet und mit ihrem Blick in die nur leicht bewegte See träumt. Und so fällt mir am Ende des Tages noch das kurze Gedicht von Mascha Kaleko ein, die 1930 auf Hiddensee einen wunderschönen Sommer verlebte:
“Man braucht nur eine Insel,
Allein im Weiten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
Den aber braucht man sehr.”