Es dunkelt.
Die klebrige Wärme des Nachmittags haftet noch immer an der Fassade der Alfama und auch die Straßen dünsten den Geruch von erhitztem Staub, Stein und Hunderten von Sohlen ab. Doch endlich weht auch ein leichter Wind etwas erfrischende Linderung vom Tejo herauf auf die Hügel und durch die engen Gassen unterhalb des Castellos.
Die Häuser, die hier die steilen Straßen säumen, haben etwas von der Leichtigkeit von Vogelkästen. Bei manchen Häusern bekomme ich den Eindruck, als habe der Baumeister lediglich einen gigantischen Haken in den Fels gehämmert und das fertige Haus daran aufgehängt. Rückfronten gibt es nicht und einige Häuser kann man am unteren Ende der Straße betreten und über das Dach am oberen Ende der Straße, die sich dann über Umwege genug den Berg hinaufgemüht hat, wieder verlassen.
Auf einer Dachterrasse, die man vom oberen Ende einer Straße betreten kann, laufen die lautstarken Vorbereitungen auf den morgigen St. Antoniustag, dem Tag des Schutzheiligen Lissabons. Der Lärm wird von den großen Tonboxen, neben einer Bühne abgesondert. Es handelt sich bei dem Lärm um Amalia Rodriguez, der längst verstorbenen portugiesischen Göttin des gesungenen Weltschmerzes. Eigentlich ist Frau Rodriguez ein Kunstgenuss. Leider hatte jemand die brillante Idee gehabt, den traurigen Fado durch rhythmisches Orgelgesäusel zu einem tanzbaren Schunkelmätzchen zu verunstalten, so dass einem beim bloßen Zuhören die Nackenhaare verschmoren.
Ich versuche, es zu ignorieren und setze mich an ein kleines Tischchen, das zu einer Bar gehört, die wenige Meter von der Terrasse entfernt an einem Hang steht.
Aus der Bar dringt die angenehme Stimme der portugiesischen Jazzinterpretin Maria João. Sie kommt aber gegen den Terrassenkrach nicht an. Eine junge Kellnerin bringt einen Vino Verde und verdreht die Augen in Richtung Terrasse. Dann verschwindet sie wieder in der musikalischen Abgeschiedenheit ihrer Bar.
Als die arme Amalia das zweite Mal zum Test der größtmöglichen Lautstärke durch die Boxen geknautscht wird und der leichte Wind keinerlei Anstrengungen unternimmt, die Geräusche wegzublasen, greife ich zu meinem Vino Verde und ziehe mich ebenfalls in die Bar zurück.
Die Bar besteht aus einem kleinen Schlauch mit drei Tischen und vier Barhockern. An der Tür stapeln sich Kisten von Büchsenbier, ebenfalls als Vorbereitung für das morgige Fest.
Am Ende des Schlauches ermöglicht eine offene Tür einen Einblick in eine Küche. Auf dem Regal an der Wand stapeln sich Plastebüchsen mit eingetuppertem Salat. Vor dem Salatfriedhof turnt ein Koch mit einer gestrickten Mütze herum, die sich über seine Rasterzöpfe bauscht. Er kocht und belegt Sandwiches und ich ahne, dass es noch einen zweiten Gastraum geben muss, der etwas geräumiger ist.
Die Musik von Maria João ist äußerst wohltuend nach dem Lärm und die junge Kellnerin swingt ein bisschen mit.
Hinter dem Tresen versucht sich ein Barkeeper an seinem ersten Mixgetränk. Er nimmt ein Shaker und kippt etwas Blaues hinein. Die Kellnerin tippt auf eine Flasche mit etwas Durchsichtigem und geht in die Küche. Er gießt davon reichlich hinzu.
Eine farbige Kellnerin erscheint und redet auf ihn ein, dabei ärgerlich auf die Flasche mit dem hellen Getränk weisend.
Der Barkeeper diskutiert aufgeregt und weist in die Küche.
Draußen vor der Dachterrasse steht ein zotteliger Hund und jault. Langsam bewegt er sich auf die Bar zu.
Der Barkeeper nimmt auf Anraten der schwarzen Kellnerin den Orangensaft zur Hand und füllt ihn in den Mixbecher.
Über meinem Tisch öffnet sich die Tür eines elektrischen Schaltschrankes. Der Barkeeper kommt hinter dem Tresen hervor, schließt den Schrank und schuhuht den Hund an, der neugierig vor der Tür steht.
Wer jetzt nicht weiß, wie man richtig schuhuht, muss sich mal den Film „Jenseits von Afrika“ anschauen. Meryl Streep leitet dort den Grundkurs des Schuhuens, um unliebsame Belästigung zu vertreiben. Damit bringt sie sogar Robert Redford noch etwas bei, der eine Stunde später mit dem Ausruf „Schuuh!!“ eine Herde Büffel zu verscheuchen versucht.
Der Hund läuft schnell ein paar Meter weg, hält es aber nahe der Dachterrasse auch nicht aus.
Erfreut über seinen angsteinflößenden Erfolg, geht der Kellner wieder sein Mixgetränk überdenken.
Um etwas Mitleid zu erheischen, versucht der Hund die Hinkenummer. Gekonnt zieht er ein Bein nach und erscheint wieder in der Tür.
Die Tür vom Schaltschrank öffnet sich erneut.
Der Barkeeper kommt hinter seinem Tresen hervor, schließt den Schrank und schuhut den Hund weg.
So richtig Erfolg hat er aber nicht, denn kaum, dass er wieder hinter dem Tresen steht, hinkt Gaspode wieder heran, bleibt eine Minute in der Tür liegen. Als ihm die Terrassenmusik auch dort noch zu heftig ist, tut er so, als müsse er sich kratzen. Er dreht sich einmal und legt sich wieder hin. Dabei hat er bereits einen Meter gewonnen und liegt fast in der Bar. Zweimal spielt er diesen Trick noch durch, bevor er es sich neben meinen Füßen bequem macht.
Der Barkeeper versucht es jetzt mit Mixen.
Der Hund schaut ihn mit einem Blick an, der sagen will, unsinnige Bewegungen würden nur schaden. Finster fixiert ihn der Barkeeper.
Genug gemixt. Er gießt ein Glas voll und stellt es zur Begutachtung auf den Tresen.
Mir fällt kein Name für die Farbe des Getränkes ein, aber ich habe auch nicht Kunst studiert.
Er betrachtet es, wie ein Angler, der seinen ersten Fisch gefangen hat.
Die farbige Kellnerin gesellt sich hinzu und betrachtet angewidert das Ergebnis. Sie sagt etwas, das den Barkeeper zusammenfahren lässt.
Die weiße Kellnerin, die uns bedient, nimmt schweigend das Glas zur Hand, nippt daran und eilt zurück in die Küche, wo sie kurze und spitze Schreie ausstößt.
Dann kommt der Koch, blickt das Glas an und geht laut lachend wieder ab.
Die Tür des Schaltschrankes öffnet sich.
Wütend gießt der Barkeeper das Getränk in den Ausguss und macht sich auf den Weg zum Schaltschrank.
Der Dachterrassenterror ist endlich beendet und der Hund erhebt sich gähnend, trottet, ohne zu hinken, gemächlich zum Ausgang, noch bevor der Barkeeper etwas sagt.
Die Kellnerinnen setzen sich ihren Rucksack auf und verabschieden sich. Maria João hört auch auf mit Singen. Ich bezahle beim Barkeeper. Ein besseres Stück bekomme ich in dieser Stadt heute Nacht nicht geboten. So schlendere ich gemächlich durch die vom Abendwind erfrischten Gassen der Alfama, über die sich nun wieder angenehme Ruhe legt.
Manchmal erscheinen verstorbene Seelen in den Körpern von Tieren auf Erden, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn Amalia Rodriguez im Körper des streunenden Hundes unterwegs war, dann ahne ich, warum er immer wieder in die Bar wollte.
©Karsten Rube-Lissabon 2000