Unter Einhornfrauen im Bigoudenland
Weit im Westen steckt Frankreich eine ausgefranste Nase in den salzigen Atlantik. Diese Nase heißt Bretagne, hebt sich vom restlichen Frankreich ab, ist schroff und maritim, Provinz und immer etwas bockig. Während in den französischen Mittelmeerstädten die Segelmastwälder der Sportseefahrt dunkle Striche an den blauen Himmel malen, findet der Besucher zwischen der stürmischen und klippenreichen Atlantikküste manch verträumten und fast vergessenen Fischerhafen. Eine Region für raue Meeresmenschen. Hier kreuzen nur die leidenschaftlichsten Segler. Die reichen Urlaubsyachten zahlungskräftiger Sonnenanbeter verirren sich seltener in das Gezeitengewässer.
Im Innern der Bretagne wird man sich der gepflegten Traditionen ihrer Bewohner bewusst. Nicht nur das sie ihre eigene Sprache benutzen und ihrer Zugehörigkeit zum Celtic Circle betonen, auch im Stolz mit dem sie ihre Trachten zu tragen pflegen, ihre Musik und ihre Tänze zelebrieren, zeigt sich, dass der Bretone anders ist, als der Franzose aus dem Rest der Republik.
Ganz im Südwesten der Bretagne liegt das Bigoudenland. Die Bigouden grenzen sich mit ihren Eigenheiten sogar gegenüber den als dickköpfig geltenden Bretonen ab, was sich besonders im Umgang mit ihren Traditionen zeigt.
Viele Häuser wirken hier wie aus einer vergangenen Zeit, haben sich komplett dem Modernisierungsboom entzogen und wirken heute noch, als wäre die Jahrhundertwende erst fünf Jahre her, allerdings die zum 20. Jahrhundert. Einige Häuser stehen schief am Straßenrand und geben mit Holzbalken an, die bereits vor drei Jahrhunderten aus einem Baum gesägt wurden. Auf den Dächern findet sich jedoch genug Platz für die obligatorische Satellitenschüssel.
Pont l’Abbé ist nicht riesig. Eher überschaubar. Eine alte Brücke, die der Abt von Loctudy über den schmalen Meeresarm schlagen lies, gibt dem Ort seinen Namen. Ein schmaler Fließ lullert in einen Etang am Speicher und vermengt sich da mit dem Meerwasser, sofern es gerade da ist. Bei Ebbe bleibt nur ein dürftiger Priel übrig, breit genug um ein Ruderboot zum Rand der Mündung zu schaukeln. Doch liegen bei Ebbe die Boote, Fischerkähne und Segelschiffe, die hier festmachen nur faul auf dem Schlick, die kleineren Boote hängen an ihrer Vertäuung von der bemoosten Kaimauer herunter.
Um den Etang herum, diesem salzigen Tümpel, in dem die Möwen und Enten im Schlick herumpatschen, sind die wichtigen Gebäude des Ortes angesiedelt. Das Museum des Bigoudenlandes etwa, das sich mit dem Stadtrat ein altes Adelsschlösschen teilt. Oder das “Triskel”, hier auch Centre Cultural genannt. Ein hässlicher Kulturzweckbau, der der hiesigen Kultur Raum bieten soll. Der hintere Teil des Hauses zeigt sein abgebranntes Skelett. Die Kultur sucht sich anderswo Platz. In alten Kirchenruinen wird Jazz, Folk, Klassik vorgetragen. Ohnehin ein wesentlich stilvolleres Ambiente als eine Mehrzweckhalle.
Um in das Zentrum des Ortes zu gelangen, laufe ich eine verkehrsreiche Straße hinunter. Der Asphalt wirk klebrig, ist es auch. Bürgersteige sehen die Franzosen als unsinniges Übel an. Er ist gerade mal breit genug, damit die Außenspiegel der Autos nicht an den vorstehenden Türklinken der Wohnhäuser hängen bleiben oder die Blumentöpfe von den Fensterbänken wischen. Der Fußgänger balanciert gefährdet zwischen den Begrenzungen, bemüht nicht in den Rinnstein zu fallen.
Rechter Hand schlawiniert ein Mann mit Hut durch eine Glastür. Sie führt in eine PMU-Bar. Pari Mutuel Urbain, kurz PMU ist der führende Anbieter von Pferdewetten in Frankreich und das bereits seit 1930. Im Ausland bekannt wurde die Firmenfarbe dadurch, dass PMU das grüne Trikot der Tour de France sponsert. Morgens um acht treffen die ersten Leute ein, um bei Kaffee und Zeitung die Ergebnisse der nationalen Fussballligisten zu analysieren, das abendliche Bouleturnier zu beraten und natürlich über Pferd zu fachsimpeln.
Kaum fünfzig Meter weiter komme ich an einer geöffneten Tür vorbei. Eine gebrechliche Frau sitzt in einem gemütlichen Sessel am hellsten Ort ihrer Küche – der geöffneten Tür. Aus dem Raum schallt laut der Fernseher. Ihre Türschwelle begrenzt eine unsichtbare Mauer aus olfaktorischer Kleinkunst – der Geruch unkontrolliert verlorenem Urins mischt sich mit Kohlsuppendunst und Blähungen. Ich stehe an der Schwelle und schaue neugierig, wenn auch zurückweichend. Sie bemerkt mich und lächelt fröhlich aus ihrem recht sauber wirkenden Morgenrock heraus. Eine bescheidene alte Frau, die ihr Alter in der ihr vertrauten Umgebung ihres Hauses verbringt. Vermutlich kommt täglich jemand vorbei, der ihr die Füße wickelt, etwas sauber macht, die wichtigsten Pflegearbeiten vollführt. Dass sie mit vermuteten 90 Jahren nicht mehr den Preis für die perfekteste Hygiene bekommt, ist völlig menschlich. Immerhin wurde sie nicht, nur weil sie nicht mehr gut riecht in ein überteuertes Heim gesperrt, wo sie wie viele andere für viel Geld billig vor sich hinfaulen, während die Besitzer dieser meist privaten Heime auf die angesagten Inseln dieser Welt jetten, um das sonnige Leben der Universalmobilität zu feiern. Ich winke ihr zu, was in ihr Gesicht tiefe Cañons aus Lachfalten schneidet. Dann verlangt der Fernseher wieder ihre volle Aufmerksamkeit.
Im lichtarmen Haus hängt das Bild einer Bigoudenfrau. Sie trägt Spitzenkragen und die traditionelle Kopfbedeckung, eine gestärkte Spitzenhaube, die wie eine Rolle Küchenkrepp auf dem Kopf steht. Kaum einer weiß, warum sie diese nicht gerade praktische Form aufweist. Gerüchte behaupten, dass die Trägerinnen dieser Hauben verzauberte Einhornfrauen sind, die mit der Haube ihr Horn schützen. Andere glauben, dass an den schroffen und gefährlichen Küsten ein paar mobile Leuchttürme nicht schaden könnten und versuchen die Trägerinnen davon zu überzeugen, Licht auf den Hauben anzubringen. Interessant ist allerdings auch die Behauptung, dass nach einer kriegerischen Meinungsverschiedenheit mit Ludwig dem XIV, der alle Kirchtürme in der Region schleifen ließ, die Frauen zum Trotz diese Ersatztürme auf ihre Köpfe stellten. “Ätsch, Ludi. Wir tragen die Türme selber. Schleif uns doch, wenn du kannst.”
Einer der markantesten Türme in Pont l’Abbé, genauso rund, wie die Spitzenhauben, nur viel viel größer, ist der Wasserturm der Stadt. In hellblauen Farben steht er am Ortsrand. Bei klarem sonnigen Sommerwetter kann man ihn fast übersehen, denn dann decken sich seine Farben mit denen des Himmels. Während der restlichen Zeit des Jahres jedoch ist er gut zu erkennen und das auch schon von weitem. Für den Wanderer, der die Landschaft rund um den Ort erkundet, wirkt er wie ein Leuchtturm für Landratten.
Die Menschen, denen ich auf der Straße begegne sind freundlich und grußaktiv. Ich brauche nur durch die Tür zu treten und werde anbonjourt. Ob auf dem Weg zum Bäcker, beim Wandern oder tanken. Wildfremde Leute lächeln mich auf der Straße an und bonjouren. Vermutlich handelt es sich hierbei auch um Touristen, denn wenn ich höflich einen offensichtlich Einheimischen grüße murrt er nur müde.
Im Ort ist Markttag und Markttage nehmen die Franzosen sehr sehr ernst. Der sonst gut zugeparkte zentrale Platz vor Les Halles ist völlig mit Verkaufsbuden zugepflastert. Les Halles, ein typischer Markthallenbau mit einer Eingangsfront, die eher an einem Bahnhof angemessen wirkt, bietet sonst die ganzen frischen Waren. Sie dominiert an gewöhnlichen Tagen mit ihrer Architektur den ganzen Platz. Heute versinkt sie im Gewühl und in der Fülle der Marktstände. Solange es kaufanfällige Touristen gibt, kann man alles anbieten, was ansatzweise Geld bringen könnte. Tücher in jamaikanischen Nationalfarben, mit Bob Marleys Gesicht als Wappen. Selbstgemalte Bilder mit den zweifelhaftesten Motiven, von naiver Malerei bis zu Fantasygemälden aus esoterisch angerührter Airbrushfarbe. Und natürlich die ganze Welt des maritimen Schnickschnacks: Steuerräder aus Tropenholz, Schiffsglocken aus Messing, Leuchttürme von der Größe einer ausgewachsenen Salami und Matrosenhemden fürs Neugeborene. Keltenschmuck darf auf bretonischen Märkten auch nicht fehlen. Alle Symbole, die in der keltischen Welt von Bedeutung sind, kann man sich hier in silbernem Glanz wahlweise um den Hals oder an die Ohren hängen, bzw. als Piercing in fast jedes Körperteil stecken. Ein breiter Mann mit Tätowierungen testet ein paar Ringe und schiebt sich eine Hand so voll, dass er einen silbernen Handschuh trägt. Besonders häufig tritt in der Bretagne der Triskel auf, ein keltisches Symbol bestehend aus einem Kreis in dem sich drei Kringel verheddern – auch gern als keltischer Kreisverkehr bezeichnet. Wem Schmuck zu teuer ist oder zuviel Symbolik besitzt, die er nicht repräsentieren will, der kann sich auch Aufkleber fürs Auto kaufen, mit denen er selbst in Magdeburg bekunden kann, Bretone zu sein.
Aus den Boxen jedes zweiten Marktstandes schallt regionale Musik. Schunkelverdächtige Seemannhits, regionale Tanzmusik, Wechselgesänge und Tri Yann, die keltischen Troubadoure mit dem Rockergehabe, die Rollenden Hinkelsteine der Bretagne.
Erstaunlicherweise befindet sich in jeder der vielen Marktgassen auch immer ein Stand, in dem anzüglich grinsende junge Männer BH’s in Übergrößen anbieten.
Ich lasse den Ramschmarkt hinter mir, schlendere durch eine Seitengassen, mit einem gut ausgerüsteten Instrumentenladen. Neben E-Gitarren, Geigen und Akkordeonen, kann man hier auch das sehr beliebte Krummhörnchen kaufen, auf dem die Bagads – die traditionellen Musikvereine zu allen Festlichkeiten vor Ort ordentlich Krach machen. Mich lockt jedoch der Krach von einem Platz auf den ich gelange, als ich durch ein Tor schreite. Dort schreien sich die Lebensmittelmarkthändler in die Gunst der Käufer. Frisches und Geräuchertes wir angepriesen. Fleisch und Wurst hängt von den Decken der mobilen Verkaufsstände, Obst und Gemüse türmt sich in Kisten, Käselaiber liegen neben jauchegrubengroßen Frischkäsewannen, frische Fische liegen in der Sonne auf kühlenden Eiswürfeln und träumen vom Meer. Enten schnattern mich aus einem Käfig heraus an. Die Händler singen ihre Jahrhunderte alten Lieder von Frischheit, Billigkeit, Leckerheit auf dem Place de la Republique. Weinhändler aus dem Süden Frankreichs versuchen die Einheimischen, die hier über keine eigenen Weinberge verfügen, mit ihren Produkten davon zu überzeugen, dass der hiesige Cidre, der Apfelwein der Region, nur eine notdürftige Lückenfüllung darstellt und mit Sicherheit keine Alternative.
Der Ort ist überlaufen am Markttag. Nur langsam kommt man in den Straßen und Gassen voran, doch Eile hat hier niemand. Nicht die Händler, nicht die Käufer und auch nicht die Möwen, die geduldig auf den Schornsteinen sitzen und auf das üppige Mal am Ende des Markttages warten.