Fliegen mit Sabena
Ich fliege gern, nicht häufig, aber gern. Zumindest vor dem 11. September 2001. Seitdem hatte ich erst selten Gelegenheit mich davor zu fürchten. Vor einiger Zeit flog ich mit meiner Herzdame und mit der Sabena-Airlines nach Lissabon. Über Bruxelles mit Umsteigen und trotz Lust auf Fliegen hatte ich zunächst Angst.
Die übliche Angst zu spät zu kommen. Und dann die übliche lange Zeit auf dem Flughafen, weil wir doch wieder zu früh dort sind. Die Reisetaschen stehen vor unseren Füßen, auf dem berühmten, von Max Goldt so gelobten blitzeblanken Fußboden der Eingangshalle Tempelhof Airport. Leider ist der nur aus Linoleum. Ich dachte, es wäre Marmor oder Terrazzo oder wenigstens irgendein Gestein, das glitzert, wenn man es bohnert. Aber Linoleum? Ich bin enttäuscht. Aber blitzeblank ist er doch. Das Gebäude ist gigantisch, genau dem Größenwahn des Führers und seines Stararchitekten entsprechend. Ich muss zugeben, dieser große, luftige Bau mit seinen eckigen Säulen und den riesigen Fenstern beeindrucken mich. Die Absicht, den Besucher der Halle dahin zu bringen, sich für klein und unwichtig zu halten ist dem Bauherrn geglückt.
Wir müssen nach Brüssel, Hauptumschlagplatz für Überseepassagiere. Vor uns stehen zwei gereifte Herren, vielleicht schräg über fünfzig. Große Koffer, Schnallenstiefel und Cowboyhut. Graue Drei-Tage-Bärte, Bäuche die nach Wohlstand aussehen. Ihre Frauen begleiten sie, aber mir wird nicht ganz klar, ob nur bis zum Flughafen oder nach Good Old USA. Vielleicht haben die beiden ja ein Wochenende auf einer Ranch gewonnen. Der Rest der Leute, die einchecken sieht nach Geschäftspendler aus. Saubere Anzüge, stabile Aktenkoffer mit Zahlenschlössern außen und Bildzeitung innen. Carla, eine Nachbarin und ihr Mann laufen uns kurz über den Weg. Da fliegt man also heimlich weg, verkauft die Kinder an Oma und trifft ein paar Nachbarn auf dem Flughafen. Sie gratulieren uns zu dem Entschluss alleine wegzufahren und wünschen uns viel Spaß.
Auf dem Rollfeld steht bereits die Maschine. Es ist eine kleine Sabena, die Flügel oben dran. Da hat man auf allen Fensterplätzen gute Sicht. Weiter hinten stehen ein paar kleine einmotorige Maschinen wie Grashüpfer am Rande des Rollfeldes. Rundflüge über Berlin für alle, die die Stadt am Boden nicht mehr ertragen. Die Ansicht des Flughafens vom Rollfeld aus, ist genauso gigantisch, wie von innen. Das Gebäude umfängt einen Teil des Rollfeldes in einem größenwahnsinnigen Bogen. Alles in der hochmütigen Architektur der Reichshauptstadt. Ich erwarte jeden Augenblick ein Luftschiff landen zu sehen und Indianer-Jones nach den Flugscheinen fragen zu hören.Wir steigen über eine wackelige Treppe in unsere kleine Maschine. Dort warten wir auf die Starterlaubnis. Natürlich fliegt sie nicht pünktlich und natürlich mache ich meine Herzdame nervös, mit meinem aufgeregten Gefasel, dass wir den Anschlussflug in Brüssel verpassen. Sie ist ohnehin schon fertig genug wegen der Aussicht heute zweimal starten und zweimal landen zu müssen. Fliegen bereitet ihr keine große Befriedigung.
Endlich geht es los und Berlin verschwindet. Potsdam-Sanssouci ist zusehen, das Schloss mit seinen geschwungenen Treppen und dem Lustgarten, Brandenburgs Seen und irgendwann taucht ganz verschwommen der Harz auf. Warum es am Rhein so schön ist, kann ich von hier oben nicht ausreichend klären. Aachen, der Dom. Ein schwarzer Punkt in einer Ansammlung grauer Flecken. Und schließlich Bruxelles. Schaltzentrale Europas. Brüssel ist kaum einer wesentlichen Erwähnung Wert. Wieso auch, haben wir doch die Stadt lediglich zum Wechseln des Flugzeuges benötigt. Von Sabena klein in Sabena groß. Natürlich erreichen wir den Anschlussflug pünktlich. Sabena Groß wartet auf Sabena klein, das ist nett. Und außerdem war ohnehin genug Zeit, was ich ja gleich gewusst habe. Was gibt es dort schon groß zu sehen, auf dem Heimatstützpunkt der belgischen Fluglinie Nr.1? Geschäftsleute, die sich auf dem Klo die Zähne putzen. Barkeeper, die durstige Kunden nur bedienen, wenn man sie kräftig anblafft. Ich habe meinen aufgeregt, freundlichen Tag, also bleiben wir durstig.
Einchecken zum Flug nach Lisboa – Portugal. Der Flug am Nachbarterminal hat Verspätung. Aufgebrachte Italiener telefonieren nach Hause. Vielleicht liegt es aber auch an der Sprache. Italienisch klingt für mich immer nach Gebrauchtwagenverkäufer kurz vor dem Herzkasper. Ein lautes Palaver ist also im Gange, dem wir uns irgendwie zu entziehen suchen. Während in den Walkmanbestöpselten Ohren meiner Geliebten finnische Weiber Folkmusik kreischen, schaue ich durchs große Fenster dem Bodenpersonal beim Spielen zu. Heute: Kofferrugby. Ich hoffe unsere Taschen in Lissabon wieder gesund in die Arme schließen zu können.
Letzte Aufruf Mr. Soundso aus Wieheißesnoch solle sich bitte am Schalter einfinden.
Wir verschwinden in der Nachmittagsmaschine. Sie rollt lange, bis sie schließlich an der Startbahn zum Stehen kommt. Es herrscht reger Abflugbetrieb. Eine Maschine nach der anderen hebt vor uns ab in den strahlenden Himmel über Bruxelles. Hier eine rote Virgin, da ein kleine Sabena. Nach dem Abheben mit den Flügel schaukelnd, als säßen in den Kanzeln überall Piloten aus Leidenschaft.Unsere lächelnde Stewardess mit dem süßen Namen Emilie Himbeerchen steht im Gang und macht die üblichen Faxen zur Begrüßung. Dann nimmt die Maschine ohne Ankündigung Anlauf. Die Herzdame krallt sich in die Armlehnen und genießt auf ihre Weise die Startphase. Wir werden in die Sitze gepresst und im Nu verlieren wir den Boden unter den Füßen (respektive unter den Rädern). Langsam tauchen wir aus der grauen staubigen Luft über Brüssel in eine reines, die Augen blendendes Blitzeblau.
Während des Fluges klappen über unseren Köpfen kleine digitale Bildschirme herunter, auf denen wir die Flugroute über Westeuropa mitverfolgen können. Außerdem werden die Distanzen zwischen Ziel und Ankunftsort, Flughöhe und Außentemperatur angezeigt. Nachdem das jeder auswendig gelernt hat, zeigt der Bordsender Naturfilme von der BBC. Die Welt in die Primärfarben getaucht. Grüne Leguane im Blattwerk, blaue Seesterne im Meer. Rote Hirsche im Herbstwald und weiße Hasen im Schneesturm. Executive Producer ist hierbei die ganz wunderbare britische Schauspielerin Juliette Stevenson. Leider ist sie weder zu sehen, noch zu hören. Das Essen ist so üppig, wie im Flugzeug üblich und es schmeckt ziemlich eingepackt.
Während Emilie Himbeerchen fleißig zollfreie Ware verhökert und meine Herzdame ihre Flugübelkeit pflegt, sehe ich tief unter mir, wie der Golf von Biscaya Schaum schlägt. Dann lichtet sich die lockere Bewölkung, lässt ein paar Schiffe erkennen und schließlich lösen sich die letzten Wolken kurz vor der spanischen Küstenlinie gänzlich auf. Ich erkenne die geschwungene Bucht von San Sebastian. Sie ähnelt der Form einer Muschel. Mitten in der Bucht liegt eine Insel, die den Wind fängt, der Mal vom Meer auf den größten europäischen Innenstadtstrand weht, Mal von den Bergen der auslaufenden Pyrenäen herunterfegt. Dann sind wir bereits über den Cantabrischen Cordilieren, erreichen Portugal und überfliegen Bragança, der Wiege des portugiesischen Königsgeschlechts. Coimbra, größte Universitätsstadt im lusophonischen Raum, ein portugiesisches Cambridge. Lediglich der Campus der Universität von São Paulo soll größer sein, als der von Coimbra. Alles live unter mir oder live im Bordfernsehen mitzuverfolgen. Schließlich heißt es „Fasten seat belts“. Meine Nachbarin rückt sich zurecht, für den zweiten Tiefpunkt des Tages – eine Landung haben wir ja bereits hinter uns – und ich erkenne unten den Tejo, wie er sich durch die Landschaft wälzt. Dann sinken wir und die Konturen werden schärfer.
Emilie Himbeerchen lächelt beim Verabschieden der Gäste. Das kann sie gut. Ich hoffe, sie kann immer noch lächeln, denn Sabena hat vor einiger Zeit Konkurs angemeldet und existiert nicht mehr. Frau Himbeerchen musste also irgendwo anders ein Bewerbungslächeln einreichen. Vielleicht hätte ich doch ein paar Zollfrei Waren bei ihr kaufen sollen. Aber das hätte Sabena sicher auch nicht gerettet.