Wenn man auf Reisen ist, so passiert man gelegentlich Orte, die sich einem nur oberflächlich erschließen. Zurück bleibt ein erster Eindruck, der sich einprägt. Er ist, wie schon bemerkt, oberflächlich und wird es auch bleiben, wenn man sich diesem Ort nicht direkter, offensiver und vor allem vorurteilsfrei nähert. Diese Zeit bleibt den wenigsten und meist hängt dem Durchreisenden auch noch ein Hauch Arroganz am Hals, sich Umsteigepunkten gegenüber reserviert zu benehmen.
In beinahe jedem Ort finden sich liebenswerte Dinge und solche, die abschrecken, finden sich auch dort, wo man lebt und liebt. Wenn ich über Hildesheim kaum ein gutes Wort finde, so deshalb, weil ich diesen Eindruck gewonnen habe, aus der Sicht des Durchreisenden, aus der Sicht dessen, der in der Stadt nichts zu suchen hat und den die Stadt aus diesem Grund nicht an sich ran lässt, ihn bereits bei der Anreise abblitzen lässt. Das kann in Köln und Rio genau so passieren und es soll kein Urteil über die Stadt sein, sondern nur ein Urteil über das Bild, mit dem sich ein Ort seinen Gästen präsentiert. Ich glaube, dass es auch in Hildesheim bemerkenswerte und zu mögende Gegenden und Menschen gibt, die es kennen zu lernen lohnt, doch bleibt einem Durchreisenden dies meist verwehrt.
Menschen, die von Berufswegen viel Reisen müssen, wissen sicher nur all zu gut, dass Reisen anstrengend sein kann, mithin eine Last. Für alle anderen gilt, Reisen gehört zu den Dingen, die eine geplante Erholung einleiten sollten. Schon deshalb möge sich das Reisen in den Urlaub stressfrei gestalten.
Um die ca. 2000 km von Berlin in den Süden Frankreichs zu überbrücken, ohne sich gewissen Stressanfälligkeiten ausgesetzt zu sehen, die einen nach zu vielen Stunden im Auto mit Sicherheit heimsuchen, wobei langsam auf der Hose schmelzende Schokoladenkrümel oder plötzlich in der Hose piepsende Taschentelefone, die einem lediglich an einen einzuhaltenden Zahlungstermin erinnern, genügen, um plötzlich unkontrolliert aus der Haut zu fahren, hatte ich mir überlegt, der Deutschen Bahn soviel Schotter in den gierigen Schlund zu werfen, dass sie klein beigibt und schließlich gewillt war, mir die Bequemlichkeit eines Autoreisezuges möglich zu machen.
Frankreich ist vom Westen Deutschlands aus leicht zu erreichen. Es ist einfach näher dran.
Von Berlin und den neuen Bundesländern aus, ist es dagegen schon eine ganz schön lange Strecke, die zu überwinden ist. Ein unmittelbarer Nachbar scheint es aus dieser Sicht nicht zu sein und gerade von dort, würde man sich logischerweise die Möglichkeit eines Autoreisezuges wünschen. Leider hat sich die Deutsche Bahn von logischen Kurzschlüssen heimsuchen lassen. So muss der Ostdeutsche und der Berliner erst einmal nach Westen fahren um einen Autoreisezug zu nutzen. So bleibt ihm Hamburg, Hildesheim und Neu Isenburg. Besonders letzte beiden klingen schon von Weitem wie berühmte Verkehrsknotenpunkte.
So fahren wir nach Hildesheim – wir vier sind neben meiner Herzdame und mir noch unsere beiden halbwüchsigen Infanten. 240 km zwischen Frühstück und Mittagessen. Verladung ist um 14.00 Uhr und wir sind dank freier Straßen und großzügiger Zeitplanung um einiges zu früh. Die Verladeklappe hat noch dicht und so beschließen wir uns das weltberühmte Hildesheim in Ruhe anzuschauen.
Als bekennender Schattenparker bevorzuge ich das nahe gelegene Parkhaus am Verladebahnhof – zweifelsohne bereits die erste Sehenswürdigkeit. Kaum habe ich das Auto verschlossen, strebe ich dem Ausgang zu, der mir mit Pfeilen angezeigt wird. Ich lande am Grund eines unbeleuchteten Neubautreppenflurs. Wo muss ich hin? Ich versuche es mit einer oberen Etage und taste mich die vorgefertigten Formstücktreppen hinauf. Dort wo ich eine Tür vermute, kann ich nur ein verschlossenes Blech ohne Klinke ertasten. Eine Etage höher öffnet sich die Tür allerdings. Frauenparkdeck steht an der Wand und in der Tat trifft mich sofort der missbilligende Blick einer Autofahrerin beim Rouge auftragen. Wieso gibt es eigentlich Frauenparkdecks? Ich hörte davon, dass sie sicherer sein sollen für Frauen. So können sie in Ruhe einparken, Lippenstifte nachziehen und all die Dinge tun, bei denen sie Männer nicht dabei haben wollen. Das Frauenparkdeck soll den Frauen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, aber ich frage mich, was für eine Sicherheit das sein soll, wenn Typen wie ich über einen Zugang dorthin gelangen können, der offensichtlich stillgelegt ist. Ich blicke über die Brüstung und stelle fest, dass ich viel zu weit oben bin, also taste ich mich wieder durch die Dunkelheit des Treppenflurs, bis ich nach unten keine weitere Treppe finde. Dafür ist der Boden knöcheltief überflutet, was meine leider nicht wasserfesten Sandalen nach wenigen Augenblicken deutlich betonen. Ich entfliehe über den Autos vorbehaltenen Weg.
Endlich wieder Sonne, endlich Hildesheim und meine Familie wartet im Sonnenschein.
Hildesheim anzusehen empfinde ich in etwa als so spektakulär, wie den Aufbau einer Ü-Ei-Figur. Die Innenstadt besteht aus vorgestanzten Teilen, mit der in der Bundesrepublik Innenstädte zusammengelötet werden. Der ganze Katalog der Normteilbestückung breitet sich vor mir aus: Schuhläden, die hier genauso heißen wie in Wuppertal oder Bottrop, der gesamtdeutsche Ramschbuchhandel von Wohltats neben Drospas und Roßmanns und italienischen Restaurants imitierende Schnellkochstuben deren Toiletten genauso wenig zum Verweilen einladen, wie die Speisekarten. Bosnier kochen eben auch nur mit Mirakoli. Lediglich der alte Marktplatz ist schnuckelig mit seinen mittelalterlichen Fassaden und dem hohen Brunnen. Zu wenig, was der verdammte Weltkrieg von der Stadt übriggelassen hat. Leider hat die Nachkriegsarchitektur auch keine Schlacht gewonnen und wenn doch, dann ist das Ergebnis nicht gerade bewunderswert.
Vor einem Strassencafé lungert eine Romakapelle auf sehr musikalische Weise herum. Sie bekommen unser spendenfreudiges Wohlwollen zu spüren und legen sich gleich noch etwas mehr ins Zeug.
Wir gucken ein bisschen Schuhe, ramschen etwas wohltatsche Billigbücher zusammen und finden uns bereits vor dem Bahnhof wieder. Von der Sicherheit der Fußgängerzone zum Leichtsinn verführt, wollen wir die Straße überqueren. Busse rasen aus einer Seitenstraße, die dort auf harmlose Reisende von Außerhalb lauern. Hupend und hydraulisch pupsend prasseln sie heran, Bus wie Busfahrer mit gleichermaßen gefletschter Frontansicht.
Am Rande des Bahnhofs schämt sich geduckt eine kleine Altbauhäuserzeile. Mit plüschigen, wenn auch verwaschenen Farben und eindeutigen Ladeneingangsbezeichnungen fristet hinter den drei Eingängen das Hildesheimer Rotlichtviertel sein umtuscheltes Dasein: ein Kino, eine Bar, ein Stundenhotel und ein Frisör. Wer dorthin steuert hat eindeutige Pläne und wird von den strengen Blicken der Menschen am Busbahnhof durchschaut. Ich steuere darauf zu. Direkt hinter den Häusern befindet sich das Parkhaus, aus dem ich unser Auto auslöse.
Das Verladen des Autos ist unkompliziert. Eine steile Rampe hinauf und hinter dem nächsten Auto anstellen. Die Männer von der Verladefront stöpseln ein paar Krallen vor die Räder, machen ein paar Witze, deren Pointe sie geschickt vor mir versteckt halten. Das war’s. Und das hält nun bis Narbonne. Ich werde nicht umhinkommen in den Kurven gelegentlich aus dem Fenster zu schauen, um einen kontrollierenden Blick zu werfen.
Der Hildesheimer Kleinstadtbahnhof macht einen auf moderne Kundenbetreuung. Ausladender Presseshop, Cafeteria, klebende Fliesenfußböden, ein Backwarenstand, ein Drogerie. Nichts was man länger aushält, als nötig. Also setzen wir uns auf den vom gleißenden Sonnenlicht weichgegrillten Bahnsteig. Die Kopfhörer meines Taschentelefonradios verraten mir, dass auch im Großraum Hannover keinen hörenswerten Radiosender existiert. Stattdessen unterhält uns der Bahnhofsirre.
„Wo kommst’n her?“ fragt er.
„Berlin.“
„Dann kennst du ja Inge und Konrad. Auf der Schönhauser. Da war ich auch schon zu Besuch.“
Er plappert munter auf uns ein und sagt dann unvermittelt „Tschüß, bis Weihnachten auf der Schönhauser.“ Er schlendert munter seinen Beutel schwenkend, in dem sich all die wichtigen Dinge befinden, die ein Bahnhofsirrer so braucht, weiter, stellt sich vor einem anderen Reisenden auf und fragt: „Wo kommst’n her?“. Antwort bekommt er auch dort, denn es ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass er ein harmloser Bahnhofsirrer ist, ohne Kommunikationsschwierigkeiten.
Auf dem Bahnsteig gegenüber steht die Hildesheimer Vorstadtjugend und wartet auf den Zug in die große Stadt – Hannover. Gepiercte Bauchnäbel blinken in der Sonne. Pinkfarbene Handtaschen liegen auf Hüftwulsten, hochgepresst von blutstoppenden Jeans in den Trendfarben ausgeblichen, eingegilbt oder vollgepullert, das kann ich von hier nicht genau erkennen. Riechen tut es auf dem ganzen Bahnhof aber so. Turnschuhe ziehen Kaugummifäden hinter sich her, die den Tag überdauern werden. Das Leben brummt in Hannovers Einkaufzone und wartet auf erlebnishungrige Vierzehnjährige.
Wir warten auf den Zug, der nun endlich einfährt und uns von Hildesheim entfernt.
Tschüß Hildesheim. Vielleicht bin ich ja mal gezwungen länger zu bleiben, dann kannst du vielleicht ein paar mehr Punkte machen.