Cassis – Ein Traum in Blau- Teil 1
Das Mittelmeer bemerkt man, selbst wenn man es noch gar nicht sieht. Es ist der Himmel, der das Meer ankündigt. Auf einmal erscheint er höher, größer, weiter und in einem strahlenderem Blau. Ein Glitzern liegt in der Luft, als ob feinste Wasserperlen das Licht der Sonne reflektieren.
Die Mittagshitze dringt durch das geöffnete Autofenster und bringt mit heißer Luft den Duft trockener Pinienwälder herein. Zikaden schieben das Geräusch des Sommers hinterher. Zwischen den Weinbergen und Pinienhainen ragen einzelne Felsen heraus. Kurve um Kurve windet sich die Straße durchs Bergland, lässt gelegentlich ein blaues Leuchten aus dem Tal heraufblitzen. Die Weingüter am Rand der Straße besitzen Einfahrten, die einem römischen Imperator wie Triumphbögen vorkommen müssen. Mittelgroße Chateaus beenden die Kiesauffahrten. Alles ein wenig zu pompös, um mal unverbindlich und unangemeldet zu einer kleinen Degustation vorbeizuschneien.
Hinter einer weiteren Kehre reißt die Berglandschaft auf und ich kann deutlich den Horizont erkennen, eine schmale glänzende Linie, die eine blaue Fläche von einer anderen blauen Fläche trennt. Rote Dächer leuchten zwischen grünen Baumkronen, meist Pinien, Palmen oder Platanen, hindurch. Lotrecht stürzt sich ein weißer Felsen ins Meer. Ich schalte das Autoradio ab. Ich habe Angst, ein französischer Radiosender könnte gleich Charles Trenets Lieblingssong „La Mer“ spielen. Das wäre zu viel des Guten.
Das Ortsschild Cassis saust an mir vorbei. Ich bremse mich abrupt auf 50 km/h herab zum laut hupenden Ärger des nachfolgenden Reisebusses. Cassis, einst ein kleiner Fischerort mit einer Burg, heute ein Touristenort mit einem mondänen Privathotel in jener ehemaligen Burg. Die Burg gehörte denen von Michelin. Nichts für den schmalen Taler. Nur gegen ordentlich Eintritt.
Das gilt nicht für das Dorf, einem angenehm duftenden, hellen Ort, dem die Abwechslung von alten Bauten und moderner Architektur gut steht. Lediglich bei den Apartmentbauten, die sich oberhalb des Ortes an die Felsen drücken, hätte der Architekt mit etwas mehr Efeu arbeiten können.
Im Zentrum, nahe des Hafens räumen die Markthändler gerade ihre Stände zusammen. Kleintransporter stehen mit geöffneten Türen in den Gassen. Ein Arm könnte ich gerade so am Wagen vorbei schieben. Den Rest nicht. Vorsichtig schließe ich eine Tür und mogle mich an der Hauswand entlang. Der Händler, dem der Wagen gehört beginnt einen kleinen Wortschwall aus unverständlichem Gemaule auf mich herabprallen, den ich gründlich ignoriere. Ich spende ihm lediglich ein deutliches Schulterzucken und setze mein Slalomlauf um die Marktstände und deren Autos fort.
Am großen Boulodrome, gleich neben dem Hafen schlängelt sich eine Schlange um ein Steinmahnmal herum. Ich frage nicht erst lange, was es gibt, sondern stelle mich an. Es kann sich ohnehin nur um den Ticketverkauf für die Calanques-Ausflüge handeln. Keine zehn Minuten später finde ich mich mit meiner Herzdame auf einem kleinen Motorkahn wieder, der uns und dreißig weitere Touristen gemächlich aus dem Hafen tuckert. Die schönen alten und bunten Häuser des Hafens werden kleiner. Am Ufer liegen auf schiefen Felssteinen badelustige und sonnenhungrige Urlauber. Wiederkehrenden Ausflugsschiffen wird rigoros gewunken.
Wir tauchen ein in die Welt der Calanques, einer bizarren Küstenformation, die das Mittelmeer hier zwischen Cassis und Marseille auf einer Länge von 20 Kilometern hervorgebracht hat. Fjordartig schneidet das Meer Buchten aus den hohen weißen Kalkfelsen, die bis zu 400 Meter hoch direkt aus dem Meer steigen. Die Buchten sind über den Calanque-Wanderweg auch von oben zu erreichen. Wagemutige Wanderer können in gleißender Sonne versuchen, auf steilen, rutschigen Geröllsteigen bis an die kleinen verwunschenen Strände im Innern der Buchten zu gelangen. Aber es ist mühselig und gefährlich und zwischen Juli und August wegen der hohen Brandgefahr in Südfrankreich verboten. Angenehmer ist der Seeweg. Segelyachten wiegen sich in der sanften Dünung. Durchs türkisfarbene Wasser zieht ein gelbes Seekajak seine Spur. Uns Ausflugstouristen bleibt es
verwehrt kurz ins kühle Meer zu springen.
Möwen kreischen in den Höhen. Seeschwalben flitzen zwischen den Felsen auf und ab und wenige Meter neben unserem Boot platscht die Flosse eines Delfins durch die Wellen. Ich bin restlos begeistert von dieser Umgebung. Zwar glaube ich, dass es noch viele andere erschlagend schöne Gegenden auf der Welt gibt. Mir fällt im Moment nur keine ein.
Der Bootsführer erzählt viel und schnell. So berichtet er von einem Höhlenzugang ganz in der Nähe. Dort könne man gemütlich auf eine Höhe von 20 Metern unterhalb des Meeresspiegels herabsteigen und Höhlenmalereien betrachten.
Die Vorstellung, in zwanzig Metern Tiefe steinzeitliche Grafitti und anderen prähistorischen Mumpitz zu betrachten, während sich draußen das Meer gegen die Wände wälzt und diverse gefräßige Unterwasser-Gourmets bereits die Zähne spülen, finde ich zwar spannend, aber nicht entspannend. Hier klimpert meine kleine Klaustrophobie durch. Ich habe gern Platz und Luft um mich herum. Am liebsten auch noch Licht.
Am Horizont zeichnet sich eine Felsformation ab, die mir etwas vertraut vorkommt. Mein für Filmzitate und -szenen sehr empfängliches Gehirn googelt mal eben in der Datenbank nach und richtig, diese Insel diente Gerard Depardieu einst als Graf von Monte Cristo als virtueller Wohnsitz. Hier lag der Schatz, der ihn seinen genialen Rachefeldzug durchführen und das Herz der schönen Ornella Muti zurück gewinnen lies. Dies ist Monte Cristo, wenigstens im Fernseh-Vierteiler.
Die Rückfahrt in den Hafen verläuft zügig. Das Boot legt an und leert sich schnell. 90 Minuten Fahrt haben aus mäßig blassen Engländern, fotografierenden Holländern und ein paar angetrunkenen Russen rotgesichtige Zombies werden lassen. Die Sonne macht da kaum Unterschiede, wenn es darum geht Touristen zu brandmarken. Meine Herzdame und ich hatten Glück. Da, als wir unsere Tickets kauften, bereits alle Plätze auf den Sonnendecks belegt waren, konnten wir die Fahrt im schattigen Inneraum und in der Zugluft der geöffneten Fenster verbringen. Gelegentlich betraten wir das Achterdeck um zu staunen und zu fotografieren. Angenehm gekühlt verlassen wir das Boot, bedanken uns beim Bootsmann, Steuermann oder Hilfskapitän, ich weiß nicht wie das mit den Dienstgraden bei Ausflugsschiffchen aussieht. Der junge Mann, der merkwürdigerweise aussieht wie Sascha Hehn – blond, langhaarig und anzüglich – hilft uns die steilen Stufen hinauf. „Vielen Dank“ flöte ich. „Sie haben hier eine sehr hübsche Küste.“
Trotzdem wir uns weder Näschen noch Nacken noch Arme verbrannt haben, sondern aus dem Inneren des Bootes eher angenehm erfrischt wieder herauskommen, ist die Idee baden zu gehen höchst willkommen. In der Nähe des Boulodromes befindet sich ein gut besuchter Strand aus groben Kies. Attraktive Badeschönheiten rekeln sich hier auf Handtüchern und Decken, weniger attraktive Gestalten braten oben unverhüllt in der Hitze des Nachmittags. Neben uns schnarcht eine mittelgroße weibliche Gebirgskette, während ihre Brüste nicht nur in Form sondern auch in Farbe geschälten Melonen ähneln. Das erste Wort, das sie nach dem Erwachen sagen wird, dürfte „Au“ sein. Oder „Shit“. Zwei sportliche junge Farbige liegen ebenfalls in der Nähe. Wie erkennen die eigentlich einen Sonnenbrand?
Wie an jeder Badenden vorbehaltenen Sommerküste, toben sich auch hier zahlreiche Funsportler herum. Eine Kindergruppe wird jeder in einem eigenen Segelboot von der Größe einer Babybadewanne von einem leistungsschwachen Motorboot durch die Dünung geschleppt. Unsinkbare Bananenkajaks hopsen durch die Wellen. Etliche Kilometer vor der Küste schleppt ein Armeehubschrauber ein Boot an einer starken Leine mit hoher Geschwindigkeit durchs Wasser. Als ich mich aufraffe und ein paar Meter schwimmen gehen will, taucht neben mir ein Froschmann in voller Ausrüstung auf, nickt mir kurz zu und stapft tropfend über die wie Grillgut verteilten Badegäste. Das Wasser ist angenehm kühl, aber nicht kalt. Keine zwei Meter nachdem ich das Wasser betreten habe, verschwindet der Boden unter mir und ich schwimme durch türkisfarbenes Wasser. Es ist wunderbar.
Leider kann man so viel Erholung nicht bis in alle Ewigkeit ertragen. Wir verlassen den Strand in der Hoffnung, irgendwo etwas zu Essen zu finden.
Es ist bereits deutlich nach der Mittagszeit, knapp halb vier und von einem ordentlichen französischen Restaurant kann man erwarten, dass es um diese Zeit ruht, Siesta hält, jedenfalls kein warmes Essen verteilt. Das ist auch richtig, wie ich feststellen muss. Die Tische der Restaurants und Terrassen stehen verwaist herum. Mittagskarten sind versteckt oder ganz eingezogen worden, lediglich ein überteuerter Laden unmittelbar neben den Ausflugsbooten bietet seine Gerichte über den Nachmittag hinweg an. Die Preise sind für die Gerichte, die das Restaurant anbietet unerhört. Ansteckend ist das Menü des Tages auch nicht. Wir lassen die Karte aufgeklappt liegen und erheben uns. Ein abschlägiges Schulterzucken meinerseits bedeutet dem Kellner, dass er und sein Angebot uns nicht überzeugen konnte. Er zieht seinerseits die Schultern hoch. Bedauernd, aber wirklich zu schmerzen scheint es ihn nicht. Es ist ohnehin noch zu heiß für gegrillten Fisch.
Geduckt tauchen wir unter der Sonne hindurch, bis uns die Platanen in der Nähe des Boulodromes ein wenig schattige Abkühlung vorheucheln. Der Spielplatz der Petanque-Elite wird von einem mondänen Brunnen beherrscht. Am Rand des Platzes warnt ein Schild vor dem Betreten der Spielfläche. „Es ist gefährlich, den Platz zu überqueren.“ Die Warnung ist angesichts der professionellen Mienen der Spieler ungemein wichtig. Dass eine Boulekugel sich im Flug verirrt und einen harmlosen Passanten erschlägt, soll ja schon mal vorgekommen sein, ist aber trotzdem eher unwahrscheinlich. Vielmehr soll davor gewarnt werden beim unaufmerksamen Schlendern eine gespielte Kugel versehentlich einen Millimeter wegzukicken. Ich möchte jedenfalls nicht in der Haut desjenigen stecken, der vom pastisselig angesäuselten Boulespieler in Rage zur Ordnung gerufen wird.
Auf der einen Seite des Kreisverkehrs der den Bouleplatz umschließt, befindet sich eine Terrassenbar, die mit Eis lockt. Die passende Erfrischung. Dazu ein gekühlter Rosé und wir vergessen die Tatsache, dass uns trotz des Bades im Meer allmählich die Hitze zu schaffen macht. Wir drängeln uns höflich an einem alten Mann vorbei, der den Zugang zur Terrasse verstopft und bestellen uns Eis mit lateinamerikanischen Namen. Der Rosé ist eiskalt und stammt von den Weingütern rund um Cassis. Er ist ein wenig sperrig und abweisend. Erst nach dem zweiten Glas wird er zutraulicher. Entspannung durchzieht meinen Körper und ich blicke mich um. Von der Terrasse hat man einen guten Blick auf die Claquere, die ihre Eisenkugeln aufeinanderhetzen. Der Blick ins Innere der Bar enthüllt mir, dass es sich um eine Sportsbar handelt, in der den Freuden, der Spiel-, Sport- und Wettleidenschaft ausgiebig nachgegangen wird.
An der Wand der Bar hängen Bilder aus Hollywoodfilmen. Robert de Niro ist zu sehen, wie er als Conquistador durch Brasilien zieht. Eine Szene aus dem Film „The Mission“. Die üppige Marilene Monroe sitzt vor einem Orchester und singt in einem Kleid, das aus abwesendem Material hergestellt wurde. Die vielleicht größte sexuelle Belästigung im Film überhaupt. Eine Szene aus „Manche mögens heiß“. Humprey Bogart klopft rußverschmiert gegen den alten Kessel seiner „African Queen“. Und die bezaubernde Grace Kelly sitzt strahlend in ihrem offenen Flitzer in „Über den Dächern von Nizza“, neben sich Cary Grant, der in diesem Film ein kantiges und hartes Gesicht besitzt, mit einer für ihn unnatürlichen Bräune. Grant muss bereits Wochen vor den Dreharbeiten an der Cote Azur geweilt haben, um den dunklen Teint des Provencalen zu bekommen, jenen Oliven farbenen Hautton, der heranreift, wenn man den Tag über in den Feldern wirtschaftet oder seinen Pastis auf den Bouleplätzen des Südens konsumiert.
Die vier Männer, die unter den Hollywoodgrößen an einem Tisch sitzen, spielen Karten. Leidenschaftlich lassen sie ihre Asse, Könige, Damen, Trümpfe auf die Tischplatte krachen, ohne groß aufzusehen. Gelegentlich findet eine Hand den Weg zum Rosé und in unregelmäßigen Abständen voller überraschender Aufmerksamkeit schaut der an der Wand unter Marilene lehnender Mann zum großen Flachbildschirm am Eingang, in dem schwitzende Pferde auf fernen grünen Rasenflächen um die Wette laufen. Der Sender liefert über den gesamten Zeitraum, in dem wir uns dort aufhalten News, Wettquoten und Live-Berichte von allen wichtigen Rennbahnen zwischen Straßbourg, dem Nord Pas de Calais und dem Nottingham-Forrest.
Drei verschwitzte Männer in knapper Sportkleidung betreten die Terrasse und begrüßen den Opa am Eingang. Sie küssen ihn nach landesüblicher Sitte dreimal abwechselnd auf die Wangen. Ich habe schon junge Männer gesehen, die es viermal taten. Der Ritus ist mir etwas fremd und die Menge und Abfolge der Küsserei bedarf einer gründlicheren verhaltenswissenschaftlichen Studie, als ich sie zu leisten in der Lage bin. Der in der Provence lebende Schriftsteller Peter Mayle hat dieses Begrüßungsritual in seinen Provencebetrachtungen einmal gründlich durchleuchtet. Doch soweit ich mich erinnere, kam er auch nicht weiter, als bis zur dreimaligen Verabreichung des Begrüßungskusses.
Die drei Sportler dringen johlend ins Innere der Bar ein, mit glücklichem Siegerlächeln. Ihre Hände halten zerschossene Boulekugeln fest, die direkt aus den Rohren einer Festungskanone zu kommen scheinen. Einer beginnt seine heiligen Boules zu polieren. Dazu nutzt er etwas, dessen Farbe und Konsistenz nicht zum Polieren von Sportgeräten gedacht ist. Es sieht eher aus, wie ein Lappen, der am Vormittag den Motorblock eines Traktors gereinigt hat. Der Wirt nimmt die polierten Kugeln in Empfang, verstaut sie unter der Theke und händigt den Spielern dafür zwei Pastis und einen Espresso aus. Von einem anderen Tisch, der sich weit hinten im Dunkeln der Bar verbirgt, dringt das energische Geklapper eines Würfelbechers nach draußen. Auf dem Weg zur Toilette sehe ich ein Bild, in dem Paul Newman sich leicht über die Nase fährt. Ein Foto aus „Der Clou“. Ich mache mir keine Illusionen über die Ausstattung des Kellers.
Das Eis, so lecker es auch ist, es hält nicht lange. Die Roséflasche lässt auch nichts mehr raus, weil nichts mehr drin ist. Es wird Zeit zu gehen. Wir drängeln uns wieder an dem Opa vorbei unter Dankesbekundungen dafür, dass er nicht einen Millimeter beiseite rutscht. Er freut sich und bedankt sich seinerseits. Hinter uns schafft es ein sehr konvexer Mann ohne Mühe an Opa vorbeizutänzeln. Leicht schwankend bewegt er sich auf den Bouleplatz zu, die hupenden Mopeds und quietschenden Bremsen der Kleinwagen ignorierend. In seiner Hand klappern die Boulekugeln eingehüllt in einem schmutzigen Tuch. Aus seiner Hosentasche lugt vorwitzig eine kleine Flasche vom gleichen Rosé, wie wir ihn gerade getrunken haben.
„Aber der wird doch warm“ sagt meine Herzdame.
Ich überlege, wie kalt er wohl im Moment ist, und wie er sich auf den Zustand seiner Hosentasche und seines Oberschenkels auswirkt.
„Ist wohl besser, als würde er sich einen Espresso mit auf den Platz nehmen.“
Wir verlassen den unterhaltsamen Hafenort für den Moment und überlassen die Einwohner ihrem Vergnügen.