Cassis
"Ach das Meer. So Blau. So Tief. So voller Fische"
------------Kevin Kline in "French Kiss!
Cassis - Himmelfahrt am Mittelmeer
Wenn man von Aix en Provence kommend, die Autobahn bei Carnoux verlässt, erreicht einem schon diese Atmosphäre, wie sie nur Orte in Küstennähe aufweisen. Der Himmel ist blauer und die Luft atmet sich besser weg. Kaum lässt man den lebendigen Ort mit Markt und Radrennveranstaltung hinter sich, überquert den nächsten Berg, sieht man Cassis unter sich auftauchen und dahinter erblickt man dieses unvergleichliche Blau. Unwillkürlich drängen sich die Zeilen des Charles Trenet Chansons ins Ohr:
“La mer
lala lala lala des golfes clairs
da dada die dada, la mer,
und so weiter. La La".
Cassis, die verspielte kleine Schwester des robusten Hafenganoven Marseille liegt malerisch an einer versteckten Bucht mit hohen Felsen, von der Großstadt nur durch einen schmalen aber massiven Gebirgszug getrennt. Gerade mal 10 Kilometer Bergmassive und träumerische Badebuchten, die Calanques, machen den Unterschied zwischen Moloch und Idylle.
Cassis ist nicht träge, im Gegenteil. Es ist überaus lebendig, besonders am Himmelfahrtstag, an dem wir morgens gegen 11 Uhr den Badeort erreichen. Halb Frankreich, zumindest die halbe südfranzösische Bevölkerung ist unterwegs, um einen ruhigen Tag am Meer zu feiern. Himmelfahrt, das ist hierzulande ein Tag für die Familie. Bierselige Männergruppen findet man hier nur in Ausnahmefällen. Stattdessen fallen ganze Großfamilien an den Stränden ein, um ein bisschen Sonne und Ferienstimmung zu genießen. So sammeln sich genügend Autos, die am großen Parkplatz neben einer der sonnigen Badebuchten, der Bestouanbucht direkt an der einzigen Zufahrtsstraße zur Halbinsel Presqu’ile, Schlange stehen. Wartend darauf, einen der raren, wieder frei werdenden Parkplätze zu erwischen. Die ohnehin nur schwer auszumachende Zufahrt zu unserem kleinen Hotel, dem Jadin d’Emile, das wir bereits Monate zuvor gebucht hatten, wird zu dem von einem Lieferwagen für Frischfisch blockiert. Ich fahre selbstverständlich an dieser Zufahrt vorbeifahre, ohne sie zu erkennen. Ein kleines Einbahnstraßenlabyrinth bergauf und bergab über die Halbinsel folgt und schließlich wage ich doch einen Blick auf mein Taschennavi, das ich kaum für sonderlich vertrauenswürdig halte, solange jemand in der Lage ist lesbare Karten zu zeichnen.
Wenige Minuten später fahre ich durch ein hohes Eisentor, über dem in grünen, alten Lettern das Wort Restaurant prangt. Das Hotel “Jardin d’Emile”, ein kleines apartes Gebäude mit stilvoll gestalteten Balkonen, leuchtet in einem satten Terrakottaton. Aus der Tür kommt eine junge geschäftige Frau geflitzt, die uns zum Anhalten zwingt und fragt, ob wir reserviert haben. Die Frage ist angesichts der Parkplatznot im Ort berechtigt und sie möchte verhindern, dass sich Badegäste zum Spaß auf den kleinen Privatparkplatz stellen. Glücklicherweise können wir eine Reservierung vorweisen und sie scheint ebenso glücklich darüber ein konfliktreiches Gespräch vermeiden zu können.
Wir sind ein bisschen früh, aber das stört die rührige Rezeptionistin nicht, die uns alles erklärt, was wir wissen müssen, auch wenn wir nur ein Drittel davon verstehen, was sie aufsagt. Wir können einchecken, das Zimmer ist nur noch nicht bereit und erst ab Nachmittag zu beziehen. Das ist aber ok, da wir ohnehin einen Spaziergang zu den Calanques geplant hatten.
Nachdem wir uns sinnigerweise an diesem heißen Tag in die Wanderschuhe zwängen und an der vor dem Hotel befindlichen Bar eine große Flasche Wasser einsacken, erfreuen wir uns kurz an der blauen Farbe des vor uns herumschwappenden Mittelmeers.
Dann laufen wir los.
Zu den Calanques
Den Calanques kann man sich auf verschiedenen Wegen nähern. Bei unserem ersten Besuch 2009 bestiegen wir einen Ausflugskutter, der uns an der Küste entlang schipperte und uns alle möglichen Buchten von der Meerseite aus zeigte, aber nicht zugänglich machte. (Siehe Cassis 1).
Fünf Jahre später entdeckten wir die Calanques ebenfalls auf dem Seeweg, in dem wir ein Kajak mieteten und an der Küste entlang paddelten, bis wir den schönsten aller Calanques erreichten, den Calanque En Vau.
Diesmal sind wir zu Fuß unterwegs, um über Wanderwege, die gut ausgeschildert sind, ebenfalls bis zum En Vau zu gelangen.
Eine Straße endet an einem Parkplatz mit Getränkeverkäufer und Orientierungskarte. Die ist vor lauter Leuten kaum zu erkennen. Mit Sonnenschirmen und Kleinkinderausrüstung wandern Familiengruppen den steinigen sandigen Weg entlang, der mit dem Pfeil »Calanques – da lang« markiert ist. So kompliziert scheint dieser Weg also nicht zu sein. Wir reihen uns ein und bekommen den ersten Eindruck des Erstaunens aufs Gesicht. Links vom Weg fällt der Hang steil ab zur ersten der vielen Buchten. Eine Reihe von allerschönsten Segelbooten glänzt in einer blauen Badewanne in der Sonne. Nicht in Luxus schwelgende Yachten, wie sie vor St. Tropez angeberisch festgemacht haben, sondern geliebte Segelschiffe, die immer wieder gern aufs Meer gelassen werden, wenn es Zeit und Wetter zulassen. Auf einzelnen Schiffen herrscht regsamer Betrieb. Decks werden gereinigt, kleine Ausbesserungsarbeiten finden statt. An einem hat ein aufblasbares Boot festgemacht, an denen vier Taucher baumeln und sich mühsam ins Bootsinnere wuchten. Das scheint in sofern eine besondere Herausforderung zu sein, da sie gerade gemeinsam von einem Lachanfall heimgesucht werden. Alle vier lachen herzhaft, verschlucken sich dabei an Restwasser, lachen weiter und lauter und die ganze Bucht hallt vom ansteckenden Gelächter wieder. Der Grund bleibt uns verborgen.
Ganz im Gegensatz zum Grund der Bucht. Von unserem erhöhten Stand kann man an bis hinab auf den steinigen Boden der Calanque blicken. Die kalkhaltigen Steine lassen das Wasser hellblau bis türkis erscheinen. An manchen Stellen ist das Wasser so klar, das man seine Oberfläche nicht erkennt und glauben möchte, die Schiffe hängen einfach so in der Luft.
Der Weg führt weiter bergauf, eine sandige Steigung von bis zu 30 Prozent, die für den normalen Wanderer schon eine gewisse Herausforderung darstellt, zumal die Temperaturen ihrerseits die 30-Grad-Grenze anpeilen. Ein junger Hund verirrt sich hinter eine Absperrung und kaspert den Abhang hinunter, wird aber vom Frauchen wieder auf den richtigen Weg zurück geschimpft.
Zwei Radfahrer mit Elektromountainbikes lassen die Steigung mit nonchalantem Grinsen hinter sich. “Pas de Problem” denken sie und lassen gleich darauf an der beginnenden Steinpiste ihr Grinsen fallen, denn hier wird das Weiterfahren eine echte Herausforderung, die man nicht allein mit Strom meistern kann.
Der Familienpilgerpfad führt nun über spitze Kiesel und Felsbrocken. Stufenartig angelegt, sind sie gut zu meistern, aber manchmal sind die Stufen und Abbrüche doch groß und rutschig, sodass der Fuß den sicheren Halt vorsichtig sucht. Das ist zumindest bei mir so. An uns vorbeihuschen gemsenartig junge schnatternde Franzosen, die nur so über die spitzen Wege springen und hopsen, als wären sie auf dem Weg ins Kino. Oder an den Strand, was richtiger erscheint. Ihre Füße zieren locker oder festere Turnschuhe. Es geht jetzt noch ein paar steilere Passagen hinauf. Linkerhand sieht man immer wieder auf das Meer und auf die enge Einfahrt des Calanques mit dem Hafen hinter der Presqu’ile. Ein weiterer Aussichtspunkt zwingt zum Stopp und wir genießen den weiten Blick übers Meer.
Dann geht es steil bergab. Und steil ist hier nicht das falsche Wort. Hohe, spitze Abstiege mit zum Teil rutschigen Passagen, machen es schwer sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Von unten hört man bereits das Kreischen einer ausgelassenen und zahlreichen Badegesellschaft. Ich halte mich etwas mühsam an einem provisorischen Zaun fest, der den nicht markierten Abstieg vom restlichen Naturschutz abgrenzt, suche den richtigen Tritt nach unten und lasse die hüpfenden Muttis mit ihren Kindern und Buddeleimern lächelnd den Vortritt. Nach gefühlten zehn alpinen Abstiegsminuten erreichen wir den Calanque Port Pin, an dem bereits kaum noch ein Platz frei ist, um ein Handtuch auf die steinige Strandoberfläche auszubreiten. Ringsum wird gebadet, gepiqueniquet oder versucht unter den Steinen ein wenig Buddelsand zu finden. Das Wasser scheint kalt zu sein, denn nur Wenige wagen es weiter in das hellblaue Wasser zu steigen, als bis an den Rand der Badehosen.
Um zum Calanque En Vau zu kommen, gibt es nun zwei Möglichkeiten. Rechts entlang den ausgewiesenen Wanderweg, der mir aber gerade ein wenig zu voll erscheint. Oder links, einen kleinen, blau markierten Weg, den ich mir bereits vorher ausgeguckt hatte und der mehr nach einem Klettersteig aussieht. Da er kaum begangen wird und wir nun die vielen Tagesausflügler hinter uns lassen können, entscheide ich mich dafür. Außerdem sollen die Wanderschuhe auch gerechtfertigt sein.
Es geht wieder steil bergauf. Wir müssen Hände und vereinzelte Baumstämme zu Hilfe nehmen, um uns manch gewagte Kletterpassage hinaufzuquälen. Natürlich kommt uns prompt eine Familie mit Kind und Hund entgegen, die freundlich und keineswegs abgehechelt grüßt.
Der Weg bleibt atemberaubend. Denn immer wieder müssen wir stehen bleiben, um zu Luft zu kommen, teils auch, weil die Landschaft immer faszinierender wird, je höher wir steigen. Die Büsche aus knorrigen Krüppeleichen, Pinien und Kiefern und anderem niedrigen Gewächs, das sich im trockenen Boden halten kann, weist Dornen auf. Hin und wieder huscht was durchs Geäst und verschiedene Sträucher sind von einem weißen Gespinst überzogen, das wohl auch hier für Ärger sorgt. Es riecht überall nach trockenem Wald. Ein Geruch, den ich aus den Brandenburger Wäldern meiner Kindheit kenne und noch immer liebe, auch wenn er meist dem verstörenden Geruch von Waldbrand vorausgeht.
Vor knapp zwanzig Jahren ist dieser Teil der Calanques, der heute als Naturreservat ausgewiesen ist, komplett einem verheerenden Großfeuer zum Opfer gefallen. Ein Großteil der Küste brannte damals lichterloh. Mittlerweile hat sich die Natur wieder regeneriert. Gefährdet bleibt sie dennoch. Trotzdem lässt man hier gerade in der Sommerzeit unzählige Touristen durchmarschieren. Was mir während dieser Wanderung auffällt, ist wie wenig Müll am Wegesrand liegen bleibt. Genau genommen sehe ich an diesem Tag auf der gesamten Wanderung nicht ein bisschen weggeworfene Plastik in der Gegend liegen, obwohl an den schönsten Aussichten des Pfades immer wieder Familien rasten und ein Picknick veranstalten.
Der Weg führt noch eine ganze Weile oberhalb des Calanques entlang, in dem wir eigentlich baden wollten. Den Abstieg haben wir bisher nicht gefunden und angesichts der Höhe die wir mittlerweile erreicht haben, wird mir die Idee, den Badespaß zu verpassen langsam sympathisch. Wir befinden uns nun auf mehr als 100 Metern über dem Meer und blicken vom Gouffre de Cadeiron, einem weiteren spektakulären Aussichtspunkt, durch einen Einschnitt im Massiv hinüber auf eine Felsinsel, die vor Marseille liegt. Unter uns plätschert der gesuchte Calanques seine Badegäste durcheinander, etwas seitlich und abwärts orientiert klammern sich behelmte Felsenkletterer an den Stein und auf der anderen Seite der Bucht, auf halber Höhe, wo eigentlich kein Mensch vernünftig hinkommt, spazieren Wanderer auf einem schmalen, nicht mit einem Geländer versehenen Grad am Abgrund entlang, einem schmalen Durchlass durch das Gebirgsmassiv entgegen. Ich glaube nicht, dass solch eine spektakuläre Landschaft in Deutschland für jemand anderen zugelassen wäre, als für den Parkranger, vereinzelte Vereinskletterer und Naturforscher mit wissenschaftlicher Lizenz zur Wald- und Wildbeschau.
Wir suchen uns einen gemäßigten Weg durch den Wald, den mir mein Wandernavi ausweist. Ich vertrau dem diesmal vorsichtig, denn ich weiß, dass Cassis nicht weit weg ist.
Irgendwo findet sich eine Kreuzung mit Wanderschild. Es weist in eine Richtung zum Badestrand, dem gesuchten En Vau. Die andere Richtung schickt uns nach Cassis, das nur knappe 3,4 km entfernt sein soll. Irgendwo da muss es ein kaltes Bier geben. Die Richtung bekommt also Priorität.
Der Weg ist nicht gerade leer. Wieder sind junge und alte Wanderer, Badewillige und auch eine Gruppe Jungspunde unterwegs. Letzte haben sich als Getränk Weißwein und Bier mitgenommen. Ein junger Mann liegt mit einem blutenden Knie auf einer Felsplatte, umringt von johlenden jungen Menschen. Unsere Hilfe lehnt man ab. Es wäre alles ok, man ruhe sich nur aus, lallen die Leute in einem Sprachgemisch, aus Französisch und Italienisch. Es riecht nach Fusel und wir überlassen die Gruppe ihrem Schicksal. Ein japanisches Rentnerpaar überholt uns. Eine junge Dame in langem luftigen Kleid kommt uns entgegen. Ich rutsche auf dem kiesigen Schotterweg aus und sitze auf dem Hintern. Natürlich vor Publikum.
Schließlich erreichen wir auf diesem Weg den ersten Calanques, der nicht weniger Badelustige aufweist, wie vor drei Stunden. Nach kurzer Kraxelei hinauf, erreichen wir die Bucht mit den Segelschiffen. Am Wegesrand sucht ein junges Wildschwein nach Nahrhaften und lässt sich von den Wanderern und Touristen in allen möglichen Posen fotografieren.
Es steht am Eingang des Naturparks extra ein Schild, das ermahnt die Schweine nicht zu füttern. Fotografieren ist aber erlaubt.
Dann erreichen wir abgekämpft das Hotel und die davor befindliche kleine Bar, in der ein großes Bier leise vor mir verzischt.
Hotel Jardin d'Emile
Unser kleines, aber sehr stilvolles Hotel empfängt uns freundlich. Die Rezeptionistin, mit dem dunklen Bubikopf, die uns bereits am Vormittag mit allem Wissenswerten ausgestattet hat, begleitet uns über eine dunkle alte Holztreppe zu einem der fünf Zimmer, die das Hotel neben zwei Familiensuiten aufweist. Wir haben Zimmer Nummer Fünf. Es besitzt ein großes Bett, ein mit Terrakottafliesen gestaltetes Bad mit einer kleinen Badewanne und einem seitlich abgehenden Klo, in einer Nische von einer Größe, in der man nicht eingesperrt sein möchte. Ein rauschender Kühlschrank steht in einer Ecke und ist gut gefüllt mit preislich hoch angesiedeltem Wasser und Wein zu Restaurantpreisen.
Nach draußen führen zwei Stufen auf einen geräumigen Balkon, von dem wir über das Dach der kleinen Bar auf zwei riesige Pinien und das Meer blicken können, an dessen Rand sich der leuchtende Hügel auf der anderen Seite ins Bild schiebt. Hinter diesem Berg und seinen ebenfalls sehr schönen Calanques befindet sich der lebendige Fischerort La Ciotat, der auch immer wieder einen Besuch wert ist.
Man gibt sich ein bisschen intellektuell. Überall stehen oder liegen alte Bücher herum, von verwachsenen Glöcknern, Pariser Märkten oder Grafen, die auf erfundenen Inseln Schätze horten.
Die Farben im Hotel sind eher etwas zurückhaltend, teils weil das Licht hier nur zu einem bestimmten Zeitpunkt rund um den Mittag hineinprasselt, zum anderen, weil sich hier alles ein wenig an einer verträumten provencialische Romantik orientiert, in der sich die Maler vor Wonne einst reihenweise selbst die Ohren absäbelten.
Jedenfalls kann man es hier gut aushalten. Nur unsere Idee, hier einen Tisch für den Abend zu reservieren, müssen wir abwählen. Das Hotel besitzt kein eigenes Restaurant. Das ist schade, da wir genau hier vor fünf Jahren einen zauberhaften Abend im angeschlossenen Hotelrestaurant verbrachten. Die Rezeptionistin bedauert und erklärt, dass das Restaurant vor knapp drei Jahren geschlossen wurde. Wir müssen uns also für den Abend etwas anderes suchen. Doch der Hafen bietet dafür reichlich Möglichkeiten und auch die kleine Bar vor der Tür hat für den Abend ein brauchbares Speiseangebot.
Zunächst aber stolzieren wir noch etwas durch den Ort.
Himmelfahrt in Cassis
Der Himmelfahrtstag in Cassis ist natürlich nicht gerade ein Tag der Abgeschiedenheit. Ein Geschiebe und Gedrängel entlang des Hafens ist also nicht verwunderlich und wir entscheiden uns schnell in einer kleine Terrassenbar unterzuschlüpfen, die wir bereits zehn Jahr zuvor besuchten. Es ist die Bar der Boule- und Petanquespieler auf dem zentralen Bouleplatz in der Nähe des Hafens. Heute ist sie noch immer so eingerichtet, wie vor zehn Jahren. Ein paar Hollywoodstars hängen noch immer als Portrait an den Wänden und auf dem großen LED-Bildschirm im Laden läuft immer noch Pferdesport. Vielleicht sogar mit den selben Pferden.
Die Bedienung ist freundlich, aber angesichts der vielen schnell wechselnden Gäste etwas genervt.
In meiner Blickrichtung, direkt am Ausgang sitzen zwei junge Hühner. Eines davon muss sich permanent das Blondhaar aus dem Gesicht adrett nach hinten schieben oder kunstvoll darin herumzausen. Beide blicken unentwegt ins Smartphone und zeigen sich gegenseitig wichtige Instagrammeinträge. Die Sonnenbrille wird wahlweise auf den Kopf geschoben und dann wieder aufgesetzt. Manchmal auch mit dem Bügel versuchsweise intellektuell in eine Mundfalte geschoben, worauf hin jeweils das gegenüberliegende Huhn ein Photo macht. Irgendwann stehen die beiden auf und verschwinden in Richtung Strand.
Den Hafen von Cassis ziert ein kleiner Leuchtturm. Um ihn herum ist eine kleine Mauer errichtet, die gut als Sitzbank dient. Eine ganze Weile bleiben wir dort im Schatten des Turms und schauen stumm aufs Meer.
Am Ende landen wir wieder in der kleinen Bar direkt vor unserem Hotel. Der große freundliche Glatzkopf mit den vielen Tätowierungen hat seinen Laden im Griff und sein Kollege mit dem grünen Wischlappen in der Gesäßtasche springt von der Bar zum Pizzaofen in Lichtgeschwindigkeit. Die Pizza ist durchaus schmackhaft, wenn auch leicht angebrannt oder besser extrem knusprig. Von der Bar läuft in angenehmer Lautstärke nicht allzu nervige Musik. Leute kommen, Leute gehen. Ältere Menschen und junge quietschfiedele Russinnen wechseln die Plätze. Eine Gruppe von vier jungen Männer feiert Herrentag, in dem sie sich in kurzer Folge mehrere Pastis liefern lassen. Sie wirken fröhlich, ausgelassen, aber keineswegs wie eine alkoholisierte Männergruppe, wie ich sie in Berlin um diese Uhrzeit an diesem Tag mit schöner Regelmäßigkeit wahrnehme.
Die Musik der Bar und eine angenehme unaufdringlicher Fröhlichkeit können wir noch bis ca. 1:00 Uhr von unserem Balkon miterleben. Dann dreht die Bar etwas leiser und die Nacht in unserem Hotelzimmer wird eine erholsame.

Calanques En Vau
Den Calanques En Vau, eine der schönsten Badebuchten von Cassis erreicht man nur mit ein bisschen Mühe und Aufwand. Man muss schon entschlossen sein, dort auch ankommen zu wollen.
Der Weg führt erneut über die Höhe oberhalb der kleinen Segelhafenbucht, weiter hinauf auf das Felsmassiv und dann wieder hinunter zum Calanque Port Pin. Auch heute am Freitag nach Himmelfahrt sind die Kiesel gut mit Badefreudigen bedeckt.
Wir halten uns aber nicht weiter auf, folgen rechts dem ausgewiesenen Wanderpfad hinauf. Steinig und steil ist der Pfad unter den schattenspendenden Kiefern und Krüppeleichen. Einige Sträucher sind eingesponnen, weiter oben steht an einigen Stellen der Ginster in gelber Blüte. Nach knapp drei Kilometern erreichen wir den höchsten Punkt des Weges, an dem uns ein Wegweiser die Richtung des Calanques En Vau weist. Uns und noch etwa sechzig weiteren Wanderern und Badelustigen. Eigentlich zeigt der Pfeil geradeaus, doch richtig wäre es, wenn er direkt nach unten weisen würde. Ein Abstieg wie aus einem Kletterpark tut sich vor uns auf. Unter uns erscheinen immer wieder fröhliche Gesichter, die sich die steilen, zum Teil glatten Felsen hinauf hangeln, manchmal ein wenig zur Seite rücken, um herab kletternden Leuten Platz zu machen.

Die Felsabhänge sind stellenweise nur rutschend oder rückwärts herab hangelnd zu bewältigen, der Blick nach unten zeigt vor allem eins - Abgrund. Kein Halteseil, keine Hilfestellung hindert den Kletterer daran, bei einem Fehltritt in die Tiefe zu stürzen. Ein Zehnjähriger überholt mich flink auf dem Weg nach unten. Eine Frau mit einer verpackten Strandmuschel über der Schulter bittet sich vorbei. Ein Herr, der etwas älter ist, als ich ist, erklärt mir, dass der Abstieg nur noch knapp fünfzig Meter so steil ist und dann gemäßigt weiter hinab geht. Gemäßigt bedeutet, dann ein rutschiges Schotterbett herabzusteigen, das ebenfalls ein recht bemerkenswertes Gefälle aufweist. Festen Halt gibt es nicht und immer wieder hört man das Geräusch wegrutschender Schuhe. Aber niemand rutsch aus oder kommt ernsthaft zu Schaden. Die Leute wollen ja bloß baden gehen. Ich bin mir sicher, dass es diesen Weg zu einem Strand in Deutschland nicht gäbe.
Schließlich laufen wir noch einen knappen Kilometer unter Bäumen entlang, sehen erodierte Felsformationen, an denen Kletterer mit Seil und Helmen baumeln, denen der normale Zugang zu unspektakulär ist. Und dann erreichen wir den völlig überfüllten Badestrand - den Calanque En Vau, wunderschön anzusehen, wie das hellblaue klare Wasser zwischen den Felswänden schimmert, vereinzelt Ruderboote und Ausflugskähne eingangs der Bucht schaukeln und sich Leute allen Alters und aller Gewichtsklassen am und im Wasser erholen. Wie sind die vielen Menschen hierhergekommen? Die können doch unmöglich mit Kleinkindern, Hunden, Flip-Flops und Strandausrüstung vom Felsen gekraxelt sein. Auf meiner Karte finde ich einen weiteren Wanderweg eingezeichnet, der zu einem Parkplatz führt, allerdings auch etliche Kilometer entfernt ist. Wahrscheinlich etwas gemäßigter im Anstieg und näher an Marseille dran. Trotzdem ist der Aufwand hier her zum Baden zu gelangen wesentlich größer, als beispielsweise in Berlin zu versuchen, einen halbwegs attraktiven Badestrand zu finden.
Bevor ich auf die Idee komme auch Baden zu gehen, suche ich meine Powerbank, um das Wandernavi noch ein bisschen am Leben zu erhalten. Im Rucksack befindet sich nicht viel: Ein Erste-Hilfe-Set für Wanderer, ein Ladegerät, ein Handtuch und ein Tool, das mir meine Tochter geschenkt hat. Ein Art Taschenmesser, das außer den üblichen Dingen, wie Dosen- und Flaschenöffner und Messer, auch ein kleine, sehr scharfe Axt aufweist. Diese ist mit einem Gummiüberzug gesichert, damit man sich nicht schneidet. Jedenfalls ist sie normalerweise mit diesem Überzug gesichert. Der muss aber während der Wanderung abgerubbelt worden sein, denn als ich blind ins Rucksackfach greife, auf der Suche nach der Powerbank, fasse ich direkt in die Schneide der Axt und merke, dass diese wirklich scharf ist. Ich ziehe meinen Daumen wieder aus dem Rucksack heraus und sehe, wie er mit ordentlichem Druck blutet. Die Vorstellung, hier am letzten Zipfel der Grand Nation, wo es kaum Hilfe auf Rettung gibt, still und einsam zu verbluten, behagt mir gar nicht.

Bis auf dreihundert Badegäste gibt es hier nichts. Diese beinahe ausweglose Situation ermöglicht mir zum ersten Mal, auf mein frisches Wanderer-Erstehilfe-Set zurückzugreifen. Und da ist mehr drin als nur Blasenpflaster. Der Schnitt im Daumen ist einigermaßen tief und erfreulich glatt. Mit etwas Druck verbindet mir meine Herzdame die Wunde und meine Idee, im kalten Wasser der Bucht baden zu gehen, schwindet aus gesundheitlichen Gründen. Ein Hund wuselt um uns herum, wahrscheinlich ein Bluthund, der irgendwas gewittert hat, dass er jetzt reißen muss.
Später stehe ich trotzdem bis zu den Knien im eiskalten Wasser, während meine Herzdame und ein paar andere Pinguine munter zwischen den treibenden Eisbergen herumtollen. Ich stecke den langsam durchsuppenden Daumenverband ins kalte Wasser, bis die Wunde zu puckern beginnt. Dann verlasse ich das Wasser. Haie sollen ja Blut noch bis in einhundert Kilometern Entfernung riechen.
Es bleibt trotz allem Ungemach einer der herrlichsten Plätze an der südfranzösichen Küste, trotz der Kälte des Wassers, der Unmengen an Badegästen, dem unkomfortablen Anreiseweg und meiner verstümmelten Hand.
Auch hier sieht man niemanden seinen Müll herumliegen lassen. Was ausgepackt wird, wird auch wieder eingepackt. Ein ausgangs der Bucht am Fels angenageltes Schild weist auf die Mühen hin, die es macht, diese schlecht erreichbaren Calanques von Müll zu befreien.
Ein etwa zehnjähriger Junge huscht an mir vorbei. Er trägt Kletterhelm, festes Schuhwerk und allerhand Seil und professionell aussehende Karabinerhaken am Körper. Geschwind ist er mit einer Gruppe Gleichgesinnter eine kleine Felsnase hoch. Unten steht ein Kletterexperte mit einem Zettel, auf dem ein Felsen abgebildet ist, auf dem einige Zickzacklinien in verschiedenen Farben gemalt sind. Alles mögliche Wege, die steilen Wände hinaufzukommen.
Für uns gilt es nur, den ganzen Weg wieder hinauf zu kraxeln, den wir gekommen sind. Kurzzeitig überlege ich, die Strecke über den ausgewiesen Pfad zum Parkplatz zu nehmen, der mir flacher vorkommt, da auf diesem auch wesentlich mehr Flip-Flop-Wanderer unterwegs sind. Bei dem Weg wissen wir aber nicht, ob es dann auch einen attraktiven Weg nach Cassis gibt. Der Weg über die Felswand erscheint da fast sicherer, obwohl ich nicht weiß, ob ich - schwer verletzt, wie ich bin, die Kletterwand einhändig hinaufkomme und wie lange das dauert. Es geht überraschend schnell, bis wir oben sind. Es ist zwar etwas mühselig, aber kaum fünfzehn Minuten nach dem wir den Rückweg angetreten haben, schauen wir verschwitzt von der Höhe des Felsmassivs hinab in den Abgrund, in dem irgendwo der Calanque En Vau und seine Badefreuden locken.
Etliche Menschen warten bereits an der Wegeskreuzung darauf, sich in die Reihe der Absteigenden einzureihen.
Wir nehmen den Rest des Weges nun locker in Angriff.
Damit hätten wir es geschafft, den Calanque auf alle möglichen Arten zu besuchen. Mit Schiffchen, Paddelboot, zu Fuß. Sicher kann man auch mit professioneller Kletterausrüstung vom nächsten Aussichtspunkt dorthin gelangen oder man lässt sich von der französischen Luftwaffe, die gern mal durch enge Schluchten düst, einfach abwerfen. Aber uns genügen die drei gemäßigten Varianten vollkommen.
Abendessen im Hafen von Cassis
Da Cassis ein altes Fischerdorf ist, bietet es sich an, in einem der zahllosen Hafenrestaurants zu Abend zu essen. Das hat nicht nur den Vorteil, relativ frische Fische und Meeresfrüchte zu sich zu nehmen, sondern dient auch der allgemeinen Erheiterung, denn nichts ist so unterhaltsam, wie dem Flanieren der Eitelkeiten zu zu schauen, das an solch einem Küstenort unweigerlich zur Abendgestaltung gehört.
Wir platzieren uns Nahe des kleinen Segelhafens dicht an der Straße in ein sich zügig füllendes Restaurant. Schnell haben wir eine Speisekarte vor der Nase. Effizienz scheint hier alles zu sein. Wer schnell bestellt und zügig isst, macht bald Platz für den nächsten zahlenden Gast.
Während wir auf Wein und Dorade und eine Portion Muscheln warten, betrachten wir das Schaulaufen.
Da ist diese kleine verbrannte Dame, mit dem kleinen Handtaschenköter. Die Lippen stechen rot aus dem Gesicht hervor. Ihr Parfüm trödelt noch eine Weile später hinter ihr her. Mädchen, mit kurzen Jeans, von denen eigentlich nicht wirklich viel vorhanden sind, laufen vorbei. Die Backen ihrer Hinterteile liegen fast komplett frei. Trotzdem haben es die Trägerinnen geschafft, in den kaum vorhandenen Jeansstoff kunstvoll Risse einzufügen.
Ein junger Mann trägt ein ganz frisches Baby vor dem Bauch. Die Geburtszeit muss bereits über einen halben Tag her sein.
Tätowierte, Shoppingsüchtige, Flanierer aller Art, ältere Herren, mit weit offenen Hemden und dem auffordernden Blick, der jungen Mädchen gilt. Touristen, die sich treiben lassen, Kinder, die einfach nur herumtollen und ihre Eltern, die sie davor warnen, zu dicht an die Kaimauer zu treten. Es ist ein buntes Treiben und ein Schnattern in allen Sprachen, die man sich denken kann. Tatsächlich herrscht der französische Laut jedoch vor. Englisch ist auch zu hören und Japanisch, etwas Deutsch natürlich und gelegentlich Portugiesisch.
Mittlerweile ist unser Essen gekommen. Meine Dorade fordert mir etwas Konzentration ab, da sich das Fleisch schlecht von den Gräten lösen lässt. Hier wäre eine etwas längere Garzeit angeraten gewesen. Meine Herzdame wühlt sich durch einen großen Topf mit Muschelschalen, deren Inhalt vermutlich vom Besitzer einer Losbude zusammengestellt wurde. Jede zweite Muschel ist eine Niete. Hier wird Nachhaltigkeit demonstriert und die Verpackung wiederverwendet. Es finden sich einige Muscheln in der Soße wieder. Satt wird sie, in dem sie die Pommes in die Soße tut und so prima Kartoffeln mit Muschelsoße genießen kann. Der ganze Spaß ist inklusive Wein zwar nicht übertrieben köstlich, dafür aber wenigstens nicht ganz billig. Neben unserem Tisch scharwenzelt ein älteres britisches Touristenpärchen herum, dass sich offensichtlich fragt, ob wir bald fertig sind. Ich tue ihnen den Gefallen und bestätige ihren Verdacht.
Diese Nacht feiert man in der kleinen Bar unter unserem Balkon etwas ausgelassener und ausdauernder. Erst gegen drei wird es leiser.
Nach einem ruhigen, müden Frühstück im Wintergarten des Hotels Jardin d’Emile, das insgesamt sehr freundlich und stilvoll erschien, sitzen wir in unserem alten Auto und tuckern unserem nächsten Ziel entgegen, dem Ferienhaus in St.Martin auf einem Hügel gegenüber des Grand Luberon.
Doch das ist ein vollkommen andere Geschichte, die vielleicht später einmal erzählt wird.