Altweibersommer in Bad Neuenahr
In den Kurorten des Landes herrscht ein mildes Klima. Die Luft ist reicher an Sauerstoff, als anderswo, das Wasser reicher an Mineralien und die Kurgäste sind im allgemeinen auch nicht sonderlich arm. Parkanlagen werden gemessenen Schrittes durchquert von Menschen im fortgeschrittenen Alter. Gesättigt von heilenden Kräutersalaten, nährstoffreichen Diätspeisen und gesundheitsfördernden Tees, zieht es sie auf die sonnenbeschienen Stühle vor den Konditoreien.
Auch sportliche Aktivitäten treiben den Kurenden durch den Ort, durch die Saunen und Schwimmhallen, über die Radwege. Rastlos strampelt er auf dem Citybike und klingelt mit schwungvollen 12 km/h den Fußgänger vom Bürgersteig. Die ältere Dame mit den Krücken, die mich zügig überholt, entpuppt sich auch als Nordic Walker.
Im Park steht Kunst, die keiner versteht. Doch die Sonne glitzert so schön in den glatt polierten Eisenkringeln.
Vor dem Spielkasino spielt das Kurtanztee-Ensemble „Santa Maria“. Ein Plakat vor dem Kurtheater wirbt für „Tosca“ passend zum Geruch. Der fröhlich grinsende Mitfünfziger mit der Nelke im Knopfloch setzt sich an den Rand des Tanzplatzes und massiert die Druckstellen seines Eheringes breit. Er tastet seine Brusttasche ab. Das Portemonnaie sitzt, der nächste Geldautomat befindet sich im Spielkasino.
Zum Tanztee schwenken die Damen das Tanzbein und Herren, die im Ort wegen ihres Rückenleidens behandelt werden, wirbeln die Damen mutig herum, bis alle vor Schmerzen lachen. Es ist Altweibersommer in Bad Neuenahr.
Von der Autobahnbrücke, die in gut sechzig Meter Höhe das Tal überspannt, rauscht der Verkehr, wie ein ferner Wasserfalls. Der kleine Fluss, der der ganzen Gegend den Namen gibt, die Ahr, kann aber nur mit kleinen holprigen Stromschnellen aufwarten. Wer am Flüsschen entlang wandert, tut dies, laut Auskunft eines kleinen Schildes in Wassernähe, auf dem Ahruferweg. Das ließt sich putzig und ich verhalte mich entsprechend, in dem ich genau das tue, was auf dem Schild vorgeschlagen wird. Laut rufe ich „Ah“, überlege, ob es auch einen Iehruferweg gibt oder einen Auruferweg. Ein Jogger schüttelt den Kopf, als er mich Ah rufen hört. Ich beende meine Performance, bevor noch jemand die Brigade mit den „Hab-dich-lieb-Jacken“ alarmiert.
Im flach dahinplätschernden Flüsschen quaken Enten. Die ersten Möwen sind von der See herangeflogen und jagen lachend den Brotkrümeln nach, die liebevoll zerpflückt für die Enten ins Wasser gekippt werden. Zwei Reiher warten auf den unvorsichtigen Fisch. Die treibenden Brotkrumen ignorieren sie. Nur ein paar Kilometer weiter, dann spült sie das saubere Wasser der Ahr in den Rhein.
Den Flusslauf hinauf, die Pflegeheime und Kurhäuser und den Park mit seinen Aktivisten im Rücken lassend, verändert sich die Bäderarchitektur. Anstelle von Neoklassizismus, mutwilligem Barockfrevel und den Schandtaten der Architekten in den siebziger Jahren, tritt das mittelalterliche Ambiente des kleinen Ortes Ahrweiler in die langen Schatten der Weinberge. Fast vollständig umkränzt die alte Wehrmauer den historischen Stadtkern. Vier Tore bieten ungehindert Zutritt. In den Fachwerkhäusern verbergen sich Apotheken, Bäcker, Elektronikfachmärkte und ein Laden, der mir dringend den passenden Stein zum passenden Sternbild verhökern will. Lückenbauten sehen auch hier modern aus, wirken neben den schiefen Fachwerkhäusern arrogant und eitel und sind doch in der Hauptsache nur hässlich.
Den Marktplatz dominiert die große gelbgetünchte Kirche. Turmfalken kreischen um den Kirchturm herum. Dem Marktbrunnen ist seine Funktion, eiskaltes Wasser zu spenden nicht genug. In einem Betonfließ plätschert das Wasser am Fuß der Kirche entlang, bis es einige Meter weiter strudelnd im Erdinnern vergluckert. Spielende Kinder machen sich hier die Füße nass – mit Absicht.
Der Marktplatz ist weitläufig, an den Rändern garniert, mit Straßencafés, Pizzastuben und Banken. In den abzweigenden Gassen hängen die Innungsschildchen auf Kopfschmerzhöhe. Werbetafeln der Reisebüros, die den Einwohner weit weg wünschen, stehen im Weg. In den Schaufenstern wirbt die Region für sich und mit ihrem bekanntesten Artikel: dem Rotwein. Das Ahrgebiet ist das größte zusammenhängende Rotweinanbaugebiet Deutschlands. Sonne ist hier keine Mangelerscheinung, die Reben reifen jedes Jahr üppig und der Rotwein, der hier hergestellt wird ist einer der besten aus Deutschland, von hoher Qualität und in jedem Fall süffig.
Viele der Türen der Innenstadt führen ins Innere von Restaurants, Schankstuben, Gastwirtschaften und leider auch üblen Spelunken. Die meisten Gaststätten wirken etwas altbacken und spießig. Aber die Gastfreundschaft und die gute Küche lassen das schnell als unwesentlich dastehen. Der ewig hungrige Kurgast und Wanderer lässt sich gern nieder unter Hirschgeweihen, um einen erfrischenden Jägermeister zu inhalieren. Eines der angenehmsten Restaurants ist die Adenbachburg. Rustikale Küche in einem auf Mittelalter gestylten Ambiente. Ritterrüstung am Eingang, rostig angemalte Kleiderhaken, schwarzgetränkte Holztische und Kerkerklo. Auch andere Gaststätten wetteifern mit Wildgerichten und heimischen Rotweinen um die Gunst der Ermatteten, also auch meine.
Rustikal ist mir zu Mute und so gerate ich an bayrische Farben. Hinter einem kleinen Karren öffnet sich ein Biergarten. Zippeliges Weinlaub baumelt vom Himmel. Frische Luft hatte ich heute schon genug, so gehe ich ins Innere dieser Gastronomität mit dem Namen „Apbells“. Ich setze mich weit hinten in eine Ecke, in der man durch die Milchglasscheiben die Mülltonnen im Hof erahnen kann. Etwas erhöht sitze ich, weitab vom Duft der Toiletten, fern vom Trubel der Eingangstür, durch die immer wieder jemand hereinlinst, um sich dann doch für einen anderen Laden zu entscheiden. Am Tresen stehen fünf Angestellte. Zwei putzen Gläser, drei reden. Ich sitze und schau geduldig hinunter, in der Hoffnung, das irgendwas passiert. Tut es aber nicht. Irgendwann scheint ihr Gesprächsstoff erschöpft. Sie lungern noch eine Weile wortlos herum, denn entscheidet sich eine der Kellnerinnen dafür, dass es Zeit sei, mal zu fragen, was ich hier eigentlich will. Ein trauriges, stockbeiniges Wesen, freudlos und unappetitlich steuert mich an. Wortlos teilt sie mir eine Speisekarte zu und guckt.
Da ich nicht reagiere, muss sie auch noch was sagen.
„Und“ fragt sie.
„Bier“ antworte ich.
„Kölsch und Becks sind die einheimischen. Dann gibt’s da auch noch Köstritzer.“
Ich entscheide mich für das Bier aus dem Osten, was sie nur noch weiter deprimiert.
Mich deprimiert derweil die Speisekarte. Unter rustikal verstehe ich ein gewisses Vorhandensein von Wild. Das einzige nennenswerte Wild, das sich auf der Karte findet, heißt Hirsch und existiert in Ragoutform, was mich zu der Vermutung gelangen lässt, dass man hier jemanden billig zum Dosenöffnen angestellt hat.
Auch nach mehrfachem hin und her blättern, ändert sich nicht die Ödnis des Angebots. Ich entscheide mich für Spanferkel mit Krautsalat und Klößen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit ausgerechnet das Gericht gewählt habe, das der Koch nicht kann oder ob mir jedwedes andere Gericht ebenso die Laune verdorben hätte. Doch dieses Gericht ist das definitiv schlechteste Essen, seit jenem verhängnisvollen Lungenhaschée in der Schulküche vor knapp 30 Jahren und dem verdorbenen Fisch in der von der Catering-Firma TST heimgesuchten Betriebskantine des Friedrichstadtpalastes.
Klöße sind mir bekannt als leckere, leicht zerteilbare Kugeln. Die beiden traurigen, blassen Klebekleckse haben damit nichts zu tun. Eine schnell aufgewärmte chemische Kloßmasse, die sich erst gegen die Gabel sträubt, um sich dann nicht vom Teller zu lösen. Selbst im Mund klammert sich die Masse an das bisschen eingebildete Leben. Der Krautsalat ist so unverdorben, wie er aus der Büchse kommt und das Spanferkel – ach, das Spanferkel. Ein sinnlos gemeucheltes Leben. Geschmacklos angerichtet, ein klebriges Gummiband, das vermutlich die Kruste darstellen soll, umspannt eine fettwabernde Masse. Kein Ferkel sollte zu Lebzeiten so fett geworden sein, auch wenn man aus der Realität weiß, dass heute sogar Vorschulkinder so fett sind, dass sie nicht selbstständig laufen können. Doch bei diesem angeblichen Jungschwein geht das eindeutig zu weit. Dieses Fleisch ist mit Sicherheit nicht von einem knusprigen Ferkel, sondern von einer alten, an Fettleibigkeit eingegangenen Sau. Es ist vollkommen ungenießbar. Ich muss mir ein zweites Bier erbetteln, dass ich mir von der Tresenkraft heranwinke, den meine Tischkellnerin steht seit dem sie mir das Essen serviert hat, mit dem Rücken zu mir und raucht. Ich kaue mutlos auf dem Fett herum, trinke eilig das Bier hinterher und gebe resigniert auf.
„War’s gut“, fragt die Kellnerin überflüssigerweise, als sie abräumen kommen muss.
Diplomatisch lenke ich ein: „Sie haben sehr dekorative Aschenbecher.“
Mein Ablenkungsmanöver als solches erkennend, stellt sie fest: „Ist wohl nicht ganz ihr Geschmack, die hiesige Küche?“
„Schwerlich“ bekenne ich.
Bezahlen lässt sich in der Spelunke nur in bar. Kartenzahlung wird nicht akzeptiert, wohl aus der berechtigten Angst, der Gast könne, kurz nachdem er sich übergeben hat, zur nächsten Bank eilen, um die Lastschrift rückgängig zu machen.
Dem Anlass entsprechend, fällt das Trinkgeld aus.
Noch lange stoße ich auf und gedenke dem sinnlos gemeuchelten Schwein.
Eine weitere Wanderung tut not, bis sich mein Magen und mein Gemüt beruhigt hat. Der Rotweinwanderweg führt mich an einer höher gelegenen Gaststätte vorbei. „Hohenzollern“ heißt das hohe Haus. Es scheint gehobene Küche für gehobene Gäste anzubieten. Sämtliche Autos vor dem Haus sind schwarz und alle haben einen Stern am Bug. Von den Höhen habe ich eine gute Sicht auf das Tal, herunter auf die Calvarienburg, über die gesamte Stadt Ahrweiler mit ihren Türmen auf der Stadtmauer, weiter zu den hässlichen Zweckbauten der Kurkliniken, zur Autobahnbrücke und ganz am Ende des Blickes auf einen Einschnitt, in dem sich die Ahr mit dem Rhein verbindet. Das Weinlaub an den Hängen beginnt sich zu färben, die Bäume sind bereits bunt. Unten schlängelt sich eine Bahn durch das Tal. Herbst. Das bedeutet Abschied nehmen, vom triebhaften Sommertun. Aber auch von der Gegend und den meist freundlichen Menschen, die sich gern zu einem Gläschen Wein niederlassen und die auf schwatzhafte Weise angenehm sind. Man muss sich diesen Menschen ja nicht in der Karnevalszeit nähern, da lässt man das Völkchen lieber unter sich. Und auch das Gaststättenversehen „Apbells“ muss man kein zweites, eigentlich auch kein erstes Mal besuchen, wenn man es vermeiden kann. Doch sonst ist Bad Neuenahr-Ahrweiler durchaus einen Besuch wert.