Reise durch das Reich der Mitte
Das widersprüchlichste Kulturvolk der Erde mag das chinesische sein. Glanzvolle Entwicklungen und Erfindungen verdankt die Menschheit den Tüftlern aus dem Reich der Mitte. Porzellan, Lack, Seide, Papier wurde zu allererst in China erfunden. Der Buchdruck war schon bekannt und Reisende brachten Einzelheiten nach Europa, die ein gewisser Gutenberg nutzte, um eine der bahnbrechenden Erfindungen der Menschheit für die christliche Welt in Anspruch zu nehmen. Tausende Jahre hindurch verfeinerten die Chinesen Philosophie, Dichtung und Weisheit, entwickelten die Baukunst auf ästhetische und funktionelle Weise, lernten den menschlichen Körper verstehen und schonend zu heilen. China, das war einmal der harmonische Einklang des Menschen mit der Natur.
Es bedurfte kaum eines ganzen Jahrhunderts, in dem dieses bevölkerungsreichste Land der Erde den größten Teil der eigenen Kultur verleugnete und sich kontinuierlich in den Abgrund rangierte. Was mit dem größten Opiumkonsum der Welt begann, sollte sich über orientierungslose Revolutionen, wirtschaftlichen Raubbau bis zur unerträglichen Kulturrevolution steigern. Die Widersprüche sind in kaum einem Land so groß. Zum Teil bewirtschaften die Bauern ihre Felder mit den selben Methoden, wie vor tausend Jahren. Andererseits hat China den führenden Computermarkt aufgemischt, als es IBM kaufte. Von Lehnswirtschaft, über Kollektivismus bis hin zur freien Marktwirtschaft, findet sich in China jede denkbare Wirtschaftsform. Das Land ist so unverständlich, dass man den Geschichten lauschen sollte, die aufmerksame Reisende von dort mitbringen, damit man ein wenig vom Wesen der Menschen in China versteht.
Der Reiseautor Paul Theroux gehört zu den Menschen, die sich Dank ihrer eigenen wirtschaftlichen Unabhängigkeit genug Zeit lassen können, wenn sie ein Land bereisen. Für ein Land wie China ist es unbedingt ratsam, sich Zeit zu lassen. Da er einen guten Grundschatz an chinesischen Redewendungen besitzt und bereits mehrfach durch China reiste, konnte er sich auf Details konzentrieren, als er 1986 erneut in dieses riesige Land aufbrach, um einer seiner Leidenschaften zu folgen: mit Zügen zu fahren und halt zu machen, wo er es für ratsam hält.
1986 befand sich China im Umbruch. Die Viererbande, die nach Maos Tod das Kollektivdenken fortführte und zur Verelendung der Massen führte, war beseitigt. Die Kommunistische Führung jedoch noch immer regressiv. Ansätze von Verwestlichungen wurden nur dort akzeptiert, wo der Staat wirtschaftliche Vergünstigungen sah. Frohlockend sah man bereits nach Hongkong, das wenige Jahre später seinen Kolonialcharakter und seinen Abhängigkeitsstatus änderte.
Theroux versucht aus den Menschen, denen er begegnet Informationen herauszukitzeln, wie sich China veränderte und was genau während der Kulturrevolution vorgefallen ist. Während sie bereitwillig über den Einzug westlicher Wirtschaftsmethoden und vor allem westlicher Konsumgüter reden, schweigen sie bedrückt beim Thema Kulturrevolution. Mao war ein großer Mann, sagen sie, aber er hat Fehler gemacht. „Was haben Sie gemacht, während dieser Zeit“ fragt Theroux. Viele schweigen, andere verraten, dass sie jung waren und es nicht besser wussten. Sie denunzierten Lehrer an den Schulen, denn Bildung war verpönt. Viele Intellektuelle wurden auf Dörfer verbannt, die Moscheen und Klöster zu Schweineställen umfunktioniert, Buddhistische Mönche in Metallbetriebe gesteckt. Vieles davon steckt noch in den Köpfen. Überwachung gehört dazu. Theroux versucht allein zu reisen, bekommt aber einen Funktionär zu Seite gestellt. Lange benötigt er, um ihn abzuschütteln.
China ist riesig. Das Reich der Mitte heißt so, weil es an den Grenzen nur mit unbewohnbaren Gegenden umsäumt ist. Hohe Gebirge, öde Wüsten und dem Meer. In der Mitte die Zivilisation und das fruchtbare Land. Theroux macht sich auf, alles zu erkunden. Er fährt in die chinesische Kältekammer, die Mandschurai. Dort wandert er durch tiefen Schnee und durch die einzige Gegend Chinas, in der es heute noch Wälder gibt. Im Norden besucht er die Ödnis der Wüste Gobi. Auch hierher wurden Menschen verbannt und Rotgardisten entsandt, um China unter Maos Fahne zu einen.
In anderen Regionen, in denen sich Schluchten und Gipfel wie Amplituden abwechseln, trifft er auf Höhlenmenschen. Mehrere Millionen Menschen gelten in China heute als Höhlenbewohner. In einigen Gebieten, verbietet sich der Wohnungsbau aus geologischen Gründen, weil einfach kein Platz an den Felsen ist. Dort wurden geräumige, zum Teil beheizbare Wohnhöhlen eingerichtet. Ein sinnvoller Umgang mit den Ressourcen. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. In den meisten Fällen leben die Menschen in Höhlen, weil sie das bereits seit Jahrtausenden tun.
Shanghai scheint Theroux weltoffen, aber überspannt. In Peking ist er erschrocken von der Größe des Tianmen-Platzes, auf den es häufig zu Studentenunruhen kam. Der eigentliche Schrecken würde den Platz des Himmlischen Friedens aber erst reichlich drei Jahre später erreichen. In den Pekinger Filmstudios dreht Bernardo Bertolucci gerade einen Film über den letzten Kaiser.
Die spannendste Zeit verbringt Theroux beim Versuch Tibet zu durchqueren. Züge fahren nicht bis nach Lhasa und er fährt in einem Auto, dessen Fahrer keine Ahnung vom Autofahren hat. Bei Eis und Schnee auf holprigen schmalen Strassen, auf denen sonst nur Laster verkehren, muss das unweigerlich zu einem Unfall führen, der auch tatsächlich passiert. Trotzdem schafft Theroux es nach Lhasa, auf das Dach der Welt, auf dem Pilger von überall her nach Erleuchtung suchen. Die Kulturrevolution hat zwar auch nach Tibet gefunden, Klöster gesprengt und Mönche vertrieben, doch der Geldbringende Westtourist will nun mal Klöster sehen, also wurden etliche der geschleiften Bauwerke neu errichtet.
Theroux weiß von allem viel zu berichten. Er ist ein aufmerksamer Zuhörer und verteilt seine Sympathien und Antipathien wie sie kommen. Er bemängelt die Unaufmerksamkeit der Chinesen gegen über jeder Form von Ordentlichkeit, während sie andererseits staatlicher Ordnung gebückt folgen. Ihre Aufmüpfigkeit gegenüber kollektiven Zwängen äußert sich in der individuellen Freiheit, ihren Müll an all den Stellen fallen zu lassen, an denen sie stehen und gehen. Ein kaum zu begreifendes Volk mit spitzen Ellenbogen, einer neu entwickelten Form von Egoismus und dem Hang, die eigenen Geschichte zu verleugnen.
Paul Theroux nähert sich den Menschen behutsam und überfordert sie nicht, durch seine Fremdartigkeit oder durch kulturbedingte Arroganz. Er lernt von dem, was er sieht und wie ein guter Lehrer, teilt er sein Wissen und seine Erfahrungen mit dem Leser. Er bleibt auch nach diesem Buch für mich der glaubwürdigste Reiseautor, den ich je das Vergnügen hatte zu lesen.